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Autor der Website:
Friedrich Forssman
Schloßteichstraße 3
34131 Kassel
mail@kassel-mulang.de

Paul Heidelbach: Die Geschichte der Wilhelmshöhe

Dieses Werk ist auch weit über 100 Jahre nach seinem Erscheinen eine vielzitierte Quelle – und eine höchst vergnügliche Lektüre, auch wegen Heidelbachs durchaus originellem Stil. Eine digitale Version habe ich bei meinen Wilhelmshöhe-Recherchen öfters vermißt, und so habe ich das Buch endich einmal digitalisiert. Hier und da habe ich an den Rand eigene Anmerkungen und Links gestellt sowie im Text Links innerhalb der Wilhelmshöhe-Website gesetzt.

  • Textteile, die im Vorlagendruck gesperrt oder in Antiqua gesetzt sind, werden kursiv wiedergegeben – außer einzelnen Akzentbuchstaben (»Jérôme Napoléon«) sowie dem Kürzel Dr.
  • Die Fußnoten (mit Sternchen) und die Endnoten (mit Nummern) habe ich in die seitliche Spalte gestellt.
  • Da Absätze manchmal viele Seiten lang sind und da Abbildungen in den laufenden Text eingebaut wurden, habe ich die Seiten-Aufteilung des Druckes beibehalten. Gelegentlich habe ich zwei oder mehr Seiten zusammengefaßt, wenn nämlich die Größe von Abbildungen oder die Länge von Fuß- oder Endnoten ein solches Vorgehen hat sinnvoll erscheinen ließen (so etwa bei den Seiten 1–2). – Welche Abbildungen ich selbst hinzugefügt habe, sind die Bildunterschriften in doppelte {{Schweifklammern}} gesetzt.
  • Wo ein Seitenende mit einem Absatzende zusammenfällt, habe ich am Ende des Absatzes ein \-Zeichen eingefügt.
  • Um eine Seite direkt anzusteuern oder zu verlinke: in der Adresse www.kassel-wilhelmshöhe.de/Heidelbach.html#Heidelbach-000 die »ooo« durch II bis XI (Titelei) bzw. 001 bis 403 (Text) ersetzen.
  • Die sehr wenigen offensichtlichen Setzfehler, die ich gefunden habe, habe ich stillschweigend korrigiert – gewiß hier und da neue hinzufügend, über deren Mitteilung ich mich freue. (In den alten Dokumenten finden sich freilich sehr sonderbare Schreibweisen).
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»Die Geschichte der Wilhelmshöhe«, Einbandvorderseite
Innentitel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Textbeginn
Nachruf auf Paul Heidelbach in der HNA, 1954


[Einbandvorderseite:]

Die Wilhelmshöhe
von Paul Heidelbach

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[I: unbedruckt]


[III]

 


[II: Das Oktogon, das Schloß und die Endhaltestelle der Linie 1.]

* * *

[III] Die Geschichte der Wilhelmshöhe
von
Paul Heidelbach

Mit Titelbild, 92 Abbildungen
und einem Situationsplan

Leipzig 1909
Verlag von Klinkhardt & Biermann

* * *

[IV] Alle Rechte vom Verleger vorbehalten.
Den Druck dieses Werkes besorgte die Offizin von Julius Klinckhardt in Leipzig

* * *

[V] Meiner lieben Mutter

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[VII  Vorwort] (Nach unten zum Inhaltsverzeichnis)

[VI: unbedruckt]


[VII]

Vorwort.

Wenn ich heute eine fünfjährige Arbeit abschließe, bin ich mir wohl bewußt, die Geschichte der Wilhelmshöhe keineswegs abschließend behandelt zu haben. Immerhin darf ich, nachdem hier zum erstenmal eine zusammenfassende Darstellung auf archivalischer Grundlage versucht wurde, die Hoffnung hegen, manchem, der an dieser von Natur und Kunst so verschwenderisch bedachten Stätte den Spuren des Werdens und Geschehens nachgeht, hier und da einen willkommenen Wegweiser gesetzt zu haben.

Die Gliederung des Stoffes ergab sich durch die nahen Beziehungen der Wilhelmshöhe zur Residenz und dadurch, daß sie ihr Entstehen durchaus den hessischen Fürsten verdankt, von selbst. Innerhalb der einzelnen Abschnitte erwies sich die rein chronologische Darstellung als die zweckdienlichste. Die aktenmäßige Grundlage beginnt mit der Zeit des Landgrafen Moritz (1592–1627); die Mitteilungen über Kloster Weißenstein, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist, beschränken sich darauf, im wesentlichen den Inhalt der von Ledderhose in Justis »Hessischen Denkwürdigkeiten IV. 1805« mitgeteilten 21 Urkunden und der hierher gehörigen Lehen- und Leihebriefe aus Lenneps »Codex Probationum 1768« zusammenzustellen; neben Kopp und Haas wurden dabei namentlich noch Schminckes Kollektaneen auf der Kasseler Landesbibliothek benutzt.

Dem Kgl. Staatsarchiv zu Marburg, dem Archiv der Stadt Kassel (Herrn Oberbibliothekar Dr. Brunner), der Murhardschen und der Landesbibliothek zu Kassel, der Kgl. Bibliothek zu Berlin, den Universitätsbibliotheken zu Göttingen und Halle, ferner dem Kgl. Preußischen Historischen Institut in Rom und dem dortigen Archivio di Stato, dem Kgl. Museum (Herrn Museumsdirektor

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[VIII  Vorwort] (Nach unten zum Inhaltsverzeichnis)

 

Dr. Boehlau) und dem Kgl. Naturalienmuseum (Herrn Professor Schreiber) in Kassel, der Kgl. Hofbauverwaltung (Herrn Hofbaurat Oertel) zu Wilhelmshöhe und dem Stadtbauamt der Residenzstadt Kassel hat meine Arbeit eine freundliche Unterstützung zu danken. Herr Polizeidirektor Senator Dr. Gerland in Hildesheim stellte mir den reichen Schatz der Du Ryschen Familienpapiere, Herr Rentier Herzog in Kassel die Aufzeichnungen seines Schwiegervaters, des Hofgartendirektors Vetter, zur Verfügung, während Herr Obergärtner Michel in Wilhelmshöhe mir Einsicht in die zahlreichen Risse und Skizzen aus dem Regenbogenschen Nachlaß gewährte. Manchen fördernden Hinweis verdanke ich Herrn Schloßpolier Wicke sowie Herrn Aufseher Bätzing in Wilhelmshöhe, der seit einem Menschenalter am Fuße des ehernen Alkiden Wind und Wettern trotzend seines Amtes waltet. Die Herren Bankier Blumenthal und Fiorino haben mir durch ihre freundliche Beihilfe die Benutzung der italienischen Urkunden vermittelt. Weiter ist es mir eine angenehme Pflicht, noch den Herren Hofkupferschmiedemeister Basse, Bibliotheksassistent Gläßner, Ingenieur Happel, Direktor Henkel-Wilhelmshöhe, Rentier Meyer, Rechtsanwalt Wenning, Regierungsrat Winkel und Rechnungsdirektor Woninger, dem Vorstand des Fremdenverkehrvereins in Kassel sowie Herrn Dr. Friedrich Noack in Rom für ihr hilfbereites Entgegenkommen verbindlichen Dank auszusprechen. Zu besonderem Dank bin ich noch Herrn Archivar Dr. Knetsch-Marburg verpflichtet, der meine Arbeit in außerordentlich hilfreicher und tatkräftiger Weise unterstützt hat.

Aufrichtigen Dank sage ich zum Schluß auch den Herren Verlegern, die dem Werk, trotzdem dessen Umfang sich unter der Hand verdoppelte, eine so glänzende Ausstattung zuteil werden ließen.

Kassel, Anfang November 1908.   Der Verfasser.

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[IX–XI  Inhalt]


[IX]

Inhalt.

[Einband]   [Innentitel]  [Vorwort]

Kloster Weißenstein. 1143–1526  Seite 1–11
Gründung des Klosters. – Schenkungen und Freiheiten. – Erwerb von Grundbesitz. – Verpachtung der Klostergüter. – Die Pröpste und Priorissinnen des Klosters. – Prinzessin Mechthild. – Aufhebung des Klosters.

Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627  Seite 12–28
Philipp der Großmütige jagt im Habichtswald. – Weißenstein fällt an Landgraf Wilhelm IV. – Der Wildstand im Habichtswald. – Landgraf Moritz läßt den Grundstein zu einem neuen Jagdschloß legen. – Der Schloßbau. – Moritzgrotte. – Gottesdienst zu Weißenstein. – Weißenstein im 30jährigen Krieg und Prozeß gegen den Vogt Nikolaus Gerwig.

Landgraf Karl. 1677–1730  Seite 29–145
Zustand des Schlosses um 1696. – Beginn der Arbeiten auf dem Winterkasten. – Die italienische Reise des Landgrafen. – Guernieros Leben. – Ankunft Guernieros. – Sein erster Vertrag mit dem Landgrafen. – Beginn seiner Tätigkeit auf dem Winterkasten. – Kaskadenvertrag. – Papins Brief an Leibniz. – Die Arbeiten des Jahres 1705. – Wasserorgel. – »Delineatio Montis« 1705. – Bußpredigt des Schulmeisters Becker.Die Arbeiten des Jahres 1706. – Oktogonvertrag. – Das Jahr 1709, Unglücksfälle. – Das Jahr 1710. – Gesamtkosten bis 1710. – Pyramidenvertrag. – Schaumünze Pomponius Kohlers. – Brief Guernieros. – Die Schöpfung der Herkulesstatue. – Der große Stein bei Martinhagen. – Anthonis Inschrift im Kopf der Herkulesstatue. – Vollendung des Riesenbaus. – Orffyreus und sein Perpetuum mobile. – Die ersten größeren Reparaturen. – Überblick.

Landgraf Friedrich I. 1730–1751  Seite 146–154
Große Reparaturen. – Der Landgraf besucht den Winterkasten. – Ein rühriger Hofgärtner.

Landgraf Friedrich II. 1760–1785  Seite 155–208
Oktogon und Weißenstein im 7jährigen Krieg. – Reparaturen. Umbau des Schlosses. – Inventarien. – Die Skulpturen im Park. – Charakteristik der Fridericianischen Neuschöpfungen. – [X] Gartenanlagen. – Plutogrotte. – Große Fontäne. – Das Spielen der Wasserkünste. – Zeitgenössische Urteile über den Weißenstein. – Ein Bauernstreik im Amte Bauna. – Neuer Grunderwerb. – Waldbußregister. – Das chinesische Dorf. – Gasthaus und Weißensteiner Allee. – Gottesdienst auf dem Weißenstein. – Hofuniform auf dem Weißenstein. – Aussöhnung des Landgrafen mit seinen Söhnen. – Der Landgraf stirbt auf dem Weißenstein. – Damaliger Zustand des Weißenstein.

Landgraf Wilhelm IX. (als Kurfürst seit 1803 Wilhelm I.)
bis zum Exil.
1785–1806
 Seite 209–276
Ausgrabung des Lac an Stelle der alten Fischteiche. – Bau des »Weißenstein«. – Die Prospekte des Hofkupferstechers Weise. – Nordflügel. – Aquädukt. – Chausseeanlagen. – Große Fontäne und Lac. – Erste südliche Chaussee. – Jussowscher Wasserfall.  – Völliger Abbruch des alten Schlosses. – Mulang. – Bagatelle und Fasanerie. – Teufelsbrücke. – Hauptgebäude des neuen Schlosses. – Nicht mehr Weißenstein, sondern Wilhelmshöhe. – S. L. Du Ry. – Steinhöferscher Wasserfall. – Schwarzkopfs Programm. – Löwenburg. – Die Schweizerleibgarde. – Die Löwenburg im Lichte der Burgenkunde. – Ihr Stimmungswert. – Die Löwenburg in der Literatur. – H. Chr. Jussow. – Die Treibhäuser. – Allerlei Projekte. – Das Reservoir auf dem Asch. – Die letzten Arbeiten im Schloß. – Die Herkulesstatue wird vom Blitz getroffen. – Vergrößerung des Parkes. – Die Gemeinde Wahlershausen tritt 61 Acker an den Landgrafen ab. – Hinzunahme von Privatgrundstücken. – Ankauf des Juliusstein. – Gesamtausgaben in den Jahren 1786–1805. – Das Springen der Wasser. – Urteile der Zeitgenossen. – Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise von Preußen in Wilhelmshöhe.

Jérôme Napoléon. 1807–1813  Seite 277–292
Park und Bauwerke unter Jérôme. – Des Königs Ankunft. – Das Leben auf Wilhelmshöhe. – Neubauten. – Die Erscheinung auf der Löwenburg. – Glänzende Feste. – Madame Mère. – Die Flucht.

Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821  Seite 293–305
Jubel und Enttäuschung. – »Nichts Neues passiert!« – Ahnengalerie. – Die Studenten auf Wilhelmshöhe. – Die Beraubung des Schlosses. – Der Schatz des Kurfürsten. – Tod des Kurfürsten und Bestattung in der Löwenburg.

Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)  Seite 306–328
Die Gräfin Reichenbach. – Sicherheitsmaßregeln. – Der Kurfürst verläßt die Residenz. – Pflanzenhaus und Marstall. – Kavalierhaus. – Teufelsbrücke. – Neuer Wasserfall. – Steinhofer. – Die Speisung der Wasserkünste. – Die Treibhäuser. – Gasthaus. – Die Zwischenbauten im Schloß. – Ein geplantes Mausoleum. [XI]

Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866
(seit 1831 Mitregent)
 Seite 329–344
Reparaturen an Kaskaden und Oktogon. – Reparatur des Neuen Wasserfalls. – Reparatur am Hauptturm der Löwenburg. – Vetter wird Hofgärtner. – Friedrich Wilhelm IV. von Preußen auf Wilhelmshöhe. – Gefangennahme des Kurfürsten.

Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870–1871  Seite 345–356
Ankunft des Kaisers. – Seine Lebensweise. – Zahlreiche Besuche. – Abreise Napoleons.

Die Neuzeit  Seite 357–390
Der deutsche Kronprinz auf Wilhelmshöhe. – Die Prinzen Wilhelm und Heinrich in Kassel und Wilhelmshöhe. – Kaiser Wilhelm I. erholt sich nach schweren Attentaten in Wilhelmshöhe. – Schah von Persien. – Wilhelmshöhe als Kaiserliche Sommerresidenz. – König von Siam. – König von England. – Vetters Tätigkeit. – Die Rottannen bei den Kaskaden werden gefällt. – Wilhelmshöher Allee. – Marstall. – Die Wilhelmshöher Schloßbibliothek. – Die Villenkolonie. – Herkulesbahn. – Solquellen auf Wilhelmshöhe. – Wilhelmshöhe im Winter.

Zeittafel  Seite 394
Quellennachweis  Seite 399
[Plan von Wilhelmshöhe]  Seite 403

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[1–2  Kloster Weißenstein. 1143–1526]


Abb. 1. Kloster Weißenstein. Skizze von Ernst Happel.

{1) Papin schrieb am 11. August 1704 an Leibniz: »J’ay vu depuis peu une grande quantité de ces coquilles de mer qui se trouvent fort profond soubs la montagne de Weissenstein à deux heures d’icy; mais elles sont toutes pourries ...« Bei der Ausbesserung des sog. Muschelstollens beim Weißensteiner Schloß wurden im August 1712 für das Mineralienkabinet des Landgrafen Muscheln gesucht; eine Frau, die die gewonnenen Muscheln nach Kassel hereinbrachte, erhielt 2 Albus Tragelohn. Noch heute findet man an einzelnen Stellen des Berges zahlreiche Versteinerungen wie Haifischzähne u.s.f. Hier sei auch noch darauf hingewiesen, daß über die vorgeschichtliche Befestigung auf dem Hunrodsberg eine Veröffentlichung von General Eisentraut und Dr. Lange in Aussicht steht.}

Kloster Weißenstein.
1143–1526.

Daß das im Westen der Residenzstadt Kassel sich erhebende basaltische Hochland des Habichtswaldes, in das die Wilhelmshöhe wie ein Juwel in ein Schmuckkästchen hineingelegt ist, einst von Meer umspült war, bezeugen die Seeschlammschichten mit ihren Versteinerungen und Fischabdrücken, die noch heute nicht nur am Abhang des Berges, sondern auch an dessen Höhen gefunden werden.{1)} Der Habichtswald ragte damals gleich dem Dörnberg und anderen, durch vulkanische Ausbrüche aufgesetzten Bergen als Insel aus der Wasserfläche dieses vorzeitlichen Sees empor.

Vor etwa 800 Jahren gehörte er zu der Markgenossenschaft des Dorfes Dietmelle. So hieß damals das zwischen Kassel und der heutigen Wilhelmshöhe gelegene Dorf Kirchditmold, dessen vielleicht auf dem nahen Lindenberg gelegene Gerichtsstätte für die sächsische Bevölkerung des Fuldatales von großer Bedeutung war und unter dessen Dekanat dann lange Zeit in einem Umkreis von mehreren Stunden sämtliche Ortschaften diesseits und jenseits der Fulda, darunter auch die nachmalige Stadt Kassel, standen. Es war das die Zeit, wo die Kirche, gestützt auf die gewaltige, durch die Kreuzzüge veranlaßte Bewegung, überall und vornehmlich zwischen waldbewachsenen Bergen mit schöner Aussicht die Gründung von Klöstern veranlaßte, deren Mauern dann bald einen Obst- und Gemüsegarten umschlossen.

So kam auch um die Mitte des 12. Jahrhunderts, nicht zuletzt wohl durch die romantische Tage der Gegend bestimmt, von Fritzlar der ehemalige Magister Bovo herüber und suchte die Bewohner von Dietmelle, die gewöhnlich die Märker genannt wurden und denen damals der Habichtswald zu eigen gehörte, zu bereden, dort in der [2] Nähe weißer Steinfelsen, die majestätisch aus der grünenden Wildnis emporragten, ein Kloster zu stiften und dieses einer frommen Brüderschaft zur Ansiedlung zu überlassen. Die Märker fanden sich hierzu bereit und übergaben diesen Ort durch Vermittlung ihres Schirmvogtes Adelbert von Schauenburg (Scowenburch) dem Schutz des heiligen Martin, d.h. des erzbischöf‌lichen Stuhles zu Mainz. Den nunmehr herbeiziehenden frommen Brüdern überließen die Märker Land, Wasser und Wald in der Nähe eben jener mächtigen Quarzite, die noch heute als einzige, wenn auch stumme Zeugen aus jener Zeit unsere Bewunderung herausfordern. Schallende Axtschläge weckten die bis dahin nie oder selten gestörte Einsamkeit des Waldes aus ihrem Schlummer, und bald hatten fleißige Menschenhände den Bau geschaffen, hinter dessen Mauern sich fortab Jahrhunderte hindurch das Klosterleben abspielen sollte. Die Erzbischöfe von Mainz waren der Gründung von Anfang an gewogen; Erzbischof Heinrich bestätigte in einer zu (Hof-)Geismar, einer damals mainzischen Stadt, am 14. Dezember 1143 aufgestellten Urkunde das Kloster »Witzenstein« und verlieh darin unter anderm den Mönchen das Recht zu taufen, zu beerdigen und Kranke zu pflegen. Unter den anwesenden Zeugen werden Propst Cambert von Geismar, Sigebodo von Schauenburg, Gewehardus von Immenhausen, Stephan und Theodorich von Malsburg aufgezählt. Das Kloster wird in den Urkunden verschieden geschrieben, es kommen die Namen Ecclesia oder cenobium oder monasterium in albo lapide, Wyßenstein, Witzenstein, wicensten, wizinstein, Wysinstein, Wyßzinstein, Wicenstein, Wißenstein, Wyssenstein, Wissensteyn, Wisensteyn und Wizstein vor.

Das Kloster stand also unter Mainzer Diözese. Zwei Jahre später kam derselbe Erzbischof in eigner Person, um auf Bitten des Propstes Bruno die zu Ehren der hl. Jungfrau Maria und aller Heiligen erbaute Klosterkirche feierlich einzuweihen; er bestätigte das Kloster als ein Augustiner-Mönchskloster, in welcher Eigenschaft es auch noch 1163 in einer Urkunde des Sachsen- und Bayernherzogs Heinrich des Löwen erscheint. Zwei Ministerialen Heinrichs, Rudolf und Dietrich von Winterbüren, hatten dem Kloster Weißenstein ihr Erbgut Altenfeld eigentümlich übergeben, wozu der Herzog seine lehnsherrliche Bewilligung erteilt. Im Jahr 1184 tritt Weißenstein sodann als Mönchs- und Nonnenkloster auf – die Insassen werden als tam fratres quam sorores aufgeführt –, während es schon neun Jahre

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[3  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

  später nur noch als Nonnenkloster erscheint. Und das ist es dann bis in die Reformationszeit hinein geblieben. Die Bewohnerinnen wurden (1256) als die »unbescholtenen Töchter des Tales der hl. Maria bei Weißenstein« bezeichnet. Das Kloster unterstand einem Propst und einer Priorissin und hatte die Grafen von Schauenburg zu Schirmvögten. Die Ruinen des Schauenburger Stammsitzes erheben sich noch heute hinter dem Habichtswald auf einer Basaltkuppe, um deren Fuß sich das Dorf Hoof schmiegt. Über das Leben im Kloster wissen wir nur, daß die Nonnen nicht zu allen Zeiten gemäß der Ordensregel lebten, sondern die gelockerte Zucht einmal zu ernstem Einschreiten der Oberen Anlaß gab. 1483, im Geburtsjahr Luthers, übertrug der Erzbischof Dietrich von Mainz die Aufsicht über das Kloster einem Prior des Augustinerklosters zu Bodecke im Hochstift Paderborn. Um den Ordensstand wieder zu heben, beauftragte er den Prior, tatkräftig einzugreifen und, selbst unter Androhung des großen Kirchenbanns, die Mißbräuche abzuschaffen, alle Widerstrebenden zu strafen und, wenn es nötig sei, auch die Hilfe der Staatsgewalt anzurufen. Außerdem war dieser Prior befugt, unter Zuziehung eines Weltgeistlichen das Kloster jederzeit zu visitieren.

Im Laufe der Zeiten erhielt dieses viele Schenkungen und Freiheiten. Landgraf Ludwig der Heilige von Thüringen nahm es 1217 in seinen Schutz und befreite die Insassen in allen seinen Städten vom Zoll derjenigen Sachen, deren sie zu Nahrung und Kleidung benötigten. 1240 verschaffte Graf Albert I. von Wallenstein dem Kloster Güter seines Afterlehnsträgers bei Kassel, Hermanns von Wolfershausen. In einer Urkunde vom 25. August 1256 verkündete der päpstliche Gesandte, ein Bischof von Verona, für die frommen Besucher der neuen Kapelle des Augustiner-Nonnenklosters Weißenstein einen Ablaß von vierzig Tagen. 1298 befreite Landgraf Heinrich I. den zu Weißenstein gehörenden Klosterhof zu Altenfeld, wobei er sich jedoch Einquartierung und Fuhren vorbehielt, die erst 1312 unter Landgraf Otto in Wegfall kamen; gleichzeitig verbot Heinrich, daß landgräf‌liche Dienstleute auf diesem Hof zu Dienstleistungen herangezogen wurden. Am 6. Juni 1328 stiftete für den in diesem Jahr gestorbenen Landgrafen Otto dessen Nachfolger Heinrich II. eine Seelenmesse zu Weißenstein. 1466 erließ Landgraf Ludwig II. dem Kloster das Pferd, das es bisher jährlich in der Ernte auf dessen Zehnten stellen oder statt dessen hatte erlegen müssen. \

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[4  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

  Das Kloster hatte Einkünfte von Zehnten, Höfen, Ländereien, Häusern, Gärten, Mühlen und Wiesen; es erhielt Güter geschenkt, kaufte solche oder tauschte sie gegen andre um; diese Güter wurden dann meist gegen einen jährlichen Zins verpachtet.

Schon bald nach der Gründung des Klosters begannen die Mönche damit, in Dietmelle Grundbesitz zu erwerben, indem sie dort von Hildegard, Radolfs Gattin, eine halbe Hufe Land gegen einen in der Nähe des Klosters gelegenen Mühlenort, eine halbe Hufe zu Blickershausen (blicgereshusen) und drei Acker zu Nordshausen (Nordradeshusen), was alles der Kirche zu Dietmelle gehört hatte, eintauschten; dem schloß sich weiterer Grundbesitz in der Nähe des Klosters an. 1163 erhielt es auf Grund der schon genannten Urkunde von den Brüdern Rudolf und Dietrich von Winterbüren deren zwischen Immenhausen und Winterbüren gelegenes Erbgut Altenfeld. Das Kloster baute hier später eine Kapelle, deren Inkorporation Papst Pius II. 1459 bestätigte. Diese der Jungfrau Maria geweihte Kapelle zog viele Wallfahrer an, darunter auch 1462 den Landgrafen Ludwig, wie aus einer Rechnung des St. Martinsftiftes zu Kassel hervorgeht. Das Kloster vermeierte im Jahre 1298 26 Hufen des neben dieser Kapelle liegenden Hofes gegen einen jährlichen Zins an Frucht und Federvieh. 1366 wurde dort auch eine Hofstätte verpachtet, und 1510 erlaubte die Weißensteiner Priorissin Margarethe von Treyßbach einem Meier, sich zu Altenfeld Haus und Scheuer zu bauen gegen einen Jahreszins von einem halben Gulden und zwei großen Bahnen; falls er auch Schafe zu halten gedenke, solle er von der Trift des Jahres einen halben Gulden geben. Zwischen dem Priester der Kapelle zu Altenfeld, Ludwig Holzhausen, und dem Kloster Weißenstein entstandene Streitigkeiten gelangten bis vor den päpstlichen Stuhl, wurden aber durch Vermittlung des Landgrafen Hermann, der damals Dompropst in Mainz war, zugunsten Holzhausens beigelegt.

Gleichfalls noch im 12. Jahrhundert kaufte der Weißensteiner propst Bruno von einem gewissen Wigand ein Güt zu Sigersen im Ahnatal bei Weimar. 1196 gab Graf Arnold von Schauenburg den Zehnten von vier Äckern zu Wickersdorf (Wichartstorph, in der Nähe des Habichtswaldes) an das Kloster, das noch im Jahre 1400 Güter dort vermeierte. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts schenkten die Bewohner Dietmelles dem Kloster den Habichtswald (silva que dicitur habiges valt), und Erzbischof Siegfried von Mainz bestätigte die

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[5  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

  Schenkung 1225. Zwei Jahre später bestätigte Papst Honorius III. das Kloster im Besitz des Dorfes Wahlershausen (Waleshusen). 1240 wird ein unter gewissen Bedingungen erfolgter Ankauf zu Niedervelmar sowie ein solcher zu Oberwehlheiden (in superiore Welede) bestätigt; die Besitzungen zu Oberwehlheiden befreite schon 1256 Landgraf Heinrich das Kind von allen Abgaben. Im Jahre 1274 vermachte ein Ritter Eckehardus de Werhen dem Kloster acht oberhalb »Wingartin« gelegene Äcker; Weingarten lag dicht bei Kassel am Fuß des Weinberges und wurde nach Landaus Vermutung schon 1385 bei der ersten Belagerung Kassels wieder zerstört. 1284 bekennen Theoderich und Konrad von Elben, daß sie drei Hufen zu Ruchotsen (auch Rockedessen, einer Wüstung am Abhang des Dörnbergs), die Konrad von Weimar von ihnen zu Lehen hatte, der Kirche zu »Wicensten« ohne irgend welche Gegenleistung überlassen hätten. 1312 verkaufte Ludwig von Arnoldeshagen drei Hufen bei Altenfeld an das Kloster; 1317 kaufte eine adlige Frau, Hedwig zu Esenrode, vom Kloster zu Eippoldsberg eine Mühle bei Ritte und übergab sie dem Weißensteiner Kloster, behielt aber sich und ihren beiden Enkelinnen den lebenslänglichen Nießbrauch vor. 1321 wurden zu Zierenberg (Terberg) zwei vor der Stadt gelegene, gemeinsam eingefriedigte Gärten von Henricus Doringberg an die drei Weißensteiner Nonnen Alheyd von Volcmerßen, Elizabeth von Gothardessen und Lucie verkauft und dann wieder von dem Verkäufer zu Waldrecht genommen; von den davon fallenden vier Schillingen Pfennige sollte die eine Hälfte der Alheyd, nach deren Tode der Priorin des Klosters und den Besorgern der Armen zum Jahresgedächtnis Alheyds zufallen, die andre Hälfte aber den beiden andern Nonnen, nach deren Tode sie zu deren ständigem Jahresgedächtnis verwandt werden sollte. Eine ähnliche Beleihung zu Waldrecht fand im folgenden Jahre gleichfalls zu Zierenberg statt. Am Tage Allerheiligen 1340 bekennt Ernst von Besse, daß er der Priorissin Albradi zu Weißenstein und andern Insassinnen das von seinem Bruder Werner geteilte Haus und Garten im Dorf zu Gensingen eigentümlich verkauft habe. 1488 bekennen Jorige und Butteler der Ältere und dessen beide Söhne, daß sie den geistlichen Jungfrauen, der Priorin und ganzem Konvent des Stiftes und Klosters Unser lieben Frauen S. Augustins-Ordens zum Weißenstein zwei ledige Werke aus ihrer halben Pfanne, vor Allendorf in den Sooden gelegen, wiederkäuf‌lich verkauft hätten.

Nicht immer gingen solche Schenkungen und Verkäufe ohne Widerspruch

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[6  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

 

der dadurch Geschädigten vor sich. Das Gut, das Propst Bruno am Ende des 12. Jahrhunderts zu Sigersen kaufte, hatte dessen Verkäufer Wigand nur zum Teil selbst erworben, der andre Teil war auf ihn vererbt gewesen; deshalb fochten seine Verwandten aus Hümme diesen Kauf an und ließen sich erst durch Überlassung einer Geldsumme zu einer Einwilligung bestimmen. 1365 hatte Kuno von Hertzenrade wegen gewisser Güter und Gefälle zu Schilderade (zwischen Niederkaufungen und Dollmarshausen), Beldershausen und Konnigeshayn einen Handel mit dem Weißensteiner Kloster und verklagte dieses vor dem Fritzlarischen Archidiakonat, dem damals die geistliche Gerichtsbarkeit über die Gegend von Kassel unterstand. Schon im Jahre 1244 war hier ein zwischen Konrad von Ernbretchesvelde als Kläger und dem Kloster Weißenstein als beklagtem Teil wegen einer Hufe zu Oberzwehren (in superiori Tveren) ausgebrochener Streit geschlichtet worden, und zwar, wie 1365, zugunsten des Klosters.

Die so erworbenen Klostergüter wurden gegen Geld, eine bestimmte Korngülde (»was der Acker trägt oder gesät ist«), Federvieh usw. verpachtet und dabei dem Pächter die Besserung des Landes zur Pflicht gemacht. Das 12. und 13. Jahrhundert war für Hessen nicht nur die Zeit der meisten Klostergründungen, sondern auch der meisten Rodungen; eine große Zahl von Leihen, vornehmlich zu Wald- und Landsiedelrecht, verbreitete sich damals über das ganze hessische Land. Man hat gesagt, daß zu dieser Zeit die Klöster auf Spekulation gegründet gewesen seien, als große Rodeanstalten, da mit der zunehmenden Rodung die Klostereinkünfte naturgemäß vermehrt wurden; die Folge war, daß die kleineren Grafengeschlechter durch den sich immer mehr ausbreitenden Besitz der benachbarten, von ihnen meist mitbegründeten Klöster allmählich aufgezehrt wurden, so die Grafen von Schauenburg durch die Klöster Weißenstein, Hasungen und Nordshausen.

Das Kloster zu Weißenstein tat die Äcker auf 6, 12, 20, 24, 30, 31, 32 Jahre, aber auch »auf ewiglich« auf; der Zins wurde fast durchweg am St. Michaelstag entrichtet. Wurde diese Gülde (Zins) nicht bezahlt, so sollte, wie es in den Meierbriefen heißt, der Pächter sich von seinen Äckern »vertreiben und verweisen« und diese sollten quitt, ledig und los wieder dem Kloster anheimfallen. 1374 hatte ein Pächter zu Baune (Bunen) für vier Hufen Land jährlich sechs Malter Frucht, halb gut Korn und halb Hafer, zu zahlen; für elf vor der Dönche

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[7  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

{*) Ein limes (4 Metzen) war der vierte Teil eines kasselischen Viertels.}

(Tonche, auch toniche) gelegene Äcker entrichtete ein gewisser Hermann Koch auf Grund eines Leihebriefs von 1368 von jedem Acker »eyn lymes«{*)} der jeweilig geernteten Frucht. 1299 wurden zu Kirchbauna (Kerichbune) mehreren Einwohnern und deren Erben fünf Hufen auf ewige Zeiten zu Waldrecht gegeben; jeder hatte jährlich von seiner Hufe fünf Viertel halb Korn, halb Hafer, und zwei junge Hühner zu entrichten; ein andrer Pächter zu Kirchbauna verpflichtete sich (1404), jährlich zwei Viertel Korn an den Konvent zu Weißenstein und zwei Viertel Korn, einen Malter Hafer und zwei Hühner an die dortige Propstei abzuliefern. Für fünf Acker auf dem »Hellenbole« (1379, Höllenküppel?) wurden jährlich fünf Limes Frucht und zwei Fastnachtshühner gezahlt; ein Pächter Fricke zu Neuenhof (zum Nuwenhobe), einer Wüstung zwischen Simmershausen und Hohenkirchen, an den das Kloster 1406 13 Äcker vermeiert hatte, gab jährlich zwischen Michaelis und Martini zwei Viertel Frucht, halb Korn, halb Hafer, und ein Pfund Pfennige. 1383 bekennen Mechthilt Hasen, Priorin, und die sämtlichen Jungfrauen des Klosters zu »Wißinsteyn«, daß sie dem Heinrich Scheibin, Bürger zu Kassel, ihre im Feld bei den Klosteräckern zu Oberwehlheiden gelegene Wiese gegen einen Jahreszins von 3 Pfund und 5 Schillinge hessischer Pfennige auf 32 Jahre eingetan hätten. Johann Schultheiß zu Harleshausen (Haroldishusin) pachtete 1382 auf 30 Jahre vom Kloster vier Hufen und zwei Acker Land, in der Dorfmark zu Kirchditmold, Harleshausen und Todenhausen gelegen, gegen einen jährlichen Zins von neun Malter halb Korn, halb Hafer, und je einen halben Malter Weizen und Wintergerste; er versprach dabei, ein getreuer Landsiedel des Klosters zu sein und das Land mergeln (düngen) und bessern zu wollen, und falls er von Todeswegen abginge, so solle das Besthaupt um 10 Schillinge Pfennige gelöst werden. Beiläufig sei bemerkt, daß der Name der Wüstung »Todenhausen«, zwischen Kirchditmold und Harleshausen, dort noch heute als Flurbezeichnung üblich ist. Nach einem Leihebrief von 1416 zahlte Kurt Meymwart für ein Lehen und Gut zu Wahlershausen (Waldolfishusen) alljährlich am St. Michaelstag oder früher neun Malter guter Frucht und zwar je einen halben Malter Weizen und Gerste, vier Malter Korn und vier Malter Hafer, ferner von einem dabei gelegenen Haus und Hof auf jeden Michaelstag sieben

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[8  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

Schillinge Pfennige und zwei Hühner und auch auf alle Palmtage vor Ostern 50 Eier; er will das Land redlich beackern, so daß das Stift – selbstverständlich neben der Pacht – jährlich den gebührenden Zehnten von den Äckern abziehn könne; auch will er Lehn und Gut, Acker, Wiesen und Garten nebst dem genannten Haus und Hof ohne Wissen des Konvents weder versetzen noch verkaufen. Im Jahr 1453 bescheinigt der ehrsame Herr Johann Nickel, Erzpriester des Stuhls zu Kirchditmold (Kerchdepmelen) und Pfärrner zu Velmar, das Bekenntnis eines Ehepaars zu Obervelmar, alljährlich auf den heiligen Palmentag der geistlichen Priorin und den Konventsjungfrauen zu Weißenstein ein halbes Pfund Wachs aus einem halben, bei Obervelmar gelegenen Acker liefern zu wollen.

Gleich den Insassen andrer Klöster erhielten auch die Jungfrauen zu Weißenstein einen Zins aus dem Kasseler Brauhause an der Fuldabrücke und zwar 1520 drei Pfund (den üblichen Preis für ein Fuder Bier). Außzerdem bezogen sie nach Ausweis der Kasseler Stadtrechnungen von 1513, 1520 und 1526 zu Pfingsten von der Stadt einen jährlichen Erbzins von fünf Gulden, der nach der Säkularisation des Klosters mit 89 Gulden sechs Albus abgelöst wurde.

Außer an den genannten Orten hatte das Kloster unter anderm noch Besitzungen an Äckern und Wiesen (und zwar meist in der Nähe des Habichtswaldes) bei der Bettenwiesen, bei dem Eckartsborn, unter dem Kylesberg, vor den Birken, an der Heide und bei der Kälberwiese (Kylbir weizin); diese lag unmittelbar am Fuße des Klosters, und noch im 18. Jahrhundert fanden hier Vergnügungen des im Weißensteiner Schloß weilenden Hofes statt. Weitere Besitzungen des Klosters lagen in Besse, Niederzwehren (Nydern Twerne), Niedersimmershausen, Bodegerne, Bivera (Bebra), Blickershausen, Gerwardeshausen, Rothenditmold, Dörnberg, Elgershausen, Ehringen, Ehrsten, Fritzlar, Frommershausen, Gudensberg, Heckershausen, Immenhausen, Rengershausen, Sandershausen, Dennhausen usw.

Der erste Propst des Klosters hieß Bruno; aus dem 13. Jahrhundert werden noch Theodericus und Bartmannus, aus dem 14. Jahrhundert Henricus, Bruno und Albertus genannt. Des Klosters erster Propst, Bruno, stiftete gleichsam als Dank gegen Fritzlar, die fromme Mutter, das dortige Armenhospital; und weil es diesem an Raum gebrach, benutzte er die Anwesenheit des Erzbischofs Heinrich von Mainz, diesen zur Schenkung von vier, dem Erzstift gehörigen Morgen

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[9  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

{2) »Darnach«, heißt es beim Chronisten Wigand Lauze, »ward er krank im Haupt, daß er fantasirt, vielleicht der Unruh halben und ander Arbeit, die Er erlitten hatte uff der Meerfahrt, und auch ander zufällig Unglück das Ihn traff, auch meinten eines theils, es were ihm von thörigten Weibern gegeben zu essen, sie lieb zu haben.« Landgraf Wilhelm IV. bemerkt in einem Schreiben an den Oberamtmann in Kazenellenbogen Milchling von Schönstätt: »Denn auch eynmal ein Landtgraff dahin [nämlich nach Venedig] gezogen, den die Curtisaninnen dermaßen abrichteten, daß er eyn Narr und wahnwitzig heimkam.« (Rommel V. 2, Ann. 57.)}

{3) Es müßte noch untersucht werden, ob die Bemerkung Rommels (VI. 1, Anm. 6), Mechtildis sei von Landgraf Philipp aus dem Weißensteiner Kloster genommen und 1527 mit dem Grafen von Tecklenburg vermählt worden, nicht auf einer Verwechslung beruht.}

Landes an das Armenhaus zu veranlassen; das dieser vom 9. März 1147 datierten Verbriefung aufgelegte große Siegel aus weißem Wachs stellt den sitzenden Erzbischof ohne Mitra, mit Krummstab und Bibel dar. Priorissinnen zu Weißenstein waren im 13. Jahrhundert Lucardis und Cunegundis, im 14. Jahrhundert Sophia, Berta, Bertheydis, Albradis, Ermegast, Mechtilt (Methylde, Metze) Hasin, im 15. Jahrhundert Mechtild von Rocwordeßen, Albrat, Elisabeth (Ilse) von Fenne (oder Venne), Elisabeth von Twiste, im 16. Jahrhundert noch Margaretha von Treyßbach. 1492 war Alheit Kannegieser Unterpriorissin. Unter den Klosterjungfrauen werden genannt im 14. Jahrhundert Cunegund von Notfeld, Geyle von Bodegerne, Cunegund von Kaufungen, Mechtild von Schartenberg, Elisabeth von Gothardeßen, Lucie, Alheyd von Volcmerßen, Alheid von Ehringen, Ysentrudis von Dithmelle und Elisabeth von Weimar; im 15. Jahrhundert die Schwestern Gertrud und Mete Schwartin, Trude von Dinkelberg, Ermengart von Gilse und Elisabeth von Besse.

Die hessische Prinzessin Mechthild, des Landgrafen Wilhelm des Älteren Tochter, die sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts unter den Nonnen des Weißensteiner Klosters befand, brachte eine bedeutende »Mitgift«, wie es in der Urkunde heißt, mit; denn da der Eintritt einer Jungfrau in den geistlichen Stand als eine Vermählung mit Christus und sie selbst als Braut Christi angesehn wurde, so betrachtete man das, was sie dem Kloster zubrachte, als Heiratsgut. Der Landgraf hatte 1493, nachdem er »krank im Haupte« – wie die Zeitgenossen vermuteten, von einem Liebestrank, der ihm in Venedig beigebracht war{2)} – aus dem heiligen Land zurückgekehrt war, dem Kloster 1000 Gulden baren Geldes oder, nach Nutz und Gefallen des Konvents, ebensoviel an Früchten zu geben versprochen, sobald seine »herzliebe Tochter« im Kloster eingesegnet würde. Sollte Mechthild aber vor der Einsegnung ihren letzten Tag beschließen, so wollte er dem Kloster 1000 Gulden zu geben verbunden sein. Am Walpurgistag 1500 stellte die Priorin die Quittung über die empfangene Summe aus, für die der Landgraf jährlich 50, am Weihnachtstag fällige Gulden auf den Zoll zu Kassel angewiesen hatte.{3)}

Das Kloster blieb noch eine Reihe von Jahren eine Versorgungsanstalt für Töchter wohlhabender Familien, wie denn besonders die unverehelichten Töchter der niederhessischen Ritterschaft, die selbst eine Reihe von Klöstern gegründet hatte, in diesen Unterkunft fanden. Als

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[10  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

dann Philipp der Großmütige die Reformation in Hessen einführte, teilte auch Weißenstein das Schicksal der übrigen Klöster, es ging ein. »Auch seind die Cloester von moenchen und nonnen verstoehret worden, und haben die meisten gefreyet und sich in den ehestand begeben, heißt es in der »Congeries«. In den fünfzig Klöstern des Hessenlandes lebten an tausend Mönche und Nonnen. Diejenigen, die ihrem Stand treu bleiben wollten, erhielten eine angemessene Versorgung, die übrigen wurden durch eine bestimmte Geldsumme oder auf andre Weise gegen eine ausgestellte Verzichturkunde abgefunden. Einige zogen auch ohne alle Abfertigung davon und traten in andre Klöster ein. Die letzte Priorin des Klosters Weißenstein, Margaretha von Treißbach, erhielt 120 Goldgulden, eine der Ordensschwestern, Magdalene Dippel, bekam sechs Viertel Korn als Abfindung, eine andre, Zeitlos Meysenbug, eine auf das Kloster Heida gewiesene Rente von 10 Malter Frucht, die 1554, nachdem Zeitlos einen Schultheißen geheiratet hatte, mit 200 Gulden abgelöst wurde. Im ganzen stellten in den Jahren 1527 und 1528 18 Nonnen beim Austritt aus dem Weißensteiner Kloster solche Verzichtbriefe aus: Immiche Westfalen, Katharina Konrads aus Kassel (gegen 2 ½ Malter Frucht jährlich, über deren Ablösung durch 50 Gulden 1567 ihr Sohn quittierte), Elisabeth Arnolds, Anna von Roßdorf, Antonia Clusers, Helisabeth Geylfuß, Anna Schönlebers, Elisabeth Twisten, Alheid Trostes, Elisabeth Meylen, Gertrud von Kaufungen, Gela Sporn, Helisabeth von Besse und eine Laienschwester. 1528 wurde die Priorin abgefunden, ihr folgten Kunne Beckhoven, Metze Gumperts und die Schwestern Meysenbug.

Je weiter eine Zeit zurückliegt, um so dankbarer sind wir für die geringste Mitteilung, die geeignet ist, das Gesamtbild zu vervollständigen. So sei auch ein noch vorhandenes Zeugnis erwähnt, in dem die Priorissa von Treißbach einer Eva von Dilberg bestätigt, daß sie 30 Jahre eine professa zu Weißenstein gewesen und im Molkenhause vortreffliche Butter und Käse gemacht habe.

Ein Vogt wurde mit der Verwaltung der Klostergüter beauftragt und bezog gemeinsam mit einem Ökonomieverwalter die verlassenen Klosterräume. Anno 1528 bekennen Bürgermeister und Rat zu Kassel, daß ihr Mitbürger Cyriax Hartmann und dessen Ehefrau Gertrud den jederzeitigen Vorstehern und Vögten zu Weißenstein einen Goldgulden kasselischer Währung jährlichen Zinses aus ihrem Haus, Grund und Hofstatt im Breul zu Kassel für 20 rheinische Gulden widerrechtlich

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[11  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

verkauft hätten. Im Jahr 1543 war ein gewisser Philipps Geißmann Vogt zu Weißenstein; dieser bestätigt einem Johann Saxe den Empfang eines Registers über die Zinsen von Weißenstein und verspricht dessen Rückgabe.

Die Klostergebäude gingen immer mehr ihrem Verfall entgegen. Die getragenen melancholischen Weisen der Nonnen, die jahrhundertelang durch die kalten Mauern drangen und, von niemand gehört, in der Waldeinsamkeit verzitterten, waren für immer verstummt, und selten genug, wenn überhaupt einmal, mag einer aus dem Tale herauf seine Schritte in diese Wildnis gelenkt haben, in der damals noch manches wilde Tier den Wanderer schreckte, – es sei denn, daß der landgräf‌liche Hof zu fröhlichem Jagen diese durch ihre reiche Wildbahn ergiebigen Jagdgründe am Weißenstein durchstreifte oder sich im Schatten des Klostergartens an Federspiel und Bogenschießen ergötzte.

Eine Abbildung des Klosters aus der Zeit seines Bestehens ist leider nicht auf uns gekommen. Erst zwei Jahrzehnte nach der Aufhebung des Klosters findet sich dieses auf einem großen, aus der Vogelperspektive gezeichneten Plan, der die Schleifung der Stadt Kassel durch die Spanier während der Gefangenschaft Philipps des Großmütigen (1547) darstellt. Diesem in der Murhardschen Bibliothek aufbewahrten Plan ist unsre kleine Skizze entnommen, die einen immerhin noch recht ansehnlichen Gebäudekomplex vorführt.

Die mehrfach umgebaute Klosterkapelle wurde erst 1785 niedergerissen. Als man 1829 zwischen den Haupt- und Seitenflügeln des Wilhelmshöher Schlosses die unschönen Zwischenbauten begann und für den zu dem Weißensteiner Flügel gehörenden Verbindungsbau das Fundament grub, fand man einige mit Platten eingefaßte und überdeckte Gräber, in denen sich noch gut erhaltene Gerippe befanden.

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[12  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]


{{Postkarte von ca. 1900 mit zwölf Landgrafen bzw. Kurfürsten.*MA}}

Landgraf Moritz der Gelehrte.
1592–1627.

Philipp der Großmütige (1509–1567) war wie die meisten seiner Vor- und Nachfahren ein eifriger Jäger, und so lag es nahe, daß er außer verschiedenen andern eingegangenen Klöstern, wie denen zur Heida bei Melsungen oder zur Karthause am Heiligenberg, auch die am Habichtswald mit seiner reichen Wildbahn gelegenen Gebäude des Klosters Weißenstein als Jagdhaus verwandte, wozu es großer baulicher Veränderungen ja nicht bedurfte. Als im Jahre 1535 die Herzöge von Sachsen nach Kassel kamen, veranstaltete Landgraf Philipp unter andern Festlichkeiten auch mehrere Hirschjagden. Für die erste Jagd waren am Fahrenberge im Habichtswald zehn feiste Hirsche »zu einem Jagen auf die Schützen zu laufen« eingestellt. Als diese vorgetrieben wurden, schoß Herzog Georg drei, die andern wurden durch die Hunde gefangen. Der Wildschaden war nach Landaus »Geschichte der Jagd« zu Philipps Zeit durch das große Anwachsen des Wildstandes ein sehr empfindlicher geworden. Trotzdem sträubte sich der Landgraf sehr energisch gegen das Wegschießen, und als ihm, während er sich in kaiserlicher Gefangenschaft befand, die fortgesetzten Klagen der Bauern zugetragen wurden, war er lieber zum vollen Schadenersatz als zu einer Verminderung des Wildes bereit; 1549 z.B. ließ er die Bauern reichlich durch Korn und Hafer entschädigen. »Komme ich,« schrieb er seinen Räten »im 50. Jahr (1550) heim, will ich die Säu, ob Gott will, jagen, daß die Untertanen wohl zufrieden seyn sollen, komme ich nit heim, als ich nit hoff, so will ich sie im selben Jahr an etlichen Orten am Walde jagen lassen; das sagt den Unterthanen.«

Im Testament Philipps des Großmütigen erhielt dessen Sohn Wilhelm IV. (1567–1592), dem das Niederfürstentum Hessen mit der Hauptstadt Kassel zufiel, unter den seit der Reformation eingezogenen

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[13  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

und erworbenen Klöstern auch Weißenstein, das seit der Säkularisation jährlich 1590 Gulden einbrachte. Durch einen Stiftungsbrief vom 24. Oktober 1583 wandte Wilhelm den Predigerwitwen seines Gebiets, die ihren Anspruch durch Armut und unsträf‌lichen Wandel begründen konnten, dadurch eine besondere Unterstützung zu, daß er für sie vierzig Pfründen zu ewigen Tagen aus den Renten von fünf Klöstern, zu denen auch Weißenstein gehörte, errichtete. Diese Pfründen bestanden außer in Geld auch in Fruchtgefällen, zu denen das ehemalige Weißensteiner Kloster nach einer Konsistorialverfügung von 1732 alljährlich auf Martini 30 Viertel Korn, 20 Viertel Gerste und 10 Viertel Hafer beizusteuern hatte.

Auch Landgraf Wilhelm IV. war ein eifriger Jäger und hielt sich häufig auf dem Weißenstein auf. Am 19. September 1570 schrieb er von Spangenberg aus an den Oberförster zu Lichtenau, daß er vor wenigen Tagen auf die Brunst gezogen und diese erstlich um Kassel am Habichtswalde angefangen, aber an allen Orten so gar wenig Hirsch und Wildpret funden; das könne nur darin seinen Grund haben, daß die Bauern das Wild nicht hoch achten und leiden möchten und es daher nicht allein von Feldern, sondern auch aus’n Wäldern und Waldwiesen hinweghetzten und scheu machten. Er gab daher strenge Weisungen, die z.B. in einer Verordnung von 1571 wiederholt wurden. Der Wildstand mußte sich hierdurch wohl wieder gehoben haben; am 13. September 1578 sah Wilhelm auf einem Ritte am Habichtswald 76 Hirsche ohne die Spießhirsche. Er selbst besaß damals einen zahmen Hirsch, der 1577 22 Enden hatte, es 1578 aber nur zu 18 Enden brachte. In der Hatze des Jahres 1581 fing er am 23. Dezember am Steinfelde im Habichtswald ein »recht Hauptschwein«, das aber, weil es mager war, nur 2 ½ Zentner wog. Bis dahin waren in diesem Jahre 1103 Säue erlegt. Als er 1582 am Meißner 40 Säue und 15 Hirsche erlegt hatte, schrieb er seinem Bruder Ludwig, am Habichtswalde habe er sie feister gefunden. Im September dieses Jahres schrieb er aus dem hinter dem Habichtswald gelegenen, 1558 von Philipp erbauten Jagdschloß zu Elgershausen, daß sie fünf Hirsche von 14 und 12 Enden geschossen hätten, »und haben so viel am Langenberg hin antroffen, daß wir nicht gewußt, wo wir uns hin wenden wollen; so schreien sie auch sehr wohl«. Im September 1588 fand er am Langenberge »einen großen Wuest von Hirschen«, am Habichtswalde aber nicht so viel. Am Langenberg

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[14  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) Um dieselbe Zeit erbaute der Landgraf in Kassel das Ottoneum, das erste feste Theater in Deutschland.}

{**) Wolff war zugleich Leibarzt des Landgrafen.}

sei es jedoch so dick, daß sich einer schier durchhauen müsse. Auch schrieen daselbst die Hirsche gar wohl, obgleich erst seit drei Tagen.

Auch Wilhelms Sohn, Landgraf Moritz (1592–1627) pflegte zu Zeiten mit dem Hofe die alten Klosterräume aufzusuchen; in einem Verzeichnis der persönlichen Hofausgaben des Landgrafen aus den Jahren 1597 und 1598 finden sich auch solche, die während des Aufenthaltes zu Weißenstein erfolgten. Die Regierung dieses in seinen Vorzügen wie in seinen Fehlern gleich starken Fürsten, dem seine umfassende wissenschaftliche Bildung den Beinamen des Gelehrten verschaffte und der sich auch selbst schriftstellerisch und wissenschaftlich betätigte, bezeichnet einen Wendepunkt in der geschichtlichen Entwicklung dieser Stätte. Achtzig Jahre später, als die Augustiner-Nonnen zu Weißenstein, je nach Alter und Sinnesart, mit gebrochenem Herzen oder auch mit lebensfreudiger Hoffnung zum letzten Male über die Klosterschwellen getreten waren, faßte Moritz den Entschluß, sich hier ein seinem Geschmack entsprechendes Lustschloß hinzusetzen.

Im Jahre 1606{*)} ließ er durch seine drei ältesten Söhne Otto, Moritz und Wilhelm den Grundstein zu einem neuen Schlosse legen; darauf wiesen die an den beiden nach der Stadt hin gelegenen Ecken des Schlosses angebrachten Inschriften hin: »A. 1606. 25. Junii Tres fratres Fundam. iecerunt. (Otto) Mauritius Junior. Hass. Landgrav. Ao. Ætatis 6. Wilhelmus Hassiae Landgravius Ao. Ætatis quarto.« Daß es sich um einen massiven Steinbau handelte, geht aus den erhaltenen Baurechnungen der Jahre 1608–1610 hervor. Geleitet wurde der Bau durch den Oberbaumeister Hermann Wolff.{**)} In einer von Meister Hans Meurer 1607/1608 aufgestellten, durch den Baumeister Adam Müller geprüften »Ausmessung des Mauerwerks« lesen wir von einem Herrenbau, einem von diesem durch eine Schiedmauer getrennten Jägereibau mit Eckturm, einem Eckturm an der Scheure« und 6 »durchfahrenden« Toren (als 2 an der Einfahrt, 3 an der Scheuren und 1 am Brauhaus, jedes weit 11 ß, hoch in mitten 12 ß, dick 15 ß), sowie »2 Bogen an der Beschließungsmauern jegen den Deichen, so 1608 verfertigt ist«. In den ersten 16 Wochen des Jahres 1608 waren zum Bau ausgegeben 2043 Gulden 15 Albus 5 Heller, in

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[15  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) An dem Hofe Fahre an der Fulda bei Melsungen ging die alte Straße von Köln nach Thüringen vorüber; der übergang geschah durch eine Fähre.}

den ersten 32 Wochen (bis zum 1. Oktober) 3651 Gulden 15 Alb. 3 H. Dafür waren verfertigt die neue Scheune und der Marstall, im Entstehen waren der Eckbau am Marstall, das Pfort-, Wach- und Brauhaus; der Platz war bereits zur Hälfte gepflastert. In einer »Ausmessung« von 1609 hören wir von einer langen Mauer vom »Türmlein über dem Grund« bis an das andre Türmlein beim Steinfelsen außerhalb des Lusthausbaues, weiter von einer »Mauer über den Deichen am Scheurenbau bis an den Schweinhof«, von einem Kanzleibau usf. Die genaue Lage der einzelnen Gebäude läßt sich hiernach nicht bestimmen, doch die Beschreibung Winkelmanns (1697) gibt uns ein ungefähres Bild, und ebenso können wir uns aus einem gleichfalls noch zu erwähnenden Weißensteiner Schloßinventar vom Jahr 1765 diesen im Bild nicht erhaltenen Bau rekonstruieren, den dann Landgraf Friedrich II. weiter ausbaute.

Noch einiges über die Handwerksarbeiten. Am 1. Juli 1609 quittierte der Steinmetz Christoph Dimner über 50 Gulden 6 Albus, die er abermalen auf dem Herrenbau und somit über 330 Gulden, die er auf siebenmal von dem fürstlichen Gartenvogt und Rentschreiber Hans Eyffland zu Weißenstein empfangen hatte. Die Steine wurden zu Wolfsanger und bei Grifte gebrochen, zum größten Teil aber waren es Balhornische Steine, die der Steinmetz Meister Kilian »Zum Sande« (aus Sand) aus dem dortigen Steinbruch lieferte; in der Rechnung eines Schmiedes über die »für Erbrechung der Steine, so nach Weißenstein geführt« gelieferten Werkzeuge finden sich u.a. 20 neue Steinkeile und 96 Steinkeile, die – das Stück zu 3 Pfg. – geschweißt worden waren. Im September und Oktober 1609 wurden Wackensteine von Grifte aus nach der Schlagd bei Kassel geflößt. Auch viel Schlosserarbeit wurde durch Martin Kleinschmidt verfertigt. Der Ofenmacher Mattheus Harnisch setzte, z.T. wohl nur für Bauzwecke, Öfen »uf die obriste stuben, im andern gemach, im unter gemach, im andern gemach unten, unten im Gesindesahl, in der Meurerstuben, uff der Canzley, noch einen offen uf der Canzley, in der unter pfortstube, in die Backstube«. Durch den Ziegler zur Fahra{*)} wurden 1609 3000 Schildziegel verfertigt und »wohlgebrannt«, die der Hofdecker-Meister Joist Deussingk dort abholen ließ. Im Ellenbacher Wald im Amte Rotenburg

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[16  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) 1751 wurde eine neue Uhr auf das Schloß gesetzt; 1791 wurde der Turm dieses alten Schlosses mitsamt der Uhr auf dem Marstall angebracht.}

und ebenso im Riedforst und Spangenberger Forst wurden große Quantitäten Eichenstämme geschnitten; das Holz wurde von den durch die Landknechte hierzu befohlenen Untertanen im Beisein des Försters aufgeladen und durch die Beiseförther Flößer auf der Fulda zur Neuen Mühle bei Kassel verflößt. Tannendielen aus Schmalkalden wurden von »Alten Borschen« (Altenburschla) aus die Werra hinabgeflößt. Lattenreißer Martin Dinckel zu Körle lieferte 1100 Latten. Im Mai 1609 wurden für Holz, das aus dem Ried- und Spangenberger Forst sowie aus Körle auf 45 Wagen an die Fulda geschafft war, 50 Gulden 5 Albus, für weitere 66 fuhren 118 Gulden 13 Albus an Fuhr- und Flößerlohn gezahlt. Andres Wenzell von Eiterhagen lieferte Raufen zum Marstallbau, Franz Becker zu Großalmerode für den Hof‌fenstermacher Hans Stebell 12 000 Scheiben, jedes Hundert zu 8 Albus, und 40 Schaub Tafelglas zu je 5 ½ Albus. Im April 1609 setzte Stebell die Fenster in den Jägerbau. Meister Claus Hutter, der Steinsetzer, pflasterte den neuen Fahrweg zu Weißenstein und den Platz vor Jägerei und Marstall. Aus den Rechnungen des Kasseler Bürgers und Uhrmachers Hans Grießbeudel über Arbeiten an der Uhr zu Weißenstein (1606–1610) ergibt sich, daß er die Uhr sowohl 1606 (vermutlich von der Kapelle oder einem andern Gebäude des alten Klosters) als auch 1609 »abgebrochen und uff ein ander stelle gesetzet« hat.{*)}

Daß an dem Bau zahlreiche Arbeiter, Männer und Frauen, beschäftigt waren, zeigen die Patientenlisten des fürstlichen Wundarztes David Blanck, der allein im Jahre 1609 in 77 Fällen Maurer oder Zimmerleute behandelte, die zu Weißenstein, in den Steinbrüchen oder an der neuen Mühle, wo das Material zum Weißensteiner Bau angeflößt wurde, verunglückt waren. Vielfach handelte es sich um Axtverletzungen; so hatte sich am 7. April einer mit einer Picke ins Knie gehauen; am 13. Mai wurde Hans Mansfeldt aus Niederzwehren zu Weißenstein »vnversehens mit einer Bickenn durch das maull gehauwen«; am 18. Juni wurde Anna Stein »mit einer Bicken vor ein aug gehauwen«. Gleichfalls am 7. April schlug ein Haspel mit Ziegeln, der auf den Eckbau gezogen wurde, herum und zerquetschte einem Beteiligten die Hand; auch fiel einem Maurer ein Stein von der Mauer auf den Fuß, wobei sich das Fleisch vom Knöchel ablöste. Am 8. April

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[17  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{4) 1618 wurde ein »rörengießer Gottfriedt Köler von Cassell« in das Kasseler Bürgerbuch aufgenommen (Gundlach, Das Kasseler Bürgerbuch, S. 48). Die älteste der im 30jährigen Krieg neugegossenen Glocken der Kirche zu Trainfeld im Vogelsberg trägt die Inschrift: »Gotfried Köhler zu Cassel gos mich ... Anno 1627«. Unter Landgraf Karl war ein Stückgießer Jost Henrich Köhler (Kohler) beim Kaskadenbau beschäftigt, während ein Graveur Pomponius Kohler die Medaille von 1714 prägte.}

{*) Reitz = Heinrich, Henricus.}

wurde zu Weißenstein in der Steinkaute »ein Stück eingeschossen«, wodurch einem Arbeiter eine große Wunde am Kopf verursacht »wie auch die Hirnschale geknickt und gebogen« wurde.

Der Lohn war nicht sonderlich hoch. Im Juni 1609 stellten vier teils männliche, teils weibliche Kalkarbeiter dem Landgrafen in einem Bittgesuch vor, daß sie als ohnehin arme Eheleute, von denen ein Teil gebrechliche Kinder habe, in dieser jetzt geschwinden Zeit sich und ihre Kinderlein mit den 15 Albus Wochenlohn nicht zu erhalten wüßten, und baten ihn, ein christliches Mitleid und Erbarmen zu haben und ihnen eine Zusteuer zu tun, damit sie desto emsiger und fleißiger in ihrer kleinen, doch getreuen Arbeit bleiben könnten.

Im Schloßhof wurde ein neuer Kumpfbrunnen errichtet, zu dem Meister Kilian Adler zu Sand Balhornische Steine lieferte; bereits am 13. Mai erhielt er sechs Gulden auf Abschlag, etwas später für 39 Stück Balhornische Steine, die er für den Brunnen brach, 49 Gulden. Für eben diesen Brunnen hatte Andres Wenzell zu Eiterhagen 50 Buchenröhren gehauen; Anfang Juni 1609 wurden auf fünf Wagen hölzerne Röhren von Eiterhagen nach Weißenstein gefahren. Röhrengießer Christoph Koler{4)} lieferte einen messingernen Einschliff in den Kumpf und die neuen Bleiröhren unter den Brunnen. Auch vom Brauhaus aus wurden neue Röhren bis in den Kumpf gelegt.

Das alte Kloster hatte zweifellos Fischteiche besessen wie die meisten Klöster; wurde doch durch die vorgeschriebenen Fasten der Fleischgenuß beschränkt und so durch den Wunsch nach Abwechslung der Nahrungsbedarf an Fischen gesteigert. Moritz brauchte also diese Teiche wohl nur zu erweitern und zu vermehren, jedenfalls ließ er durch drei Teichmeister in der Nähe des Schlosses eine ganze Anzahl von Teichen anlegen. Im Juni 1609 wurden z.B. den Teichmeistern zehn große Wallspaten geliefert; Volckmann Roleder und seine Gehilfen machten zu den Teichdämmen 700 Wasserpfähle, jeden sieben Schuh lang, die beim Hessenhagen geladen und nach Weißenstein geschafft wurden. Brucken Hans hieb im Eichenberge (bei Melsungen) sieben Eichenstämme zu Teichröhren. Zwei Teichgräber, Peter und Reitz{*)} arbeiteten an den beiden Flügeln »im obersten Deich«. Der erste Flügel nach dem Walde hin war 99 Schuh lang und 12 Schuh hoch, der andre Flügel lag bei der Schmiede. Über ihre Lage ist

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[18–19  Kloster Weißenstein. 1143–1526]

{*) Die Randnotizen sind Petit gesetzt.}

{**) Weißenstein wurde also gewissermaßen zur Filiale des im Reinhardswald gelegenen 1490 begründeten Gestüts zu Sababurg (Zapfenburg), dessen Pferde in dem etwa 14 km entfernt liegenden Grebenstein überwintert wurden. 1614 befanden sich tatsächlich die Stutfohlen von Sababurg in der Sichelbach auf dem Habichtswald. (Vgl. Miecklen, Geschichte d. Kgl. Hauptgestüts Beberbeck u. seiner Zucht. Berlin 1905. Seite 17.) Dort findet sich heute noch der Name Fohlen- oder Füllenweide.}

[19]

{*) Ladeplatz an der Fulda in Kassel.}

{**) Türmlein.}



[18–19]

nichts zu entnehmen; 1767 gab es etwa da, wo heute der Lac an den Weißensteinflügel heranreicht, noch drei Fischteiche.

Viel können wir mit all diesen Zahlen in Ermangelung eines Situationsplanes nicht anfangen; immerhin zeigen sie, daß das Schloß mehr darstellte als ein kleines Landhaus.

Außer den Belegen zu den Baurechnungen sind uns noch verschiedene Bauanschläge aus den Jahren 1612–1617 erhalten, in denen wir auch von der vielgenannten Grotte erfahren, die Landgraf Moritz seit 1615 anlegen ließ. Sie seien hier mit den Randnotizen{*)} von der Hand des Landgrafen wiedergegeben.

1612   notwendig: zu Weißenstein:
      den Herrenbau auszubauen      1000 fl.
      Mühl / forsterhaus und Jägerei / neu garten maur
      ist verschoben.

1613   die Deiche      900 fl.      ist verschoben.

1614   Neue deich under der Mühlen /
      Försterhaus und jagerei      konnen warten.

      den 20 jan. hatt der stallmeister befohlen nachdem die Grebensteinischen füllen zum Weißenstein sollen hinfüro außgewindert werden, so muß hirzu diesen früling die stallung, der heuboden, eine futercammer und eine wonung vor den füllenhirt gemacht und angeordnet werden.{**)}

(Verfügung des Landgrafen vom 23. Juli 1615): ... da mit der angefangene deichbau zu Weißenstein nicht gehindert, sondern befordert werde, so sollen unsere bauverwalter bei unser rentcammer fernern verlag hirzu zu wege bringen.

      25. Jan. 1615. Weißenstein:

  1. Der Graben, so das abfallende Möhlenwasser auswendig des Zauns abführen soll, ist verfertigt.      factum. [19]
  2. Die neue Deiche stehen zu u.g.f. und herrn fernerer besichtigung und erclerung.      factum.
  3. die Grotta soll mit abriß gemacht und zu ihr f.g. lusten zu gereicht werden, kostet 199 fl. 2 alb. 6 h.      factum.

      für den bau Weißenstein muß uff oculi 1615 vom Kammerschreiber beschafft werden      100 fl.

24. Jan. 1616.
      Grota zu Weißenstein: soll nicht allein der Zirat inwendig in der Grotte verferttiget, sondern auch das vergangenen herbst inventirte heckenwerck mit vleiß angelegt, gebunden und verfertigt werden.      factum.
      Die Grotte zu Weißenstein.      soll mitt Zirath undt garten oder heckenwerck gemacht werden.      Anlangend dieselbige zu henken und zu ziren, will vonnöten sein, ein achtel ruden gibsstein, kostet zu brechen die rude 5 fl., thut das achtel      17 alb. 9 h.
     Schiff‌lohn von vorgedachten gibsstein uff die Schlacht{*)} zu führen, thut      5 fl. 2 alb.
     den gibs klein zu stoßen thut      1 fl. 10 alb.
      zue sieben ohne das holz angeschlagen thut      2 fl.
      summa des gibses tut      9 fl. 3 alb. 9 h.
      Macherlohn in vorgedachte grotten inwendig wie angeschlagen zu behenken, zu boßiren mit allerhandt ohngezifer und mit Ertz sampt Schmidtwergk und Leinolen wil beylaufftig kosten      157 fl.
      Summa die Grotten anzufertigen, so ferne i.f.g. hiermit zufriden, doch deroselbigen ohnvorgegriffen.      171 fl. 3 alb. 9 h.

      17. April 1617      für den Weißenstein vorangeschlagen      68 fl.

      1617 Weißenstein

  1. Die neue genge vor der Grotten mit thuren schloßhafftig zu machen,
  2. die turnlin{**)} uff den ecken oben mit eisern drahtgezeimsen zu vogelbauren zuzurichten,
  3. ein deichlin under den andern deich anzurichten, daraus man wasser zum kochen kann holen,
  4. knopff oben uff die Hutten zu machen.      
    seindt geringe stücke, werden gemachet \
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[20  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

Sehen wir nun, wie Winkelmann etwa 80 Jahre später (1697) diese Grotte beschreibt. »Vom Wald und unter dem Lustgarten heraus,« heißt es da »lagen viel stattliche Fisch-Teiche, wie auch einer im Walde, dabei eine sehr lustige Grotta gebaut, mit einem Springbrunnen und allerhand mineralischen Sachen geziert; oben auf ist eine Altane und auf beiden Seiten mit geschweiften hohen Mauern und Bildwerken, welches aber alles, wie auch die schönen Portale von lebendigem Heckwerk um den Teich her, in dem leidigen Kriegswesen sehr verderbt worden.« Und der Hofprediger Johann Crocius sagt 1632 in seiner lateinischen Hauptgedächtnisrede auf den verstorbenen Landgrafen: »Der ganze Weißenstein preist dich als Schöpfer und nimmt am Hang des nahen Berges dank deiner wohltätigen Kunst die Gäste in einer prächtigen, von kristallenem Quell durchrieselten Grotte auf.«

Dem neuen Schlosse gab Moritz den Namen »Mauritiolum Leucopetraeum«, Moritzheim am weißen Stein. Hierher zog er sich in unruhvollen Zeiten zurück, und hier entstanden auch zahlreiche Erzeugnisse seiner Muse. Eins dieser Gedichte, in dem er sein Tuskulum besingt, ließ er an dem viereckten Brunnen einmeißeln, der am Eingang zum linken Flügel stand. Die Inschrift schilderte in wenigen Zeilen, was ihm seine Villa Mauritiana bedeutete:

      Urbs habeat curas, qui me mihi reddit agellus
      Exigit ingenuis gaudia mixta jocis.
      Hortule, fac placeas, fac hortule dulcis inemptas
      Ut fundat domino libera mensa dapes,

in freier Übertragung:

      Mag für sich die Stadt nun sorgen,
      Hier mein Gut schenkt mich mir wieder
      Und verlangt an jedem Morgen
      Edle Lust und frohe Lieder.

      Und nun sorge, trauter Garten,
      Daß der Tisch, an dem ich zeche,
      Ohne auf den Lohn zu warten,
      Von der Last der Speisen breche.

Hier oben pflegte er auch seine Jagdgenossen zu traktieren. Zur Zeit des großen Krieges freilich war die Wildfuhr stark verödet, denn die Tillyschen Truppen, die in Niederhessen mehrere Jahre hindurch ihre Quartiere genommen hatten, hatten die Wälder gründlich gelichtet. In den späteren Jahren des Krieges wurde es noch schlimmer, denn die Not drängte Edelmann, Bürger und Bauer und selbst die Forstdiener zum Wilddiebstahle. Um dem zu steuern, erneuerte man die alten Verordnungen, nach denen der Wilddiebstahl mit dem Strange

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[21  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) Das älteste Braunkohlenbergwerk des Habichtswaldes, der sog. Erbstollen, war 1580 durch Landgraf Wilhelm IV. angelegt worden, der zugleich eine Glashütte aufrichtete, um bei deren Betrieb die Kohlen zu benutzen.}

bedroht wurde, eine Drohung, die freilich nur selten verwirklicht wurde, da man es immer mehr zu fühlen schien, daß das Leben eines Menschen denn doch höher zu bewerten sei, als das eines Hirsches.

Im untersten großen Speisesaal des Schlosses wurde vom Prediger aus Kirchditmold öffentlicher Gottesdienst abgehalten, jedoch ohne Predigt. Er bestand jährlich während des Sommers in drei bis vier Betstunden. Weil die Bewohner, außer einigen Knechten und Mägden, die zum Vorwerk gebraucht wurden, nur aus drei Familien bestanden, mußte die erwachsene Jugend beiderlei Geschlechts aus dem gesamten Kirchspiel Weißenstein diesem Gottesdienst beiwohnen und sich daselbst öffentlich katechisieren lassen. Jedesmal, wenn bei mutmaßlich guter Witterung der Gottesdienst gehalten werden sollte, wurde in Kirchditmold nach der Predigt von der Kanzel aus angekündigt, daß sich die gesamte Jugend zu Weißenstein nachmittags gegen 1–2 Uhr zur Katechisation einzufinden habe.

Eine Reihe von Erlassen des Landgrafen Moritz sind aus Weißenstein datiert. Hier faßte er auch am 16. Oktober 1625 in einem in Gegenwart seiner drei ältesten Söhne gehaltenen geheimen Rate den wichtigen Beschluß, die Landmiliz wieder herzustellen. Der Hauptnutzen dieser Landmiliz, zu deren Speisung und Unterhalt die meisten niederhessischen Städte eine freiwillige Zusage erteilten, bestand in dem Schutze gegen streifende Banden.

Die Landesbibliothek zu Kassel bewahrt in drei großen Mappen eigenhändige Federzeichnungen des Landgrafen Moritz, der eine besondere Neigung für die Architektur hegte und überall in Hessen verfallene Schlösser und. Höfe wieder herstellen ließ. Sie enthalten eine Unmenge von meist aus der Vogelperspektive gezeichneten Projekten, darunter auch den flüchtigen Entwurf zu einem Mauritiolum. Hier handelt es sich jedoch um den Entwurf eines zu Waldau, einem an der Nürnberger Straße vor Kassel gelegenen Dorfe, geplanten Baues. Sonst finden wir unter diesen Blättern noch einen von Moritz gezeichneten »Abriß des Bergkschreibers-, Stengers- und anderer arbeytter wohnung uffm Habichtswaldt wie dis den 21ten Aprilis Anno 1615 befunden worden.«{*)} \

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[22–23  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) Dr. jur. Wolfgang Günther, Syndikus der Stadt Paderborn, war 1604 während der dortigen Religionswirren nur durch die Flucht der Hinrichtung entgangen. Nachdem ihn Landgraf Moritz 1623 zu seinem Rat und Generalaudienzierer ernannt hatte, gewann er einen großen Einfluß auf diesen und war beim Kaiser wie bei der hessischen Ritterschaft gleich verhaßt. Nach der Abdankung des Landgrafen wurde er trotz dessen heftigem Protest nach harter Folterung am 12. Dezember 1628 zu Ziegenhain mit dem Schwerte hingerichtet. Näheres über ihn bringt Grotefend im »Hessenland« 1898, S. 226f.}

{5) über den Kapitän und späteren Amtmann von Sababurg Amelunxen siehe auch Falckenheiner, Geschichte Hessischer Städte und Stifter II. S. 322, Anm. 3.}

{**) Einen großen Fischteich bei dem Mönchehof hatte schon Landgraf Philipp 1527 »von neuem« aufbauen lassen (Congeries).}

{***) Die feste unter Moritz erbaute Mauer, die wir nach Süden hin feststellen können, umgab also nicht die ganze Anlage mit Schloß.}

Etwa seit 1617 war Nikolaus Gerwig Vogt zu Weißenstein; und noch 1650, als die Gemeinde Niederzwehren die zu dem »Weißensteiner Hause« hergebrachte Hutensgerechtigkeit in der Dönche streitig machte, womit sie abschlägig beschieden wurde, finden wir ihn in dem betreffenden Protokoll als Obervogt zu Weißenstein bezeichnet. Der Landgraf hatte dem Vogt auch den Weinschank vergönnt, »dessen er sich jederzeit beflissen«. Ob dieser Weinschank lediglich den Bedürfnissen des Hofes diente, oder ob auch damals schon die Bewohner des Fuldatales wie noch heute sonntäglich hinaufpilgerten und dort oben Atzung hielten, läßt sich leider nicht mehr feststellen.

Diesen Nikolaus Gerwig hätten die Stürme des dreißigjährigen Krieges fast von seinem Posten geweht. Denn im Jahre 1625 beauftragte Landgraf Moritz seinen Generalaudienzierer Wolfgang Günther{*)} mit einer strengen Untersuchung gegen den Weißensteiner Vogt sowohl wie gegen den Amtmann von Sababurg, Georg Amelunxen,{5)} wegen Verwüstung des fürstlichen Hauses Weißenstein. Es handelte sich dabei namentlich um den Verfall des Zaunes, der Teiche und der Grotte. Es gehörten zum Weißenstein 13 Teiche, aus denen lediglich der Teichmeister und der Hof‌fischer Fische entnehmen durften und aus denen auch die fürstlichen Teiche zu Besse, Mönchehof{**)} und Wolfhagen besetzt wurden. Gleich diesen Teichen war auch der in den Jahren 1611/12 mit einem Kostenaufwand von 295 Gulden 23 Albus 9 Hellern aus 8700 Zaunpfählen hergerichtete Plankenzaun verwüstet worden.{***)} Er war allerdings schon vor dem Einbruch der Tillyschen Scharen baufällig. Im Jahre 1622 hatte der Vogt den Landgrafen in einer Eingabe darauf hingewiesen, daß der Zaun »um’s Haus und Hagen« durch eine Mauer ersetzt werden müsse, Moritz aber [23] schrieb an den Rand dieser Eingabe, die Mauer könne er dies Jahr vor Krieg und Teuerung nicht machen. Im nächsten Jahre drang Gerwig von neuem darauf, daß an Stelle des Zaunes eine Mauer errichtet werden müsse, erhielt aber den Bescheid, er solle sich auf eine Reparatur des Zaunes beschränken. Im darauf‌folgenden Jahre teilte dann Gerwig mit, der Zaun sei von den Soldaten verbrannt, und fragte an, ob statt dessen ein neuer Zaun errichtet werden solle. »So mag man sich in Flicken und Bessern dieses Jahr behelfen,« lautete die Antwort des Landgrafen, und Gerwig schickte sich an, Hecken anzupflanzen. Dieser Tatbestand mußte dem Fürsten entfallen sein, jedenfalls ließ er, entrüstet über den Verfall seines Lieblingssitzes, dem Vogt den Prozeß machen. Inzwischen sollte die Rentkammer einen neuen Vogt in Vorschlag bringen, der imstande war, die geforderte Realkaution von 1000 Reichstalern zu zahlen. Es fand sich aber nur ein einziger Bewerber zur Zahlung dieser hohen Summe bereit, nämlich der gewesene Apotheker Tobias Diederich aus Fritzlar, der um seiner Religion willen von dort hatte weichen müssen und mit einer erwachsenen Tochter nach Kassel gekommen war; als zweiter und letzter Anwärter meldete sich der Spitalschreiber Hans Fleischhut, der aber nur 300 Taler zu bieten vermochte. Beide wurden dem Landgrafen vorgeschlagen, ohne aber dessen Billigung zu finden. Auch hatte sich mittlerweile die Sachlage zugunsten Gerwigs verschoben. Ehe wir auf Grund der Prozeßakten auf die dem Vogt zur Last gelegten Verfehlungen eingehen, müssen wir uns kurz die damalige Kriegslage in Hessen vergegenwärtigen.

Landgraf Moritz war als Mitglied der protestantischen Union zur Verteidigung seines Landes entschlossen, fand aber nicht die Zustimmung der Stände; besonders die Ritterschaft verlangte Annäherung an den Kaiser, wofür der stark unter dem Einfluß Wolfgang Günthers stehende Landgraf nicht zu haben war. So kam es, daß die Stände Tilly ins Land ließen, der 1623 von verschiedenen Seiten in Hessen durchbrach; die Truppen verdarben trotz Tillys Verbot die Früchte des Landes, plünderten, brandschatzten, raubten, mordeten und schändeten nach Herzenslust; ansehnliche Dörfer wurden zerstört und mehrere Städte besetzt. So gut es ging, suchten die Bauern sich zu rächen; so wurde 1623 auf der Landstraße des nahe bei Weißenstein gelegenen Dorfes Kirchditmold ein bayrischer Hauptmann erschossen, wofür Tilly nachträglich Genugtuung forderte. \

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[24  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

Durch das Verhalten der Stände genötigt, verließ Moritz Kassel; er zog sich auf das Bergschloß seiner Herrschaft Plesse zurück und besuchte hilfesuchend die Fürsten des nieder- und obersächsischen Kreises, zuvor hatte er seinen Sohn Wilhelm zum Generalstatthalter ernannt und ihm zwei Geheime Räte, Episcopius (Bischoff) und Sixtinus nebst zwei Kriegsbefehlshabern, dem Obristen von Kassel Kurt v. Uffeln und dem Generalkriegskommissar v. Weiters, beigeordnet.

Inzwischen wurden die Einlagerungen der Truppen unter dem Übermut ihrer Befehlshaber immer lästiger. 1624 zogen 80 bis 90 Reiter vor das Weißensteiner Schloß, dessen Tore blockiert waren, und suchten den Eingang zu erzwingen. Im Schloß selbst lagen nur 20 Soldaten zur Verteidigung. Der Vogt Nikolaus Gerwig ließ unterschiedliche Male durch Soldaten bei dem Obristen v. Usseln in Kassel anfragen, wie er sich verhalten solle, erhielt aber keine Antwort. Endlich, als das »Ungesindt« sich wieder entfernt hatte, ritt Gerwig selbst nach Kassel, um sich Verhaltungsmaßregeln zu holen, erhielt aber von dem Obristen die lakonische Antwort, wenn sich etwas Weiteres ereignen sollte, möge er sich nur tapfer wehren. Während er sich in Kassel aufhielt, war Kapitän Amelunxen auf Uffelns Befehl mit einer Kompagnie nach Weißenstein gerückt, wo er sich längere Zeit aufhielt. Amelunxen war, als er dann gleichfalls für den Verfall des Weißenstein verantwortlich gemacht wurde, inzwischen Amtmann von Sababurg geworden.

Der Vogt wurde zum 19. September 1625 vorgeladen und durch zwei verordnete Kommissare, den Obristen Moritz Volprecht Riedesel und den Küchenmeister Sandmann, vernommen. Er verteidigte sich aufs beste, suchte auch in einer besonderen Exkulpationsschrift seine Unschuld darzutun. Als er auf den Weißenstein zurückgekommen sei, hätten Amelunxen und dessen Leute, berichtet er, alle »Losamenter« aufgemacht und eingenommen, darin Stroh und anderen Vorrat eingeschleppt und »ihres Gefallens gehauset«. Als er sich darüber beschwert habe, habe ihm Amelunxen geantwortet, wenn er das Haus defendieren solle, müßten ihm auch alle Losamenter offen stehen; ja, er habe dem Kapitän noch obendrein die Fruchtböden öffnen müssen. Er könne sich hierbei auf den Landgrafen Wilhelm berufen, der bald darauf »aufs Haus« gekommen wäre, item auf Kapitän Lachdorf, der dieses auf seine Bitten durch seine Soldaten hätte reparieren lassen. Den Soldaten, die die Zäune verbrannt hätten, hätte er doch für seine

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[25  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) v. Craesbeck?}

Person nicht widerstehen können. Was die Teiche betreffe, so wisse er nur, daß die Weiden darum etwas hoch gewachsen seien, und z.T. habe er sie zur Reparatur der Zäune verwandt. Amelunxen bestritt in seiner energischen und gewandten schriftlichen Selbstverteidigung (25. Dez. 1625), daß seine Soldaten das Holz verbrannt hätten; ihm sei von Landgraf Wilhelm die Besetzung und Verteidigung des Schlosses anbefohlen worden; was an Zäunen und Hecken vor sich gegangen wäre, könne er nicht sagen, da er auf mehr acht zu geben gehalten gewesen sei. Auch habe sein Nachfolger, Kapitän Lachdorf, dem er »die Tür in die Hand gegeben«, nicht das Geringste auszusetzen gehabt. Die Untersuchung nahm ihren Fortgang. Den Zeugen – unter ihnen war der Grebe von Kirchditmold ausgeblieben, weil er die Pest im Haufe hatte – wurde eine ganze Reihe von Fragen vorgelegt, die sich besonders auf den verfallenen Plankenzaun, die Grotte und die Teiche bezogen. In betreff der Teiche suchte man festzustellen, »wer der Deiche sich angenommen, und ob jemand außer dem Deichmeister und Hof‌fischer darin gefischt oder sich dessen angemaßet habe, und wie die Deiche so verderbt und in Abfall kommen wären?« Es wurde jedoch nichts erheblich Belastendes ermittelt. Dagegen erklärten verschiedene Zeugen, daß die Amelunxschen Soldaten, als sie zu Weißenstein gelegen, die Zäune weggenommen und zur Heizung gebraucht hätten; auch hätten sie den armen Leuten Schweine, Ziegen und anderes Vieh im Walde niedergeschossen und, wie der Förster zu Harleshausen aussagte, allein den Harleshäufern 11 Stück Schweine zu Weißenstein »gefressen«.

Riedesel beauftragte die Bauverwaltung, die Baugebrechen zu Weißenstein zu taxieren. Das geschah am 16. Oktober, worauf der Kammerdirektor{*)} den Vogt vor sich in die fürstliche Rentkammer fordern ließ, ihm unter ernstlichem Verweis den Dienst aufkündigte und ihm mitteilte, daß er gleich dem Amtmann zu Sababurg nach Taxation der Bauräte binnen acht Tagen den Schaden mit 300 Gulden zu erstatten habe. Der Vogt erwiderte, er hätte gehofft, der Landgraf würde ihm die Strafe in allen Gnaden erlassen, sintemal der Zaun, der 13 Jahre gestanden, vom Wetter umgeworfen und von den Soldaten verbrannt sei; da er sich aber nicht widersetzen wolle, wolle er demnächst die Strafe entrichten und einstweilen zwei Bürgen

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[26  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) Des einstigen Klosters.}

aus Kassel stellen; ohnehin habe er bei der Rentkammer an Kapital und an zweijähriger Pension noch 110 Gulden stehen. Aus seiner Verteidigungsschrift erfahren wir noch, daß der Plankenzaun, der wegen der großen Steine und alten Mauer{*)} nicht tiefer als ½ Schuh in die Erde hatte kommen können, verfault und dann z.T. wegen seiner Schwere umgefallen war, worauf ihn die Soldaten, trotzdem sie das Gehölz vor der Türe gehabt, mutwillig abrissen. Ihn, den Vogt, könne schon deshalb keine Schuld treffen, weil er in fortgesetzten Eingaben, die man auf der herrschaftlichen Baustube einsehen möge, den Landgrafen auf die Baufälligkeit des Zaunes hingewiesen habe. Dieser Umstand, verbunden mit der Einsicht, daß kein passender Ersatz zu finden war, bestimmte den Landgrafen, seinen Vogt in Gnaden aufzunehmen.

Die Untersuchungsakten über diesen Fall sind auch sonst aufschlußreich. So zeigen sie, daß Moritz in den Stallungen des Weißenstein beträchtliche Viehherden unterhielt. Auch widerlegen sie die bisherige Annahme, daß die »Moritzgrotte« während des Krieges durch den Feind zerstört wurde. Diese Grotte war schon verfallen, ehe die Tillyschen Scharen zum Weißenstein kamen. Sie unterstand der Aufsicht des Vogtes, der sie seit Jahren unter Verschluß hielt. Die Bauräte stellten 1625 bei der ihnen anbefohlenen Besichtigung fest, daß das Wasser in der Grotte durch das Gewölbe durchsickere, wodurch an etzlichen Orten die Gipsarbeit, so am Gewölbe angemachet, heruntergefallen sei. Meister Caspar Hendel machte den Vorschlag, sie von Zeit zu Zeit mit Daubsteinen auszubessern. Heckenwerk und Bogen bei der Grotte seien ganz »dörr und abständig«, was darauf zurückzuführen sei, daß es bisher an einem guten Gärtner gemangelt habe. Ferner stellte man fest, daß an der »messingen Diana« der eiserne »Flitzbogen« fehlte; als man dies der Vogtin vorhielt, erklärte diese, sie sei solches unbewußt gewesen, wolle aber für Ersatz sorgen. Auch zeigte sich, daß das »Plaster im Türmlein beim Jägerbau« sich gesenkt hatte. Die Kosten des fehlenden Plankenzaunes wurden auf die schon genannte Summe festgestellt. Schließlich wurde noch die große Baufälligkeit einer vor dem Plankenzaun gelegenen »Altaune« konstatiert; da man erst abwarten wollte, ob der Fürst ihren Wiederaufbau beschließe, wurde sie vorläufig durch Bretter vor dem Regen

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[27  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) Kapitän Lachdorf wurde schon im folgenden Jahre, 1627, in der Martinskirche beigesetzt.}

geschützt. Von Kaskaden, die nach jüngeren Beschreibungen der »Wilhelmshöhe« bis zum Schloß herabgeführt und in Landgraf Karl überhaupt erst den Plan zur Anlage seines Riesenbaues gezeitigt haben sollen, ist weder hier noch in den früheren Baurechnungen die Rede, so daß mangels irgendwelcher Belege ihre Existenz als zweifelhaft hingestellt werden muß.

Erlitten so die ersten künstlerischen Versuche, die Umgebung des Weißenstein in größerem Umfang der Wildnis zu entreißen, einen frühzeitigen Verfall, so haben sie doch späteren Zeiten den Weg zu neuen Schöpfungen gewiesen.

Zwei Jahre nach der ersten Bedrohung des Weißenstein durch die Feinde sollte dieser abermals die Schrecken des Krieges über sich ergehen lassen. Im Jahre 1626 schickte Tilly, nachdem er am dritten Pfingsttag die einst so blühende, am Zusammenfluß der Fulda und Werra gelegene Handelsstadt Münden in einen rauchenden, blutgetränkten Trümmerhaufen verwandelt hatte, einen Trompeter nach Kassel, forderte Moritz auf, kaiserliche Truppen in die Festung Kassel aufzunehmen und mehrere feste Plätze zu übergeben, und rückte dann, noch während man verhandelte, vor die Festung, ohne sich zu deren Belagerung entschließen zu können. Tatsächlich blieb Kassel denn auch die einzige Stadt in Deutschland, die in diesem großen Kriege nicht ein einziges Mal vom Feinde betreten oder erobert wurde. Wohl aber fiel mancher schöne Bau und manche Anlage in der Umgebung der Stadt der Zerstörungswut der Feinde zum Opfer. So wurde das am südweftlichen Ausläufer des Habichtswaldes gelegene Herbsthäuschen, ein kleines, von Moritz aus rohem Eichengebälk erbautes Jagdhaus, verbrannt und auch die landgräf‌lichen Herden am Weißenstein von den Soldaten geraubt. Kurz zuvor hatte man wieder einen Angriff auf das Schloß selbst versucht, in dem noch die Kompagnie des Hauptmanns Lachdorf als Besatzung lag. Sie wurde von einer starken feindlichen Abteilung überrannt und auseinandergesprengt. Als Lachdorf,{*)} der selbst nicht in Weißenstein anwesend war, hinaufeilte, um seinen Soldaten die fehlende Munition zu bringen, fand er den Weg durch Tillysche Soldaten versperrt.

Bereits im folgenden Jahre brachte Moritz dem Lande das freiwillige

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[28  Landgraf Moritz der Gelehrte. 1592–1627]

{*) Zwischen den Häusern Hessen (Brabant) und Brandenburg-Preußen (Hohenzollern) fanden im Laufe der Jahrhunderte 17 eheliche Verbindungen statt. Die erste Verschwägerung geschah bereits 1297 durch die Heirat Johanns I., Burggrafen von Nürnberg, mit Agnes, der Tochter des Landgrafen Heinrich von Hessen, des Enkels der hl. Elisabeth.}

Opfer der Thronentsagung und widmete sich bis zu seinem Tode (1632) mit erneutem Eifer wissenschaftlichen Studien, denen er Zeit seines Lebens ergeben gewesen war.

Seinen nächsten Nachfolgern lagen in dieser schweren Not der Zeit andere Dinge am Herzen als die Anlage und Erhaltung von Lustschlössern, und erst seinem Urenkel Karl, dem genialsten unter den hessischen Fürsten, war es beschieden, einen weiteren und zwar den bedeutendsten Markstein der Wilhelmshöher Schöpfungsgeschichte zu setzen. Freilich, wenn auch die Anlagen zusehends verfielen, zur Sommers- und Jagdzeit wurde der Weißenstein noch oft genug aufgesucht. Wilhelm VI., ein Enkel des Landgrafen Moritz und Schwager des großen Kurfürsten,{*)} war kein Fürst von kriegerischen Talenten, aber leidenschaftlich dem Waidwerk ergeben; er erholte sich gern von den lästigen Geschäften der Kanzlei und häuslichem Kummer auf seinem Jagdschloß zu Weißenstein, wo er auch seinen Geburtstag zu feiern pflegte. Ein Porträt seiner Gemahlin Hedwig Sophie von Brandenburg, auf dem sie mit reichem Lockenhaar und einer Perlenschnur um den Hals dargestellt ist, hängt unter den zahlreichen Bildnissen fürstlicher Personen in einem der Zimmer der Löwenburg.

An seinem Sohne Wilhelm VII. erfüllte sich das merkwürdige Geschick fast aller Erstgeborenen des hessischen Fürstenhauses, er starb (1670), ehe er selbständig die Regierung antreten konnte, auf einer Reise nach Paris. Die Trauerbotschaft traf Mutter und Braut zu Berlin bei der Hochzeitsfeier Friedrichs von Hessen-Homburg mit der älteren Prinzessin von Kurland. Wilhelms Leiche wurde von Paris nach Kassel geführt, im Schlosse zu Weißenstein öffentlich ausgestellt und dann im Erbbegräbnis zu St. Martin in Kassel beigesetzt.

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[29  Landgraf Karl. 1677–1730]

Landgraf Karl.
1677–1730.

Wilhelms Bruder und Nachfolger Karl, der zunächst sieben Jahre unter der Vormundschaft seiner Mutter Hedwig Sophie, einer Schwester des Großen Kurfürsten, stand, war wohl der genialste unter den hessischen Fürsten. Sein reger Geist nahm an allen bedeutenden Zeitereignissen den tätigsten Anteil, und seine tapferen Truppen verschafften sich in zahlreichen Schlachten auf dem europäischen Kontinent bei Freund und Feind unbestrittene Achtung. In einer mehr als fünfzigjährigen Regierung brachte er Handel und Industrie des durch die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges zerrütteten Hessenlandes zum Aufschwung, und Kunst und Wissenschaft fanden in ihm einen verständigen und opferwilligen Förderer. Als einer der ersten deutschen Fürsten öffnete er den Hugenotten sein Land, gründete 28 französische Kolonien und legte den Grund zur Kasseler Oberneustadt. Auch ihm eignete wie so manchem seiner Vorfahren und Nachfolger auf dem hessischen Thron eine leidenschaftliche Baulust; er schuf nicht nur die berühmte Karlsaue mit Orangerieschloß und Marmorbad, sondern setzte auch, wie schon gesagt wurde, den bedeutendsten Markstein der Wilhelmshöher Schöpfungsgeschichte. Das von ihm erbaute Oktogon mit der weithin sichtbaren Herkulesstatue drückt der ganzen Anlage ihr charakteristisches Gepräge auf und war der Ausgangspunkt für alles, was in großem Stil hier oben in späterer Zeit noch geschaffen wurde. Ob die Anlagen seines Urgroßvaters, des Landgrafen Moritz, auf dem Weißenstein ihn, wie behauptet wird, veranlaßten, diese in größerem Umfange wieder aufzunehmen, bleibe dahingestellt. Auch ohne diese Anregung aus der Vergangenheit konnte die imposant aufsteigende Bergwand des Habichtswaldes mit ihrem Reichtum an Wasserquellen und Steinbrüchen, ihrer Fülle an Baumaterial allerart die Baulust dieses Kunstenthusiasten auf dem Thron in verlockender Weise anregen. \

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[30  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Die alte Klosterkapelle.}

{*) Vgl. S. 20.}

Auch Landgraf Karl war ein leidenschaftlicher Jäger und besuchte auf seinen Jagdausflügen gern das von Moritz erbaute Lustschlößchen am Weißenstein, das uns der Chronist Winkelmann 1697 also beschreibt: Ein schönes lustiges Schloß auf einem Hügel, ist von drei Seiten her mit Steinen schön und herrlich auferbaut, gegen den Wald aber ganz offen. Das Schloß an sich selbst und sein mittlerer Bau ist voll schöner lustiger fürstlicher Gemächer und Säle, hat einwärts den Prospekt gegen den Wald, auswärts aber über ein sehr breites Tal gegen Kassel, welches man allda wie auch sonst noch etliche Meilen Wegs weit sehen kann. Die andern beiden Seiten sind wegen der guten Viehzucht des Orts lauter Ställe und Scheuern, auch andre zur Haushaltung gehörige Gebäude, doch alles von Stein. Auf der Südseite liegt in der hocherhobenen Ringmauer ein schöner umfangreicher Lustgarten, dabei auch ein fein steinernes Lusthaus{*)} mit einem ansehnlichen Saal, worunter, gleichwie zu Kassel, ein schönes zinnernes Bad; auf der andern Seite, sowie unten am Berge sind schöne Bäume und Küchengarten, vorm Walde aber und unter dem Lustgarten heraus viele stattliche Fischteiche, wie auch einer im Walde, dabei eine jehr lustige Grotte gebaut mit einem Springbrunnen«.{*)} ... Oben auf genanntem Habichtswalde, welcher eine sehr stattliche Wildfuhr, also daß das Wildpret haufenweise wohl am hellen lichten Tage zunächst am Hause Weißenstein sich sehen läßt, liegt ein stattliches reiches Steinkohlenbergwerk.

Auch von diesem Jagdschlößchen des Landgrafen Moritz, das etwa 1 ½ Jahrhunderte hindurch bis auf die Zeit Landgraf Friedrichs wohl ziemlich unverändert stand, ist uns leider nicht die kleinste bildliche Darstellung erhalten; mir wenigstens ist trotz jahrelangem Bemühen keine solche bekannt geworden. Die einzige Möglichkeit, es uns notdürftig zu rekonstruieren, bietet ein am 13. Januar 1696 auf Befehl des Landgrafen Karl durch den fürstlichen Rat und Hofmeister, den Oberkämmerer von Meysenbug, aufgenommenes Mobilien-Inventar des damals von Johann Gillbrecht verwalteten Weißensteiner Schlosses. Der Hauptbau bestand aus drei »Wanderungen«. Die »unterste Wanderung« enthielt des Landgrafen Gemach, den »untersten großen Saal«, Küche, Speise-, Silber- und mehrere andere Kammern.

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[31  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Elisabeth, geb. 23. Juni 1634 als Tochter Landgraf Wilhelms V., gest. 22. März 1688 zu Kassel; sie war seit 1686 Äbtissin zur Herford.}

{*) Geweihen.}

In der »zweiten Wanderung« lag das Gemach der Fürstin mit den entsprechenden Nebenräumen, dem »oberen Saal«, einem »gelben Gemach« über der Küche, »des Herrn Marschalls Logament« und wieder verschiedenen Kammern, insgesamt 15 Räume. In der »dritten Wanderung« mit insgesamt 11 wohl durchweg kleinen Räumen befanden sich u.a. zwei Altanenstuben, eine Büchsenwärterkammer, eine Trompeterkammer und »des Secretary stube«. Die vermutlich im Seitenflügel liegende »Jägerey« enthielt außer den Jägereistuben das »Frauenzimmer oder Frau Hofmeisterin Gemach«. Das »Lusthaus im Fürstlichen Garten«, die ehemalige Klosterkapelle, diente als Bad; im Vorgemach befand sich eine eiserne Pfanne mit zugehörigem messingenen Hafen zum Erwärmen des Bades; die gleich der Treppe mit Zinn bekleidete Badestube enthielt einen eisernen Ofen mit Aufsatz und Badeschemel. Der darüber gelegene Saal scheint damals nicht benutzt worden zu sein. Das Inventar zeigt, wie wenig umfangreich das Schlößchen gewesen sein muß. Es war aber einigermaßen ausgestattet und enthielt viele reich geschnitzte Möbel, 1685 aus Holland mitgebrachte Spiegel in Olivenholzrahmen, alte gewirkte Tischteppiche mit dem hessischen Wappen, Spieltische, mehrere Dutzend grün, rot und blau gestrichene Lehnschemel mit dem landgräf‌lichen Namenszug und der Zahl 1692, für den Tafelgebrauch 5 Dutzend Zinnteller mit dem hessischen Wappen, auch sonst zahlreiches Zinn-, Messing-, Kupfer- und Eisengeschirr. Vieles davon war dem alten Kasseler Landgrafenschloß entnommen und z.T. 1688 von der Prinzessin Elisabeth{*)} geerbt worden. Etwa 40 große und kleine Gemälde waren in die Haupträume verteilt und stellten meist verstorbene Mitglieder des landgräf‌lichen Hauses, aber auch andere Fürstlichkeiten, den Papst Leo ufw., dar. An den Fenstern hingen weiße Fenstervorhänge von Schlesinger Tuch. Dem Charakter des Hauses entsprechend waren vielfach Hirschköpfe mit »Gewichten«{*)} angebracht, darunter auch solche, »darauf die Gewichte fest ineinander«.

Zur Sommerszeit nahm Karl wochenlang in diesem Jagdschloß auf dem Weißenstein seine Wohnung, und selbst im Winter fuhr er zuweilen von der Stadt herauf, um hier im Kreis der Familie

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[32  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Prinz Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt weilte damals gleichzeitig mit dem Kurprinzen Friedrich von Brandenburg, dem späteren Gemahl von Karls Schwester Elisabeth Henriette, zu Besuch am landgräf‌lichen Hofe. Karl war seit 1679 mit der Prinzessin Marie Amelie von Kurland vermählt, die ihm in 38jähriger Ehe 15 Kinder gebar.}

und froher Genossen die Mahlzeit einzunehmen oder heitere Feste, bei denen auch das damals herrschende spinettartige Clavecin nicht fehlte, zu begehen. »Gegen 8 Uhr ging man zur Taffel und war aber mahl bunte Reihe, weil alle die Damens auß der Stadt auch, auf des H. Landgraffens Begehren, herauß gekommen waren,« heißt es im Reisebericht eines landgräf‌lichen Gastes. Daß es hier oben oft recht lustig zuging, zeigt mehr als lange Schilderungen die lakonische Notiz, die der junge Fürst 1687 in sein Tagebuch eintrug: »den 21. (Juli) auf dem Habichtswald einige Hirsche geschossen und zu Weißenstein gespeiset, wobei dann Etwas getrunken worden und sonderlich vor Spaß in den grünen Garten gestiegen, worauf der Prinz von Darmstadt{*)} fast fieberkrank geworden. Den 23. war der Prinz wieder ganz gesund und kam von Weißenstein wieder nach Kassel.«

Nun ist die landläufige Anschauung aller Darstellungen der Entstehung der Kaskaden die, daß die 1696 begonnene, noch in den Resten des »Alten Winterkastens« oder des »kleinen Herkules« sichtbare Anlage bald wieder liegen gelassen wurde, und daß erst nach der italienischen Reise des Landgrafen Karl der eigentliche Bau der Kaskadenanlagen begonnen wurde. Dem widersprechen aber die Akten, die eine wesentlich andere Chronologie ergeben. An und für sich könnte es gleichgültig sein, ob eine zielbewußte Arbeit an diesem Riesenwerk erst 1701 oder einige Jahre früher einsetzte. Steht es aber fest, daß dies bereits vor der italienischen Reise geschah, die dem Fürsten nachhaltige künstlerische Eindrücke verschaffte, so wäre immerhin erwiesen, daß das geniale Werk des Kaskadenbaues mehr der eigenen Initiative des Fürsten als irgendwelchen im Ausland geschauten Vorbildern seine Entstehung verdankt. Das schließt keineswegs aus, daß im einzelnen, wie es ja auch tatsächlich der Fall ist, mancherlei italienische Eindrücke später vorbildlich wirken konnten.

Um, entgegen der bisherigen Annahme, den Beweis für die Priorität einer, wenn auch später in eine andere Richtung gedrängten selbsteigenen Schöpfung Karls zu erbringen, bleibt angesichts der sonst

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[33  Landgraf Karl. 1677–1730]

fast versagenden Überlieferung nichts übrig, als aus dem trockenen Zahlenmaterial der Lohnzettel, Zahlungsbefehle, Spezifikationen usw., die die Belege zu den Ausgaben der Hofkammerrechnungen oder zu den Kabinetsrechnungen aus der Zeit vor der italienischen Reise bilden, Beginn und Fortschritt der Arbeiten auf dem Winterkasten zu rekonstruieren.

1696.

Bereits aus 1696 haben wir ein Verzeichnis über die durch Umsetzung von Schneisen bei Weißenstein entstandenen Kosten von 322 Rthlr. 1 Albus 6 Hellern, die aus den Lizentgeldern gezahlt wurden. Das hierzu erforderliche Holz – es wurden die hölzernen Ständer mit Latten benagelt – wurde z.T. im Reinhardswald geschnitten. Die dabei beschäftigten Soldaten erhielten täglich je 2 ⅔, die Zimmerleute je 10 ⅔ Albus. Schon am 22. Februar 1696 reichte der Zimmermann Johannes Grohn aus Immenhausen eine Rechnung über 136 Rthlr. 18 Alb. ein für den Arbeitslohn, den er samt fünf Gesellen und Dienstleuten wegen des zur Umsetzung der Weißensteiner Schneisen im Reinhardswald gefällten und zu Latten und Ständern verwandten Holzes zu fordern hatte. Ein anderer Holzschnitter schnitt von Ende Mai bis Anfang September im Habichtswald zu demselben Zweck 11 094 Schuh Ständer- und Lattenholz, wieder andere Sägeschnitter schnitten das Material zu den Schneisen aus dem herrschaftlichen Gehölz hinter Holzhausen, ebenfalls im Reinhardswald, usf. Es handelt sich also nicht um eine, sondern um mehrere Schneisen, und wie uns die späteren Pläne zeigen, bestanden, was man noch heute, vor dem Berge stehend, erkennen kann, außer der sogenannten Herkulesschneise noch zwei andere, die hinter der heutigen Plutogrotte im spitzen Winkel zusammentrafen. Auf einem vortreff‌lichen, von H. W. von Stockhausen, Hauptmann im Regt. Garde, 1798–1800 gezeichneten großen Plan Kassels und der Umgegend heißen sie »die beiden hohen Schneisen«. Die südwestliche Schneise endete auf der höchsten Spitze des Berges, da, wo heute noch die Reste des sog. »Kleinen Winterkasten« stehen. Die Rechnungen zeigen uns, daß 1696 schon recht intensiv an dem Werk gearbeitet wurde. Nach einer weiteren »Spezification, was zu der newen Arbeit uf dem Winter-Kasten überm Weißenstein ausgezahlet worden«, zahlte der Lichtkämmerer Johann Adolf Aitinger den auf dem Winterkasten

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[34  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Als Beispiel für die bekannte, hier vielleicht der Unbeholfenheit entspringende Gleichgültigkeit der damaligen Zeit in der Namenschreibung möge erwähnt werden, daß sich auf den Lohnzetteln des Jahres 1696 ein und derselbe Wallmeister am 5. September als Conrad Vahl, am 12. September als Conrad Vael, am 26. September als Conrad Vahll unterschreibt.}

{**) Lachter heißt die bergmännische Klafter, ist aber = 2 Metern.}

arbeitenden Soldaten 1696 laut 25 Urkunden 270 Rthlr. 18 Alb. 8 Hlr. aus. Es waren von Mitte Mai bis Anfang Dezember, abgesehen von den den Holzschnittern beigegebenen Leuten, täglich durchschnittlich zwanzig Mann unter einem Wallmeister und einem Unteroffizier abkommandiert; jeder Gemeine bekam zwei, Wallmeister und Unteroffizier je vier gute Groschen täglich.{*)} Nach einer anderen Spezifikation zahlte nach den Attestaten des Generalleutrants von Schört der Kabinettssekretär von Lindern und während dessen »abwesenheit in campagne« der Lichtkämmerer Aitinger den unterm Winterkasten arbeitenden Bergleuten 1696 die Summe von 112 Rthlr. 28 Alb. 8 Hlrn. Hier müssen wir allerdings scheiden; es arbeiteten in dem »neuen Schacht« auf der Höhe des Winterkastens 4, in einem neuen Schacht über dem Dorfe Nordshausen 4 und in einem »neuen Stollen über Weißenstein« 2 aus Witzenhausen verschriebene Bergleute. Ob der Stollen über Weißenstein identisch ist mit dem noch zu erwähnenden Muschelstollen, konnte ich nicht ermitteln.

1697.

In diesem Jahr erhielten die Bergleute, »So Zu der angefangenen neuen Arbeit auf dem Winter Kasten oberhalb Weißenstein« gebraucht wurden, 199 Rthlr. 8 Alb. ausgezahlt. Aus den Belegen ist nicht zu ersehen, an welcher Stelle diese Arbeit geschah; von dem Hauptwasserlaufstollen ist erst in den Rechnungen der späteren Jahre die Rede. Nach den Lohnzetteln aus 1697 war am 23. Januar der neugetriebene Stollen bis vor Ort 13 ⅓ Lachter{**)} aufgefahren, während der zugehörige Schacht bis dahin 3 ½ Lachter tief abgeteuft war. Im Schacht arbeiteten durchschnittlich 4, im Stollen 3 Bergleute. Am 6. Februar war der Schacht 4 ¾ Lachter tief, der Stollen 14 ½ Lachter gegen den Schacht getrieben. Bis zum 20. Februar war der Stollen bis 15 Lachter aufgefahren, am 20. März hatten die Bergleute darin weitere 1 ½ Lachter »fortgelanget«, und »weile es vor Ortt sehr fest gewesen, So hat mit denen Bergkleuten unterdeßen,

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[35  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Bisher 9 Rtlr.}

{5a) Ich neige jetzt doch der Ansicht zu, daß sich die an dieser Stelle erwähnten bergmännischen Arbeiten auf das damals neu angelegte Kohlenbergwerk beziehen werden.}

{6) Das Kirchdorf Buchenau – das Schloß derer v. Buchenau wurde 1635 verbrannt – liegt im jetzigen Kreis Hünfeld und gehörte etwa zur Hälfte dem Staate, zur anderen Hälfte denen v. Warnsdorf und den Schenken zu Schweinsberg (Landau, Beschr. d. Kurf. Hessens. S. 504).}

bis uff fernere Besichtigung, von Einem Lachter das Geding uff Zehn Rthlr.{*)} gemacht werden müßen, unndt seindt also noch 3 ½ Lachter bis an den Schacht zum Durchschlag fortzufahren«. Am 15. Mai war der Schacht erreicht und der Stollen in ihm durchschlägig gemacht. Es wurde über dem Schacht ein Häuschen aufgerichtet, und die Bergarbeit wurde fortgesetzt. In den Rechnungen werden noch die den Bergleuten gelieferten Grubenholzstämme und Steinkohlen aufgeführt, sowie auf 8 Wochen durchschnittlich 16 Pfund Unschlitt »zum Geleucht«, das Pfund zu 5 Albus. {5a)}

Gleichzeitig wurde auch über der Erde emsig gearbeitet. Maurermeister Mitz erbaute bei dem sog. Hohlgraben zwei neue Kalköfen, Schubkarren und Drahtsiebe wurden geliefert, Soldaten und Handlanger mußten auf der Höhe des Berges Erde aufwerfen, Steine brechen, zusammentragen, auf- und abladen usf. Zur Bezahlung der Arbeitsleute erhielt Baumeister Hartmann Weßell im Juli und August je 100 Rthlr vom Kabinettsekretär v. Lindern ausgezahlt, und im September verfügte der Landgraf zu Friedewald 200 Rthlr. »von denen auß den verkauften Früchten einzunehmen habenden Geldern«. Das Ausgabegeld überhaupt betrug für 1697 428 Rthlr. 16 Albus.

1698.

In diesem Jahr zeigt sich eine starke Zunahme der Arbeiten und die Rechnung über das »außgabe Geldt Zue dem angefangenen neuem Bau auf dem also genandten Winter Kasten oberhalb Weißenstein in anno 1698« beläuft sich bereits auf 2743 Rthlr. 21 Albus. Davon wurden 200 Albertus- oder Burgundische Taler laut Befehl vom 18. Oktober 1698 an Lindern »von deme bei Hof im Vorraht vorhandenen Speciesgelde auß dem großen Eisernen Kasten« genommen, und Lindern hatte »das lagio davon à Zwanzig fünf Rthlr. pro Centum gerechnet« in seiner Kabinettsrechnung zu gehöriger Einnahme zu bringen. Sodann wurden 500 Taler 19 Albus 8 Heller Buchenauische{6)} Strafgelder (?) und der nach und nach einkommende Licent vom Mündischen Brühhan zur Bestreitung der Ausgaben bestimmt. \

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[36  Landgraf Karl. 1677–1730]

Daß die Maurerarbeit schon rüstig im Gange war, sehen wir daraus, daß der Maurermeister Konrad Mitz allein 487 Taler auf Abschlag der in diesem Jahr verfertigten Maurerarbeit erhielt; ferner hatte er 65 Kubikschuh Daubsteine – den Kubikschuh zu 2 Albus bedungen – zu dem »neuen Bergbaw uff dem Habichtswalde« gebrochen und angefahren, wofür er 42 Taler 16 Albus erhielt, sowie an Quadersteinen und Werkstücken »von denen harten und festen gattungen Daubsteine« 3122 Kubikschuh für 195 Taler 4 Albus gebrochen. Der Hofsteinmetz Jakob Eif‌landt quittierte für dieses Jahr über 53 Taler für Steinmetzarbeit. Die Bergleute, die hauptsächlich damit beschäftigt wurden, Grund – wohl aus dem festen Gestein – herauszugraben, erhielten von April bis Dezember 880 Taler.

Die Quadersteine und Werkstücke wurden im Daubsteinbruch in der »Drausell« (Drusel) gebrochen, der auch die Steine für das damals im Bau begriffene Kunsthaus in Kassel (»das herrschaftliche Hauß hinder der Rennbahn«) lieferte, und auf Artilleriewagen zur Höhe des Winterkastens befördert. Wenn wir sehen, daß die in diesem Jahr auf dem Winterkasten beschäftigten Dragoner 251 Rtlr. 8 Heller, die Artillerieknechte, die Steine und Kalk fuhren, 24 Rtlr. 26 Alb. 6 Hlr., die übrigen Soldaten 283 Rtlr. 10 Alb. 8 Hlr. und bei Anwesenheit des Landgrafen auf dem Weißenstein durch dessen Kammerdiener Thon nochmals 50 Rtlr. 2 Alb., zusammen also 609 Rtlr. 7 Alb. 10 Hlr. an Lohn erhielten, so erhellt auch hieraus eine bereits intensiv betriebene Arbeit an dem neuen Werk. Die Soldaten bekamen täglich zwei Mariengroschen (21 Heller) Arbeitslohn. Im August erhielt der »Trapant« Johannes Rabe 10 Taler 25 Albus für 8 Zober und 9 Maß Bier, das man den auf dem Winterkasten arbeitenden Soldaten und Marställern hatte verabfolgen lassen. Außerdem wurden Schmiede und Wagner beschäftigt sowie Handlanger, die Sand räden, Wasser pumpen und die Quadersteine auf- und abzuladen helfen mußten. Bemerkenswert ist, daß im August zwei Teichgräber mit zwei Knechten auf der Sichelbach »am Teich« arbeiteten.

Ein weiteres Zeugnis ergibt die Korrespondenz zwischen Leibniz und Papin. Papin, den Landgraf Karl 1688 als Professor der Mathematik von London nach Marburg und 1695 von dort nach Kassel berufen hatte, stand seit 1692 mit dem berühmten Philosphen in Hannover in Briefwechsel. In einem Brief vom 17. Juli 1698 schreibt Leibniz an Papin, er habe von dem sich auf der Durchreise in

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[37  Landgraf Karl. 1677–1730]

Hannover aufhaltenden Mons. de la Forest Wunderdinge erzählen hören von einem sehr hohen Wasserfall, den der Landgraf am Fuße des Gebirges zur Verschönerung (pour la faire faire des beaux effects) anbringen wolle, und er zweifele nicht daran, daß man in diesem Fall die Springbrunnen (girandoles) von Tivoli und »Frescati« übertreffen, und daß Papin bei dieser Anlage den größten Anteil haben werde. Die Bezeichnung »au pied de la montagne« kommt, da Leibniz die Örtlichkeit schwerlich vertraut war, als wesentlich nicht in Betracht.

1699.

In diesem Jahr wurden aus den dazu bestimmten Licent- und andern Geldern den Berg- und Arbeitsleuten 3132 Rtlr. 16 Alb. 6 Hlr., dem Bergrat und Oberfaktor Werner für allerhand gelieferte Materialien 167 Rtlr. 20 Alb., zusammen 3300 R. 2 Alb. 6 H. ausgezahlt. Davon erhielt der Maurermeister Konrad Mitz allein 1034 R. 6 Alb., mehrere Steinmetzen und deren Gesellen 314 R. 26 Alb. 8 H. Von Januar bis Dezember hatte Mitz für 572 R. 6 Alb. 9155 Kubikschuh Quadersteine gebrochen und geliefert, ferner erhielt er für »Fortsetzung der Maurarbeit« 260 Taler. Zwei Steinmetzen hatten laut Rechnung bis zum Februar 1699 »380 cubic schue ahn Fus Simsen, Ecksteine und Nichen gehauen.« Der Steinmetz Jakob Eif‌landt stellte folgende Rechnung für 1699 auf:

  1. Eine seiten mit einem großen Thor, und vier Nischen verfertiget, da vor ist versprochen hundertsiebenzig Rthlr.   170 r.
  2. Eine seiten von halber Höhe gemacht dar vor   85 r.
  3. vor Verenterung derer Nischen und Thor mit dem behauen und Zierung derselben thut   24 r.
                                                          Summa   279 r.

Die Zahl der Kalköfen war inzwischen vermehrt worden, denn bereits in der Mitte dieses Jahres mußte Mitz drei Kalköfen reparieren. Der Kalkführer Volkwein aus Ehlen, der an manchen Tagen vier Fuhren – die Fuhre zu 8 Albus – stellte, erhielt 1699 allein 83 Taler. Verschiedene Handlanger arbeiteten »Zu Ufsetzung derer Fellsen ahn grundt auß graben«, andere waren mit Sandausräden, beim Auf‌laden und bei Führung der Quadersteine, bei der Winde und dem Hebegeschirr beschäftigt. Die Bergleute erhielten in diesem Jahr die

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[38  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Vielleicht zur Anfertigung der Patronenhülsen.}

für die damalige Zeit bedeutende Summe von 1200 Talern 1 Albus. Es arbeiteten durchschnittlich drei Bergleute; am 29. April hatten sie z.B. »ein Stück Grundt ausgefertigt«, am 15. und 22. Juli und auch später noch wurde ihnen vom Baumeister Weßell wieder ein Stück Grundt zur Ausarbeit bedungen, ein ander Mal hatten vier Bergleute mit 10 Gehülfen »ein Stück Wegk verfertiget«. Weiter arbeiteten vier Bergleute mit 6–8 Gehülfen im Steinbruch; sie erhielten je ⅓ Taler, die Gehülfen je 7 Albus täglich. Die vom Bergrat Werner gelieferten Materialien bestanden in erheblichen Mangen Stabeisen, Zinneisen, Kernstahl »zur fürstlichen Schmiedearbeit« und in nicht minder erheblichen Quantitäten »Muhlenbley, (30 Pfd., 50 Pfd., 50 Pfd.) zu Vergießung etlicher eyßerner Anker ahn dem new ufgerichtetem felßen uf dem Winter Kasten«. Drei Buch schlechtes Schreibpapier (à 2 Alb.) und drei Pfund Pech (à 1 ½ Alb.) »den Bergleuten zu Zersprengung der Felsen«, bilden von diesem Jahr ab einen oft wiederkehrenden Posten in den Rechnungen.{*)} Den Schmiedeknechten, die das ganze Jahr über auf dem Winterkasten arbeiteten, lieferte der Kohlenbrenner Peter Mundt zu Wilhelmshausen die Holzkohlen. Von Februar bis Oktober waren acht Artillerieknechte mit drei bis vier Wagen damit beschäftigt, die Ducksteine aus der Drusel und Kalk zu fahren. Anfang 1699 reichten sie ein Gesuch beim Landgrafen ein, worin sie um Auszahlung des Lohnes baten; sie seien seit einigen Jahren in herrschaftlicher Fahrarbeit begriffen, wofür jedem täglich zwei Mariengrossehen verhandreicht worden seien, nun aber weigere man sich, ihnen solche Gelder ohne Befehl des Fürsten auszuzahlen; sie bäten daher dehmütigst und flehentlichst, der Landgraf möge »aus hochfürstl. angebohrener Clementz« verordnen, daß jedem von ihnen wie in früheren Jahren besagte zwei Mariengroschen verhandreicht würden; dieser wies seinen Kabinettsekretär an, den Supplikanten, wann sie wirklich in Arbeit ständen, auf des Obristen von Uffeln attestierte Zettel hin den Lohn gegen Quittung zu zahlen. Sie erhielten in diesem Jahr 55 R. 19 Alb. 6 H. Außerdem wurden den vom 20. Mai bis 7. Oktober auf dem Winterkasten arbeitenden Soldaten 221 R. 12 Alb. ausgezahlt. Es waren stets wechselnde Kommandos von durchschnittlich 20 Mann unter einem Sergeanten und einem Korporal abkommandiert.

Seit Juni 1699 war der Brunnenleiter Kurt Hermann Borchmann

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[39  Landgraf Karl. 1677–1730]

{7) Der von der Fulda umspülte Werder oder Werr lag dicht bei der Stadt vor dem alten Ahnaberger Tor. Unter Landgraf Philipp dem Großmütigen wurde er zu Turnier- und Ritterspielen verwandt und 1648 ein bedeutendes Feuerwerk auf ihm abgebrannt.}

u Weißenstein damit beschäftigt, »aufm Habichtswalt« einen Brunnen zu graben und Röhren zu legen. U.a. heißt es im Verzeichnis des Ausgabegelds: »29ten Aug. Zweyen Persohnen so dem brunnen leither Zu Weisenstein an dem lustwaser Graben machen und röhren aus- und einlegen helfen«. Borchmanns Rechnung vom 20. Juni lautet: »Auf Befehl des Herrn Ober bau Direktor des Herrn von Hattenbach habe ich entbenannter mit vier Gehülfen einen Brunnen zu Weißenstein im Habichts Walte welcher Zum Fürstl. lust Waßer laufet den Graben gemacht Unt drüber zu bracht alßt der Meister 8 Tage ... jet. tag 7 Alb.« usw.

Dabei befindet sich noch eine weitere Rechnung: »Ich entbenannter habe mit einem Gehülfen dem Brunnenleither zu Weisenstein im Habichs Walte ahm Lustwaßer Graben helfen machen und die eisern und hölzernen Röhren helfen aus und einlegen drüber zubracht einer 8 tage, der andre 5 tage (des Tags 6 Alb.). 29. Aug. 1699. Churt Ost. Johannes Gertz.« Im Ausgabegeld findet sich unterm 8. September der Posten: »Dem Brunnen Leither zu Weisenstein von einem Teich aufm Winter Kasten auszugraben und röhren zu legen 2 Rthlr 6 Albus.« Die Rechnung Borchmanns hierüber ist gleichfalls vorhanden: »Auf Befehl des Herrn Oberbau Direktor habe ich im habichs Walte ufm Winder Kasten einen teich außgegraben unt tiefer gemacht drüber zubracht 2 tage. Ahn fürstl. Lust waßer im Habichtswalte hin und wieder Eysern und holtzerne Röhren geleget drüber zubracht 8 tage.« (Er erhielt täglich 7 Albus, also in diesen 10 Tagen 2 Rtlr. 6 Albus.) Der Hofseiler Appold lieferte im Juli für fast 14 Taler Rüststricke und Windenseile.

1700.

Noch im Juli dieses Jahres arbeitete Borchmann mit einigen Leuten am Lustwassergraben und ließ die »Springk Wasserröhren« legen. Gleichzeitig arbeitete er an einem »Springk Waßerwerk in der neuen Hütten aufm Werra«, das vermutlich bei den bevorstehenden Vermählungsfestlichkeiten des Erbprinzen in Tätigkeit gesetzt werden sollte.{7)} Im April erhielt Maurermeister Mitz 112 Rtlr. 16 Alb. Brecherlohn für 1800 Kubikschuh Quadersteine, die (3–4) Bergleute verdienten vom 4. Januar bis 31. Dezember 1258 Rtlr., die Zeugschmiedegesellen 104 Rtlr.; der Köhler Peter Mundt von Holzhausen reichte

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[40  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Die in Kassel sehr beliebte Prinzessin starb bereits am 23. Dezember 1705.}

am 14. Juli eine Rechnung von 15 Talern ein auf Abschlag der »fürstlichen Schmedekohlen, die zur Schmiedearbeit gebraucht werden, das Holz zu brennen und die Kohlen raus zu machen.« Am 1. August hatten mehrere Holzschnitter, Gebhart Wimmel und Konsorten, 322 Schuh Holz (wohl für die Kalköfen) geschnitten. An Soldaten waren Unteroffiziere und Gemeine vom Regiment des Erbprinzen und und demjenigen des Prinzen von Homburg, etwa eine Woche hindurch, hinaufkommandiert; sie fuhren einmal 60, ein andermal 300 Karren und bekamen an Lohn 37 Rtlr. 4 Mgr.

Im Frühjahr dieses Jahres nun befand sich Landgraf Karl in Italien. Am 5. Dezember 1699 wurden auf besondern Befehl dem Kammerdiener Karls, Matthias Thon, »zue dero vorgenommenen Reise in Italien« laut dessen Quittung vorläufig bezahlt »an current Geldt 2500 Rtlr. und an Ducaten in Specie à 4 fl. das Stück gerechnet wie solche eingewechselt worden, 253 Stück (= 647 Rtlr. 21 Alb. 4 Hlr.)«, zusammen also 3174 Rtlr. 21 Albus 4 Hlr. Am selben Tage noch trat der Landgraf seine italienische Reise an, von der er am 1. April 1700 wohlbehalten wieder in seiner Residenz eintraf. Auch während dieser viermonatlichen Abwesenheit Karls nahmen die Arbeiten auf dem Winterkasten unter Leitung des Baumeisters Weßell und der Oberleitung des Oberbaumeisters, Kapitäns von Hattenbach, der wegen dieser ihm aufgetragenen Direktion des Bauwesens seit 1699 aus den Kabinettseinkünften eine jährliche Zulage von 100 Talern erhielt, ihren Fortgang.

Drei Monate nach der Heimkehr des Landgrafen aus Italien haben wir wieder einen urkundlichen Beleg für den Stand der Arbeiten auf dem Winterkasten. Am 31. Mai 1700 hatte zu Berlin die Vermählung des Erbprinzen Friedrich von Hessen, des späteren Landgrafen und Königs von Schweden, Friedrichs I., mit der Prinzessin Luise Dorothea von Brandenburg, der einzigen Tochter des Kurfürsten Friedrich III., späteren preußischen Königs Friedrich I., stattgefunden,{*)} und am 8. Juni wurde die Rückreise des Landgrafen Karl, des prinzlichen Paares und des Gefolges von Berlin nach Kassel angetreten. Der brandenburgisch-kurfürstliche Schloßhauptmann Freiherr von Printzen, der den Auftrag hatte, der jungen Prinzessin das Geleit in die neue Heimat zu geben, legte über diese Reise und die in der

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[41  Landgraf Karl. 1677–1730]

hessischen Residenz gewonnenen Eindrücke ein ausführliches Journal an. Darin heißt es: »Dienstag 6. July 1700. Nachmittag gegen 5 Uhr fuhren die Sämmptl. Fürstl. Personen nach Weißen Stein, Einem Jagt Hause, Eine Stunde von Cassell. Ich aber mußte mit des H. Landgraffen H. D. in einer chaise gantz oben aufm Berg, alwo Se. Durchl. noch einen Berg von Loniter Steinen, und auf demselben Eine espece von Eremitage wollen auf‌führen, auch große reservoirs und Cascaden bis nach Weißen Stein machen lassen, und ist dieses eine Angenehme Entreprise, weil alles lauter Fels ist und gesprenget werden muß.«

Fassen wir das Ergebnis der vorliegenden Rechnungen und zeitgenössischen Mitteilungen zusammen, so ist, meine ich, die landläufige Ansicht, Landgraf Karl habe eine, noch in den Überresten des »kleinen Winterkastens« erhaltene Kaskadenanlage bald wieder fallen lassen und sei erst während der italienischen Reise zu den eigentlichen Anlagen inspiriert worden, die dann im Jahre 1701 in Angriff genommen seien, nicht mehr zu halten. Wir haben im Gegenteil gesehen, daß man bereits in den Jahren 1696 bis 1700 planmäßig mit Arbeiten vorging, die weit über den Umfang der Anlagen hinausgingen, die man am »kleinen Winterkasten« hergestellt haben mochte. Bestechend für die bisherige, auch von Schminke 1767 geteilte Annahme ist allerdings der Umstand, daß sich an dieser Stelle der höchste Punkt des Höhenzuges befindet. Wir hören aber ferner, daß schon 1696 mehrere Schneisen auf dem Winterkasten angelegt wurden; es waren dies also zum mindesten zwei, nämlich die beiden auch später noch vorhandenen »hohen Schneisen«, deren eine auf der Höhe vor dem »kleinen Winterkasten« endete. Jedenfalls gehörte aber auch eine zwischen beiden liegende Schneise hinzu. So drängt sich die Annahme auf, daß ursprünglich die gleichzeitige Anlage von drei Kaskadenschneisen, für die auch die Tradition zu sprechen scheint, geplant war, deren mittelste dann als die noch jetzt vorhandene Kaskadenschneise wirklich mit Kaskaden ausgebaut wurde. Auch der von Leibniz 1698 an Papin gerichtete Brief zeugt dafür, daß Karl nicht erst in Italien die Anregung zu dem einzigartigen Bau bekam, und vollends das Journal des Schloßhauptmanns von Printzen bezeugt, daß im Juli 1700, also kurz nach der Rückkehr Karls aus Italien und der ihn völlig in Anspruch nehmenden Berliner Hochzeit schon ein Fortschritt der Anlagen zu sehen war, sonst hätte er seinen

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[42  Landgraf Karl. 1677–1730]

etwas bequemen Gast nicht auf die Höhe des Berges geführt. Und wäre ihm erst in Italien der Plan zu solchen Anlagen gekommen – was wir bereits auf Grund der Rechnungen widerlegt haben –, so konnte man noch nicht viel Arbeit darauf verwandt haben, zumal die Abwesenheit des Landgrafen während der Berliner Hochzeitstage, die Reise von und nach Berlin und die Zeit für die notwendig erst anzufertigenden Pläne von den seit der Rückkehr aus Italien verflossenen drei Monaten in Abzug gebracht werden müssen. Also, die Kaskadenanlage wurde bereits mehrere Jahre vor der italienischen Reise begonnen, was freilich nicht ausschließt, daß Karl später noch mannigfache, in Italien gewonnene Eindrücke verwertete.

Kehren wir noch einmal zu den Überresten der alten Anlage von 1696 zurück. Wenn man heute vom Asch auf schmalem Waldweg zum Riesenschloß aufsteigt, stößt man auf der Höhe des Berges mitten im Wald auf diesen sogenannten »kleinen Winterkasten«. In verschiedener höhenlage sieht man am östlichen Abhang des Bergsturzes zwei sechseckige, turmartige Bauten, die durch eine stumpf angesetzte wallartige Trockenmauer verbunden sind. Das Ganze besteht aus Basalttuff; vor dem nahen Basaltbruch befindet sich noch jetzt nach dem Abhang hin eine Schutthalde. Die Ecken, die teilweise Verzahnungen zeigen, sind behauen, die übrigen Teile fast ohne Mörtel als Bruchsteine vermauert. Die Rinnsale, die auch in dem künstlich ausgehöhlten Steinbruch anzutreffen sind, zeigen, zusammen mit einer ähnlichen Anlage einige Meter weiter südlich, daß hier ein Kaskadenwasserfall gedacht war. Nachgrabungen, die freilich wegen der ziemlich dicht stehenden hochstämmigen Buchen nicht leicht zu bewerkstelligen sind, würden hier zweifellos ein noch deutlicheres Bild zutage fördern. Die Annahme eines Lokalforschers, daß diese Reste aus 1696 von der jetzigen Wirtschaft neben dem Oktogon benutzt würden, ist schon deshalb irrig, weil das dort befindliche Gestein nicht aufgeschüttet, sondern anstehend ist; es ist natürliche Basaltlava, deren einzelne Stückchen, ins Wasser gelegt, nicht untersinken, sondern auf der Oberfläche schwimmen. Ihre Porosität verdankt sie den Gasen, von denen sie, als sie einst flüssig dem Glutschoß der Erde entquoll, durchzogen war.

Die in den noch zu erwähnenden Plänen Guernieros von 1706 vorgesehenen Schneisen sind, mit Ausnahme der Kaskadenschneise, nicht zur Ausführung gekommen, wohl aber sehen wir noch auf den Plänen

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[43  Landgraf Karl. 1677–1730]

von 1800 die gemeinsam mit der Herkulesschneise von der Plutogrotte aus strahlenförmig ausgehenden beiden »hohen Schneisen«, wie die nachfolgende Skizze zeigt.


Abb. 2. Die hohen Schneisen. [Oktogon | Alter Winterkasten | Die hohen Schneisen | Alter Entenfang | Plutogrotte | ^^^ Tannen. (Das übrige Gelände trägt Laubwald.)]

Sicherlich wurde die italienische Reise, wenn es auch nirgends ausdrücklich erwähnt wird, mit zu dem Zweck unternommen, neue, bei dem Bau zu verwendende Eindrücke zu sammeln. Auf jeden Fall läßt sich aus mehreren Stellen des »Diarium Italicum« mit Sicherheit vermuten, daß das in Italien Geschaute die spätere Ausgestaltung der Kaskadenanlagen beeinflußt hat.

Am 5. Dezember 1699 morgens 7 Uhr trat der Landgraf bei tiefem Schnee, kurz vor dem Ausbruch des spanischen Erbfolgekriegs seine italienische Reise an, die er mit großer Heimlichkeit, genau wie fast ein Jahrhundert nach ihm der junge Goethe, vorbereitet hatte Seine Begleitung bestand aus dem Oberhofmarschall von Kettler, dem Kammerjunker von Wartensleben, dem Leibmedikus Dr. Huxholtz, einem Kammerdiener, dem Jägerpagen von Mardenfeld, drei Lakaien und einem Mundkoch. Als Reisemarschall diente der geheime Kriegssekretär Johann Balthasar Klaute, der 1687 mit den im Solde der Venetianer in Morea gegen die Türken kämpfenden hessischen Truppen zweimal durch Italien gezogen und deshalb ziemlich orts- und sprachkundig war. Erst am Tage vor der Abreise hatte Karl dem Erbprinzen und seinem Kanzler seine Absicht mitgeteilt, und selbst Huxholtz

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[44  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Benutzt wurde von Klaute Missons 1702 zu Utrecht erschienenes Reisewerk: Voyage nouveau d’Italie. Das »Diarium Italicum« ist heute recht selten geworden.}

und von Wartensleben vermeinten noch in den ersten Tagen der Reise, es handle sich um einen Ausflug nach Schmalkalden und höchstens noch um einen Besuch beim Herzog von Meiningen. Um allen Förmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, reiste Karl unter dem Namen eines Reichsgrafen von Solms. Die abwechselnd zu Wagen, zu Pferd, zu Schiff oder auch auf Schlitten unternommene Reise war recht beschwerlich und reich an Unfällen und mißlichen Erfahrungen; dagegen sorgte Huxholtz, ein korpulenter Herr, der wegen seiner Bequemlichkeit und Ängstlichkeit und durch allerhand pikante und unfreiwillige Abenteuer die stete Lachlust des Landgrafen und der übrigen Begleiter erregte, dafür, daß eine heitere Stimmung immer wieder die Oberhand behielt.

Das Tagebuch dieser Reise, auf der auch bedeutende Ankäufe für die Kasseler Kunstsammlungen gemacht wurden, wurde vom Reisemarschall, dem Kriegssekretär Klaute, verfaßt. Dieser trug auf Befehl des Landgrafen von einem Tag und Ort zum andern alles Bemerkenswerte in seine »memoires« und Schreibtafeln ein – außer vier Schreibetafeln brachte er »bey sieben und achtzig absonderliche Schedulen angefüllet« mit ins Vaterland zurück – in der Absicht, aus diesen Notizen später eine förmliche, für den Druck bestimmte Reisebeschreibung zu bearbeiten. Bald nach der Rückkehr machte er sich auch daran, seine Tabellen und Zettel zu ordnen, wurde aber durch neue Reisen und andere zeitraubende Arbeiten an der Vollendung des Werkes immer wieder verhindert. Dieses erschien erst 22 Jahre später als »Diarium Italicum« 1722 in Folio zu Kassel im Druck.{*)} Mit keiner Silbe wird darin erwähnt, daß Landgraf Karl die ausgesprochene Absicht gehabt habe, in Italien Studien für seine Kaskadenanlagen zu machen; es wird lediglich gesagt, er habe sich von den im fast zehnjährigen, durch den Frieden von Ryswijk beendeten französischen Reichskrieg ausgestandenen »fatiguen« durch eine Gemütsveränderung »delassieren« und in seiner von Jugend auf gehegten Begierde, in fremde Lande zu reisen und seinen Neigungen für die Kuriositäten in der Architektur, Skulptur und Piktur ein Genüge tun wollen.

Bis Schmalkalden hatte man sich herrschaftlicher Chaisen und

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[45  Landgraf Karl. 1677–1730]

Pferde bedient. Nur der Landgraf behielt seine Leibchaise, in der er mit dem Oberhofmarschall fuhr, der Kammerjunker, der Leibarzt und Klaute mußten ihre drei mitgenommenen Diener nebst so viel Gerät, als ein jeder entbehren konnte, mit der einen zurückgehenden Kutsche wieder nach Kassel schicken. Weil in Schmalkalden kein Kutscher aufzutreiben war, mußte Klaute, der als Reisemarschall nicht nur die Zahlung der Reise- und Zehrungskosten und die Regulierung des Wechselgeldes zu erledigen, sondern auch für die weitere Fortkunft zu sorgen hatte, einen Leiterwagen dingen; auf diesen mit sechs guten Pferden bespannten Wagen wurden die Kisten, Geräte und Koffer aufgepackt. Dem Leibarzt wurde auf Serenissimi Bettsack der bequemste Platz eingeräumt. Schon in Augsburg mußte Karls mit grünem Samt bezogene Leibchaise der engen Spur halber geändert werden, auch waren die Räder und Achsen durch das scharfe Postjagen in den gefrorenen Wegen ruiniert worden, so daß sie bei dem Weg durch die Tiroler Alpen nicht mehr zu gebrauchen waren. Deshalb wurde die Chaise bei dem Postmeister in Füssen bis zur Rückkehr eingestellt und eine andere, auf die Tiroler Spur gerichtete Postchaise genommen. Vom Dorfe Ayterwangen aus ging es des tiefgefallenen Schnees wegen auf Holzschlitten weiter, die unten und auf den Seiten mit Brettern und Strohwischen versehen waren. In Innsbruck stiegen der Landgraf, Oberhofmarschall, Kammerjunker und der Page zu Pferd, die übrigen fuhren in Postchaisen, die jedoch auf dem Brenner ihrer Gebrechlichkeit wegen mit Schlitten vertauscht wurden. In Venedig blieb man einen Monat lang. Nachdem dann Klaute bei den Bankiers Hopfer und Bachmair die nötigen Reisegelder bis Rom abgehoben und sich von ihnen mit Kredit und Wechselbriefen hatte versehen lassen, ging es über Padua, Bologna und Ravenna nach Rom, wo man am 31. Januar anlangte. Bei Spoleto ging es am Aquädukt vorüber, den Goethe in seiner »Italienischen Reise« kritisch mit dem Oktogon vergleicht, und von Terni aus machte man einen Abstecher nach der berühmten Kaskade; man stieg auf die Höhe, und Klaute legte sich, »um den effect von diesem fameusen Wasser-Fall mit genugsamer attention zu consideriren«, längs auf den Leib und blickte schauernd in die grausige Tiefe. Zu Rom wurde auf dem Monte Pincio in einem Palazzo das zweite und dritte Stockwerk nebst Küche und Keller, Küchen- und Tafelgeschirr und neun Betten – der Landgraf führte sein eigenes mit sich – zunächst auf

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[46  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) An solchen schwindelhaften Fremdenführern war gerade um 1700 kein Mangel in Rom. Erst später machte Klaute einen tüchtigen italienischen »Antiquarius« ausfindig.}

{**) Fontäne.}

vierzehn Tage zu 60 Scudi gemietet. Am nächsten Tage begann man in Gesellschaft eines »Wurmschneiders«{*)} die Besichtigung der Stadt und besuchte zunächst den dem Herzog von Parma gehörenden, von Michel Angelo erbauten Palazzo Farnese. Unter den Sehenswürdigkeiten des Palastes wird gleich an erster Stelle verzeichnet »die statue vom Hercule auf seine Kolbe sich steurende, in mehr als lebens-größe, so aus dem bad des Kaysers Titi Vespasiani anhero bracht worden«. Die berühmten Gärten Roms mit ihrer Überfülle von großen und kleinen Fontänen, Vexierwassern, Teichen und Grotten wurden aufgesucht. Eine Menge von künstlichen Wasserwerken sah man im nahen Frascati im Garten der Villa Ludovisi. »Im Baßin unter der cascade ist eine verborgene invention, durch welche das Wasser mit einem bruit als von raqueten in die Luft geführet wird«, wie man ja auch im Garten der Villa Borghese ein Bassin gesehen hatte, »aus dessen mitte das wasser mit einem raqueten-Knallen sehr hoch in die höhe getrieben wird«. Auch die hier geschauten Vexierwasser mögen vorbildlich gewirkt haben. Unter den Wasserkünsten der Villa Aldobrandini sah man einen wasserspritzenden »Riesen-Kopff unter dem Felsen mit den armen hervorragend«. »Für allen aber ein Centaurus, welcher auf einem grün-gefärbten messingen horn einen solchen starcken laut von sich gibt, daß, wer nahe dabey stehet, die ohren zustopfen muß, gegenüber spielt ein ander bild auf 12 flutes douces. Alle diese inventiones werden durch einen unter-irdischen Wind und das Wasser also getrieben,« das von dem 5 Niglia entfernten Berge Algido hergeleitet wurde. »Wobey dann noch ein jet d’aux{**)} zu sehen, welches das Wasser bey 30 schuh hoch in die höhe wirfft.« Unschwer erkennt man hier die Vorbilder, die in verschiedenen Einzelheiten der Kaskadenanlage auf dem Winterkasten ihre Nachbildung gefunden haben. Einen überwältigenden Eindruck auf die Reisenden machten dann noch die Kaskaden des Anio zu Tivoli. »Oberhalb dieses Wasserfalles siehet man rudera von einem alten runden gebäu und colonnen, woselbst ein Tempel vom Hercule Saxano soll gestanden haben.« Unter den mancherlei Wasserkünsten in Tivoli wird auch ein durch Wasser getriebenes Orgelwerk erwähnt,

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[47  Landgraf Karl. 1677–1730]

»so zwar noch einiger massen, aber sehr schlechten Thon von sich gibt«. Am 16. Februar brachen die Reisenden nach Neapel auf, wo sie mit der Besichtigung der Stadt und der Besteigung des Vesuv sechs Tage zubrachten. Dann ging es wieder zurück nach Rom, wo man diesmal nur eine Nacht blieb; wegen der bevorstehenden Vermählung des Erbprinzen mußte die Reise beschleunigt werden. Die Berliner Vermählung jagte gleichsam wie ein die Herde antreibender Schäferhund hinter den Reisenden her, so daß man überall die Besichtigungen abkürzte oder gar unterließ. In Florenz blieb man jedoch drei Tage. Im Palazzo der Medici wird namentlich die in den einzelnen Stockwerken betonte dreifache Abstufung in der Bearbeitung des Materials – man denke an das Oktogon! – bewundert und weiterhin im Innern eine »curieuse Windel-treppe, da man von der Erden an bis auf den obersten Boden hinauf gehen kan«. In den Dominikanerklöstern wurden Essenzen und Balsam gekauft. Der Landgraf selbst erhandelte in Florenz »musaische Steine«, die, in eine Kiste verpackt, von seinem Bankier Carlo Larghi in Mailand an Hopfer und Bachmair in Venedig und von dort über Augsburg und Nürnberg an den Hofrentmeister Rumpel in Kassel geschickt wurden. Karl legte später bekanntlich selbst eine Edelsteinschleiferei in Kassel an, in der verschiedene italienische Künstler arbeiteten und in der auch im Zeitraum vieler Jahre jene berühmte musivische Tafel zur Erinnerung an den Entsatz von Rheinfels hergestellt wurde. Von Florenz ging es über Lucca und Pisa nach Livorno. Während die übrigen zur See an der Küste weiterfuhren, ritt Karl mit Wartensleben, dem Kammerdiener und Pagen auf Mauleseln über die Gebirge bis Genua, wo allerhand Seidenwaren und Samt eingekauft wurden. Von Mailand aus teilte Karl der Landgräfin mit, daß er in vierzehn Tagen in Kassel sein werde, um dann unverweilt die Reise nach Berlin anzutreten. Sein Mailänder Bankier bewirkte einen Akkord, demgemäß 18 Pferde zur Weiterreise bis Basel gestellt wurden. Über Como ging es bis zur Schweizer Grenze. Bei der Besteigung des Monte Cenero mußte man nachts die meiste Zeit mit Laternen zu Fuß wandern. Der Übergang über die Alpen war wieder äußerst beschwerlich. Dicht fielen die Schneeflocken, und die Pferde, deren Hufe nicht genügend geschärft waren, rutschten fortgesetzt aus. Der Landgraf fuhr, während die andern ritten, mit dem Oberhofmarschall zu Schlitten hinauf, »welches nur schlechte, wie Unsere Holtz-schlitten, und unten mit einem brett

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[48  Landgraf Karl. 1677–1730]

beleget sind; Auf diß fahrwerck, deren jedwedes von zwo ohngeschärfften ochsen gezogen wird, mußte ein Jeder zwar auf den rücken, jedoch das Haupt nach des einen Ochsen postpraedicamenten gekehret, und auf den schlitten vest gebunden, sich legen, und solcher gestalt rücklings den Berg hinauf fahren. Welches in der that lächerlich genug anzusehen war.« Auf dem Gotthard erwärmte man sich etwas im Kapuzinerkloster, dann ging es bergab, wobei der Leibmedikus wiederholt von seinem Rößlein in den tiefen Schnee flog; aber auch, als er steifgefroren zu Fuß weiter trabte, sank er immer wieder seitwärts in den Schnee und wurde nur mit Mühe wieder hervorgezogen. Während Karl und der Oberhofmarschall noch hinterrücks an die Schlitten gebunden blieben, ließen sich die übrigen durch einen Hufschmied spitze Stahlnägel in die Absätze schlagen. Bei jedem Schlitten mußten drei Männer mit Fußeisen an den Schuhen nebenher gehen; einer führte den davor gespannten Ochsen, die andern beiden hielten den Schlitten an Stricken fest, um das Hin- und Herfliegen zu mildern. Nachdem die Teufelsbrücke passiert war, kam man nach Altdorf, wo die Tellstatue besichtigt wurde. In Basel, wo man am 24. März anlangte, wurde Karl von den Ratsherren feierlich begrüßt. Für 50 Taler wurden zwei Barken gedungen, auf denen es bis Straßburg rheinabwärts ging. An der Kehler Schanze stieg man an Land und fuhr in zwei gemieteten Kutschen über die Rheinbrücke in Straßburg ein, dessen Münster erstiegen wurde. Nun ging es mit der Post zu Lande weiter über Frankfurt, Friedberg und Gießen nach Kirchhain. Von hier fuhr der Landgraf mit dem Oberhofmarschall und Wartensleben in einer vom General Grafen zur Lippe gebrachten bequemen Chaise in gestrecktem Galopp weiter nach Kassel, wo er am 1. April kurz vor Mitternacht eintraf. Klaute mit dem nun wieder getrösteten Leibarzt und den übrigen Reisegefährten langte am 2. April um 4 Uhr morgens wieder in der Residenz an.

Kaum war der Landgraf von den Berliner Festlichkeiten heimgekehrt, als er auch schon, wie wir sahen, zum Winterkasten hinauf‌fuhr, um sich dort über den Stand der Arbeiten zu unterrichten.

1701–1703.

Ein für die Anlagen auf dem Winterkasten höchst bedeutungsvoller Umstand führte dem Landgrafen den italienischen Baumeister Giovanni Francesco Guerniero zu, dessen Lebensumstände und ganze Persönlichkeit

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[49  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Im Kirchenbuch findet sich bei der Eintragung noch der Vermerk des Pfarrers: »Dieses ist des Baumeisters erstes Kindt, welches ich bey meiner bedienung in der Hofgemeine getauft habe.«}

auch heute noch für uns in rätselhaftes Dunkel gehüllt sind. Dr. Friedrich Noack in Rom vermutet, wie er mir mitteilte, daß Guerniero einer aus der Lombardei stammenden Familie Guarnieri angehört, von der einer im 17. Jahrhundert zu Rom Schwertfeger, ein andrer Goldschmied war. Etwa 1675 geboren, war Giovanni Franceo Guerniero (bei Noack heißt er Guarnieri) seit Anbruch des Winters 1715 bis 1716 wieder in Rom ansässig, wo er aber künstlerisch nicht mehr tätig gewesen zu sein, sondern von dem in Kassel erworbenen Gut gelebt zu haben scheint. Er war mit Klara Antonie Duper aus München verheiratet und starb in Rom, wo er auch Mitglied der Künstlergenossenschaft »Virtuosi al Panteon« war, am 19. März 1745. Soweit Noack, der der aufgefundenen Spur weiter nachgehen und hoffentlich noch nähere Einzelheiten aus Guernieros Leben finden wird. Aus dem Kirchenbuch der Hofgemeinde zu Kassel ergibt sich, daß der italienische Baumeister Guerniero am 8. Mai 1711 eine Tochter Sophia Karolina{*)} und am 2. August 1715 eine Tochter Hedwig Luise taufen ließ. Taufpaten der ersten Tochter waren die Kurfürstin von Hannover und Landgraf Karl; Patin der zweiten Tochter Prinzessin Luise von Homburg. Wann Landgraf Karl zuerst in Beziehungen zu Guerniero getreten ist, läßt sich nicht feststellen. Ich vermute, daß er ihn am 3. Februar 1700 in Rom beim Besuch der Jesuitenkirche von St. Ignatio, an der damals noch gebaut wurde, kennen gelernt hat; wenigstens wird in einem im Archiv der Jesuiten vorhandenen Verzeichnis der namhaften Künstler, die an dem 1695 begonnen Bau der neuen Kapelle von S. Ignatio gearbeitet haben, Gio. Francesco Guarnieri als einziger »stuccatore« aufgeführt. Daß Karl ihn schon von der italienischen Reise mit in die Heimat gebracht habe, ist nicht richtig, vielmehr wurde er erst später »von Rom anhero beschrieben«. Zur Herausreise waren ihm durch Wechsel 30 Dukaten übermacht; da jedoch die Reisekosten nach der vorgelegten Reiserechnung fast das doppelte, nämlich 28 ½ Dukaten mehr, ausmachten, wurden ihm auch diese zurückerstattet. Der Zahlungsbefehl, kraft dessen dem italienischen Capo Maestro Gio. Francesco Guerniero diese mehr ausgelegten 28 ½ Dukaten, jeder zu vier Gulden gerechnet, mit 76 Talern ersetzt werden sollten, wurde am 30. Juli 1701 ausgestellt; kurz vor dieser Zeit ist also Guernieros

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[50  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Ludewig Hermann Combach wurde 1671 hessischer Leibmedikus und starb im Juli 1709.}


Abb. 3. Wohnhaus Guernieros in der Entengasse zu Kassel.

Ankunft in Kassel zu datieren. Anstatt des ihm anfangs versprochenen Tisches bei Hofe wurden ihm monatlich sieben Dukaten, im Jahr somit 224 Taler, bewilligt; außerdem erhielt er vom Juli 1701 an jährlich 32, später 40 Taler Hauszins bewilligt. Seit September 1704 wohnte Guerniero nachweislich bei dem Fürstlichen Leibmedikus Dr. Combach{*)} zur Miete. Dessen in der unteren Entengasse zu Kassel gelegenes Haus wurde, wie ich einer gütigen Mitteilung des Oberbibliothekars Dr. Brunner entnehme, schon vor 1721 den Combachschen Erben von David Grandidier, dem Besitzer des Nachbarhauses, angekauft und mit diesem zu dem jetzt Rosensteinschen Haus, Entengasse 24, vereinigt.

Auch im nahen Fritzlar ist Guernieros Tätigkeit 1710 nachzuweisen. Etwa zweihundert Jahre nach dem Eingehen des S. Catharinenklosters in der Neustadt Fritzlar erstand über den Trümmern dieses untergegangenen ersten Hospitals ein andres Nonnenkloster, und zwar hatte, wie Falkenheiner in seiner Geschichte Fritzlars mitteilt, »Guarnieri, damaliger Hofbaumeister in Kassel«, den ersten Plan zu diesem von den Ursulinerinnen

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[51  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Ich halte an der vom Künstler selbst meist gebrauchten Schreibweise »Guerniero« fest.}

{*) Peter Cornelius, neben Overbeck der Führer dieser Gruppe der »Nazarener«, wohnte gegenüber in via Porta Pinciana 3. Vgl. hierüber F. Noack, Deutsches Leben in Rom 1700 bis 1900. 1907. Seite 159. Ferner Noack, Der Palazzo Guarnieri in Rom. Kölnische Zeitung vom 27. Juni 1908.}

unternommenen Neubau entworfen, war aber durch eine ihm aufgetragene Reise nach Italien, die durch seine Empfehlungen dem Kloster sehr nützlich wurde, abgehalten, die Leitung selbst zu besorgen. Das mit einer lächerlich geringen Bausumme begonnene Werk mißglückte, der schlecht geleitete Bau war so elend geraten, daß ein Teil sofort wieder abgebrochen werden mußte. Der Bau wurde dann 1714 unter Leitung Meinwolfs von neuem begonnen.

Auf seiner ersten italienischen Reise bemerkt S. L. Du Ry in einem Brief aus Rom vom Oktober 1754, daß sich »Guarniero«{*)} in Rom »von dem Geld, das er bei uns offenbar weggenommen hat«, ein großes Haus gebaut habe und dort gestorben sei. Nach derselben Quelle hatte sein 1754 verstorbener Sohn dieses Haus in eine Herberge verwandelt, in der die meisten nach Rom kommenden Engländer abzusteigen pflegten. Es war das jenes noch heute Via Porta Pinciana 37 stehende alte Künstlerhaus, der Palazzo Guarnieri, in den 1812 die Künstlergruppe der Lukasbrüder, Joh. Veit, Overbeck u.a. aus dem nahen Kloster S. Isidoro übersiedelten. Das noch heute unveränderte Haus lag am äußersten Ende des Künstlerviertels, nahe bei den Villen Ludovisi, Medici und Malta und grenzte mit seinem lauschigen Hausgärtchen an den Klostergarten von S. Isidoro,{**)} dergestalt, daß man vom ersten Stock aus geradeswegs den kleinen Hausgarten betreten konnte. Der stattliche, aber nüchterne Bau von vier Stockwerken mit einer völlig glatten Fassade hatte einen engen düstern Eingang, dessen ornamentierter steinerner Türrahmen den einzigen Zierat bildet. Das geräumige Haus erwies sich aber schon für seinen Erbauer als eine gute Spekulation; Guerniero »vermietete mehrere Stockwerke an vornehme Herren und reiche Fremde; seit 1722 füllten sich die Räume mit Principi, kaiserlichen Agenten und zahllosen englischen Lords jahraus jahrein. In jener Zeit pflegten die Fremden den ganzen Winter in Rom zuzubringen, und viele richteten sich in Mietwohnungen ihren eigenen Haushalt ein. Manchem behagte es im Palazzo Guarnieri, aus dessen Fenstern man

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[52  Landgraf Karl. 1677–1730]

über die grüne Villa Malta hinweg ganz Rom mit der Peterskuppel übersah, so sehr, daß sie öfter wiederkehrten, und die Erben des Bauherrn Guarnieri wußten nichts Besseres zu tun, als das einträgliche Geschäft des Locandiere (Zimmervermieters) fortzusetzen. Wie Noack zeigt, hat sich in diesem Palazzo Guarnieri ein außerordentlich wechselvolles Leben abgespielt. Um 1760 richteten die berühmten englischen Baumeister Gebrüder Robert und James Adam dort ihre Werkstatt ein, in der Winkelmanns Freund Clérisseau, der Stecher Cunego und Zucchi, der spätere Gatte Angelika Kauffmanns, arbeiteten. Seit dem 19. Jahrhundert wurde das Haus zu einer vorwiegend deutschen Künstlerherberge, aber in anderem Besitz, denn der letzte, 1811 gestorbene Enkel Guernieros wohnte zur Miete im dritten Stock, wo er mit seiner jungen Frau das Zimmervermieten im kleinen Stil weiterbetrieb. 1805 schuf hier der Freund Schillers, der livländische Maler Karl Graß, seine Werke, später siedelten, wie wir schon sahen, die »Klosterbrüder« in den Palazzo über; 1815 zog noch Philipp Veit ein, ihm folgte 1818 Julius Schnorr von Carolsfeld und endlich die auch durch ihre Weimarischen Beziehungen bekannte Malerin Luise Seidler, die in ihren Erinnerungen eine lebensvolle Schilderung von dem eigenartigen Künstlerleben in diesem Hause hinterlassen hat, in dem sich zu originellen Teegesellschaften auch Thorwaldsen, Karoline v. Humboldt, Dorothea Schlegel und Henriette Herz einfanden. Später wohnten in dem Hause noch u.a. der Meininger Landschaftsmaler Karl Wagner, der hessische Maler August Fuchs, der Meister des deutschen Holzschnitts, Adrian Ludwig Richter, der Tiroler Maler Joseph Anton Koch, der Kasseler Landschafter Martin v. Rohden und der lebensfrohe junge Hamburger Maler Ferdinand Flor; durch die in Flors Atelier abgehaltenen originellen Zusammenkünfte wurde der Palazzo Guarnieri in gewissem Sinne die Geburtsstätte des berühmten romantischen Treibens der deutschen Künstlerkolonie Roms. Durch Noacks Forschungen scheint es doch festzustehen, daß Guerniero sich erst nach seiner Rückkehr aus Kassel den Palazzo auf der Pinciohöhe erbaute. Sonst läge, da ja Landgraf Karl in Rom zwei Stockwerke eines Palazzo auf dem Monte Pincio bewohnte, die Vermutung nahe, daß er bei Guerniero gewohnt und so leicht dessen nähere Bekanntschaft machen konnte.

Gurlitts Annahme, Guerniero sei wohl mit Querini identisch, der das Schloß zu Herrenhausen bei Hannover errichtete, muß als hinfällig

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[53  Landgraf Karl. 1677–1730]

betrachtet werden, namentlich seitdem die Forschungen des Geh. Baurats Schuster über Querinis Leben einiges Licht gebracht haben. Der aus Venedig stammende Baudirektor und Oberst Graf Giacomo de Querini (oder Quirini) ist bereits seit 1692 in Hannover nachzuweisen. 1698 führte er den Umbau des Schlosses zu Herrenhausen aus, 1708 wurde ihm mit einem Gehalt von 2000 Talern die Direktion des Bauwesens übertragen, aber schon 1710 kehrte er nach Venedig zurück. Schuster sucht auch den Nachweis zu führen, daß Querini, der nicht die Fontänenbauten, sondern lediglich die Hochbauten ausführte, kein eigentlicher Baumeister gewesen sei, sondern nur die Oberaufsicht über das Hofbauwesen geführt habe. Schon der Umstand, daß Querini zu eben jener Zeit, in der Guerniero in eifrigster Tätigkeit auf dem Winterkasten beschäftigt war, fortgesetzt in Herrenhausen nachzuweisen ist, schließt eine Identität beider Personen aus.

Bald nach seiner Ankunft begab sich Guerniero an die Arbeit. Es ist anzunehmen, daß er sich zunächst vom Landgrafen Direktiven geben ließ, die er dann mit möglichster Berücksichtigung des bereits Vorhandenen im einzelnen selbständig ausführte. Er entwarf umfangreiche Pläne, nach deren Billigung man sofort ans Werk ging. Der zwischen dem Landgrafen und ihm geschlossene eingehende Vertrag vom 25. Oktober 1701, der sich im wesentlichen auf das Oktogon und die ihm am Abhang vorgelagerten Grotten erstreckt, ist uns in französischer und italienischer Fassung erhalten. Das in italienischer Sprache abgefaßte und von Guerniero unterschriebene Exemplar lautet in deutscher Übertragung:

»Ich Endesunterschriebener, Giov. Francesco Guarnieri, Baumeister, gebürtig aus Rom, bekenne und urkunde hiermit, daß ich es übernommen habe, das Oktogon mit seinen Zubehören, das sich oberhalb und auf dem Felsen und Berge nahe dem Schloß Weißenstein befindet, genannt der Winterkasten, auf folgende Art und unter nachstehenden Bedingungen zu vollenden.

1. Verspreche ich auf meine Kosten die Leitungen und zwar die Bleikanäle herzustellen, die für fragliche Anlage und Gebäude nötig sind und die eine Länge von 4000 Fuß und einen Geldbetrag in Reichsmünzen ausmachen von      fl. 4000

2. Außerdem vier große und fünfzehn kleine metallene Hähne, die großen zu 60, die kleinen zu 20 Talern, ungefähr ausmachend      fl. 810

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[54  Landgraf Karl. 1677–1730]

3. Das große Wasserreservoir des Oktogon mit dem Gewölbe aus Backsteinen hergestellt mit der aus Backsteinen aufgeführten Umfassungsmauer, in Stärke von ungefähr zwei Fuß, das ganze glatt gemacht und hergerichtet mit Kalk von einer neuen und derartigen Zusammensetzung, daß es dem Wasser und den Stürmen widerstehen kann, mit inbegriffen die eisernen Kanäle, die zur Speisung der Hauptfontäne und andern Einrichtungen beitragen, die von diesem Werke abhängen, gemäß dem Entwurf. Der Betrag kann sich stellen auf      fl. 3300

4. Die erste Mauer, bezeichnet A, die ganz herumführt, bekleidet mit rohen Quadersteinen mit dem Umgang darum herum aus einem solchen Material gemacht, durch das der Regen nicht eindringen kann und das Wasser die Fundamente nicht beschädigen kann.

5. Die innere Mauer, bezeichnet B, ebenfalls mit rohen Quadersteinen bekleidet, die Nischen und Fontänen vollständig hergerichtet zusammen mit der Grotte (ausgenommen die Figuren von Bildhauerarbeit) sie belaufen sich auf      fl. 13 125

6. Die Treppengewölbe zwischen den beiden Mauern vollständig aus Backsteinen      fl. 240

7. Die Stufen der bezeichneten Treppe aus Quadersteinen      fl. 532 ½

8. Das große Gewölbe, bezeichnet C, roh bearbeitet mit Pfeilern aus Backsteinen, nach innen mit rohen Quadersteinen      fl. 1800

9. Die vier großen Stufen, der große Fußboden, bezeichnet D, ganz aus Quadersteinen      fl. 1800

10. Das Pflaster der drei großen Gewölbe, bezeichnet C, aus Bildsteinen      fl. 450

11. Die große Fontäne mit dem sie umgebenden Mauerkranz, den innern Boden inmitten der großen Steine, von wo das Wasser mit ganzer Gewalt springen wird, mit D bezeichnet      fl. 300

12. Die Mauer, die von den Grotten hinabführt, mit Quadersteinen bekleidet, mit den Felssteinen in der Mitte unterhalb der vorspringenden Umgebung, mit einem Kanal, der mit der großen Fontäne in Verbindung steht, um

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[55  Landgraf Karl. 1677–1730]

das Wasser durch die genannten Felsensteine fallen zu lassen und um als Wasserfall zu dienen, mit F bezeichnet, einschließlich der beiden Stufen aus Quadersteinen      fl. 8490

13. Alles Eisen, das zu besagter Arbeit nötig ist, beläuft sich auf      fl. 3000

14. Das Terrain sowohl im Bau oben als auch bei dem Gewölbe C und der großen Fontäne D wird geebnet, tiefer gelegt oder erhöht werden, soweit es nötig ist, um fünf, sechs oder sieben Fuß. Diese ganze Erdarbeit beansprucht      fl. 600

15. Um die drei großen Gewölbe mit Blei zu decken, damit sie vor Frost und Regen geschützt seien      fl. 900

16. 3000 Bretter für die Arbeit an den Gewölben und deren Armatur      fl. 450

17. Um den großen Umkreis des Fußes des großens Felsens aus großen rohen Steinen herzustellen mit der Veränderung und Vergrößerung der Arkade      fl. 2250

dergestalt, daß sich die Endsumme auf 45 272 Gulden, etwa gleich 30 181 Talern und 20 Groschen Reichswährung beläuft.

Diese Summe ist vergleichsweise auf 29 000 Taler herabgesetzt, zahlbar in drei Jahren in entsprechenden Raten, unter der Bedingung, daß Se. Fürstl. Durchl. alle eisernen Leitungen zur Führung des Wassers bis zum großen Behälter liefern wird.

Ich, Gio. Francesco Guarnieri, verspreche die Arbeit gemäß der Vorschrift dieses Kontraktes auszuführen bis zur Führung des Wassers zur großen, mit F bezeichneten Kaskade und eine genügende Kaution zu stellen entsprechend der Summe, die ich empfangen werde. Ich verspreche auch die Arbeit der unterirdischen Leitung, die das Wasser in den großen Behälter führen soll, in 10 Fuß Höhe ungefähr im Zeitraum von drei Jahren auszuführen, anfangend im Frühling, und selbst und auf meine Kosten alle Materialien wie Kalk, Backsteine, große Steine und Holz (ausgenommen das, was zum Brennen des Kalkes dienen und das Se. Durchl. liefern wird), das Blei, die Werkzeuge, die Handwerker und Gesellen zu stellen, ohne daß Se. Durchl. verpflichtet wäre, etwas anderes zu geben als zwölf Pferde oder Maulesel mit drei Stallburschen zum Führen und zwei Hufschmieden für die Eisen, jedesmal als deren Lieferung nötig sein wird.

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[56  Landgraf Karl. 1677–1730]

Des zur Beglaubigung habe ich, Gio. Francesco Guarnieri, diesen Vertrag eigenhändig unterschrieben und mein Siegel beigefügt.

Kassel am 25. Oktober 1701.

Jo Gio: Fran°: Guerniero Mano propria


Abb. 4. Siegel und Unterschrift Guernieros unter den Vertrag von 1701. Kgl. Staatsarchiv Marburg.

Am 18. November desselben Jahres verfügte Karl von Sababurg aus, daß, da dem geschlossenen Akkord gemäß für das Jahr 1702 etwa 900 Taler erforderlich sein dürften, zu diesem Zweck die Ausbeute des Richelsdorfer Kupferbergwerks, die 1702 ungefähr 6000 Taler betragen werde, verwandt werden solle; der Rest von 3000 Talern solle aus den im künftigen Jahr einkommenden Bier- und Brühan-Lizentgeldern bestritten werden. Guerniero muß die eigentliche technische Ausführung selbst wieder in Auftrag gegeben oder wenigstens einen besonderen Bauführer gehabt haben. Wir besitzen vom 5. November 1701 einen von J. Lucan aufgestellten sehr ausführlichen »Beyläuftigen Uberschlag waß die oberhalb dem Weißenstein am Bergk ahngefangene undt annitzo zum Theil zu erbawen vorwesende drey Grotten undt fontainen, benebenst Einem Stockwerck ahn dem ahngelegten octogon nach gekrigtem modell ahn Maur undt Steinmetzen Arbeytt kosten mögten«. Danach sollte die Summe der Maurer- und Steinmetzarbeit am Oktogon mit den Gewölben 19 405 Taler 20 Albus, ferner die Erbauung der Grotten 17 532 Taler 29 Albus, das Ganze also 36 938 Taler 17 Albus kosten. Nicht mit eingerechnet waren dabei die Aufräumungskosten, die Anschaffung und Unterhaltung des Fahrzeugs und der verschiedenen Instrumente, alles benötigte Eisen, die Gerüste, die Bedeckung der Gewölbe, die Materialien zur Verkittung der Zisternen und Kaskaden und alles, was zur Wasserleitung an Eisen, Blei und Messingröhren erforderlich war.

Leider sind gerade aus den ersten Jahren der Tätigkeit Guernieros auf dem Winterkasten die Belege im einzelnen nicht erhalten. Aus

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[57  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Dem späteren Kölnischen Tor hinter dem Königsplatz in Kassel.}

{**) Ein Ortsgulden = ¼ Gulden.}

1701 besitzen wir nur noch eine Anweisung an den Kabinettsekretär Bernhard von Lindern vom 13. Oktober, dem Bergrat und Oberfaktor Werner die an den Capo maestro Johann Frantz Guerniero gelieferten 2000 Pfund Stabeisen zu bezahlen. Auch aus den drei folgenden Jahren scheinen die Hauptrechnungsbelege verloren gegangen zu sein. Im Jahre 1702 erhielt Guerniero von den verdungenen 29 000 Talern unter der Hand 7000 Taler bar ausbezahlt, außerdem 224 Taler Kostgeld und 36 Taler jährlichen Hauszinses. Sonst wissen wir nur noch, daß die Bergleute »vor ein stück berg weg zu arbeiten, so nicht in des Italiänischen Capo Maestro Contract mit begriefen ist«, 442 Taler erhielten, weiter für Arbeiten im Steinbruch auf dem Habichtswald 192 Taler, an rückständigem Lohn 448 Taler und für verdungene Arbeit am neuen Stollen bei Weißenstein im November 41 Taler. Weitere Beträge werden noch aufgeführt für die Holzfäller, für Zeugschmied, Wagner und Kohlenbrenner und schließlich die Zulagegelder für die Artillerieknechte und die Knechte aus dem fürstlichen Marstall, die zum Herbeifahren der Materialien verwandt wurden. Am 24. April 1702 erhielt das Forstamt den Befehl, sofort einhundert Buchenstämme für die Arbeit auf dem Winterkasten anzuweisen und ins freie Register zu setzen, und die Rentkammer verfügte, daß die Stämme »durch die Unterthanen morgen Dienstags frühe gefället und uf sein des Capomaestro verlangen herbey geführet werden«. Im Mai verordnete die Rentkammer auf Befehl des Landgrafen, daß aus den zum Neuen Tor{*)} hinaus gelegenen nächsten Dörfern täglich bis zu dreißig Mann zur Beförderung der Arbeit auf dem Winterkasten hergegeben wurden. Diese mußten sich früh morgens um vier Uhr einfinden und durften vor halb acht Uhr abends nicht von der Arbeit gehen, wogegen jedem von Guerniero täglich ein Ortsgulden ausgezahlt wurde.{**)} Anfang Juni erhielt dieser von dem Obristen der Artillerie, dem Baron von Uffeln, zwei Knechte mit vier Artilleriepferden und den zugehörigen zwei Stürzkarren überwiesen. Da es an Maurern mangelte, erging am 12. Juni der Befehl an die Rentkammer, acht Mann von den in oder bei Kassel arbeitenden Tiroler Maurern nachdrücklich dahin anzuweisen, sich unverweilt bei Guerniero zu melden und bei ihm gegen den üblichen

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[58  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Sonst Sobiewolsky. Er war seit 1688 Jägermeister.}

Tagelohn Maurerarbeit zu verrichten, »auch diese Unsere selbsteigene aller andern privat-arbeit« vorzusetzen. Im August erhielt Guerniero wiederum 80 Buchenstämme, jeden 27 Schuh lang und 15 Zoll dick, und zwar von dem Ober-Forst- und Jägermeister von Sobiebolsky{*)} geliefert. Im Oktober zahlte der Kammersekretär Müller aus den Kontributionsgeldern 200 Taler an Guerniero aus. Anfang Februar 1703 verabfolgte der Bauschreiber Schultze dem Capomaestro 1500 Backsteine, und im März dieses Jahres wurden auf der Eisenhütte zu Veckerhagen nach einem eingeschickten Modell 250 eiserne Röhren für die Zuleitung des Wassers gegossen. Die Untertanen hatten täglich zwölf Fuhren auf den Winterkasten zu stellen, deren Verteilung durch den Rentmeister Buch geschah. Mit der Zeit fanden sich aber nur noch vier oder fünf, höchstens sechs Fuhren ein, so daß die Maurer oder Steinmetzen wegen des hierdurch eintretenden Mangels an Bausteinen erklärten, anderwärts Arbeit suchen zu wollen. Guerniero beschwerte sich deshalb beim Landgrafen; zugleich führte er lebhafte Klage über den Ungehorsam und Unfleiß der Handlanger; denn wenn diese am Montag ihren Lohn empfangen hätten, versprächen sie zwar am folgenden Tag und die volle Woche hindurch zu arbeiten, gewöhnlich aber blieben zehn bis zwölf von ihnen »außen«. Da durch das Ausbleiben der Fuhren »viel Geld unnützlich verkittert« wurde, machte Karl im Oktober 1703 die Beamten des Landgerichts für den Verlust verantwortlich; es wurde ihnen für jede des Tags ausbleibende Fuhre zehn Reichstaler Strafe angedroht »ohne weitere examinierung, an wem der fehler hafte«, und ihnen anheimgegeben, ihren »regreß an den ohngehorsahmen Unterthanen« zu suchen. Sie wurden erneut angewiesen, täglich die Zettel über die gelieferten und die ausgebliebenen Fuhren von Guerniero einzufordern.

1704.

Außer aus den nahen Tuffsteinbrüchen wurde das Steinmaterial auch aus den Hofischen Steinbrüchen, d.i. den Brüchen bei Hof (Sand, Balhorn) gebrochen. 1704 wurden von Juni bis September von dort 1886 Stück, von Oktober bis Dezember 984 Stücke Steine von den Untertanen gefahren, die für den Stein einen halben Taler Fuhrlohn erhielten. Diese Fuhrlöhne legte Guerniero vorläufig aus und erhielt

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[59  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Also für 5806 Fuhren. Jede Fuhre beförderte einen Stein.}

{**) Reservoire.}

sie dann zurück. So wurden ihm im Oktober 1704 2903 Taler für bezahlte Steinfuhren zurückerstattet.{*)} Außerdem erhielt er 2465 Taler für die Konserven,{**)} deren Erbauung nicht in seinem Kontrakt mit inbegriffen war, und schließlich noch 9200 Taler als Rest der kontraktlich vereinbarten Gesamtsumme.

Im Juli dieses Jahres bekam Guerniero Zwistigkeiten wegen verfertigter Arbeit mit dem Röhrengießer Jost Henrich Lüdgerer. Lüdgerer beschwerte sich bei dem Landgrafen, der die Sache dem Oberst von Uffeln auf Grund des zwischen beiden schriftlich aufgesetzten Kontraktes zur Untersuchung übergab.

Auch sonst mochte Guerniero mancherlei Scherereien auf dem Winterkasten haben; es scheint, als ob die landgräf‌lichen Beamten, wie Baudirektor von Hattenbach und Baumeister Wessel, ihm die selbständige Leitung des Baus zu beschränken suchten. Jedenfalls bat er den Landgrafen in einem Schreiben, ihm unbeschränkte Vollmacht in der Leitung der Bauten zu gewähren, so daß ihm niemand etwas in den Weg legen könne und er einzig und allein dem Landgrafen unterstehe; auch möge ihm die Befugnis zustehen, mit den Steinmetzen und anderen Arbeitern Verträge abzuschließen. Daß ihm Karl in allen Stücken willfahrte, werden wir gleich sehen. Zu Ende des Jahres wandte man sich, obwohl Oktogon und Grotten noch nicht vollendet waren, der Erbauung der Kaskaden zu, über die Guerniero folgenden Kostenanschlag aufstellte:

Rechnung über die Kaskade.

  • Erstens um die Steine zu holen und sie nach Felsenart zu behauen und aufzustellen und drei Kaskaden zu bilden, nämlich eine von zwanzig Fuß Breite in der Mitte und zwei an den beiden Seiten anschließend, jede Kaskade sechs Fuß breit, architektonisch bearbeitet und in der Mitte Anlage einer großen Fontäne. Mit Rücksicht auf die ungünstige Neigung des Berges beläuft sich diese Rechnung auf      11 200
  • Ferner für die gemauerten Mauern derselben Kaskade nach Messung und genauer Berechnung      8000
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[60  Landgraf Karl. 1677–1730]

  • Die beiden acht Fuß breiten Stufen an den beiden Seiten      300
  • Für vierzig Fontänen, die in dieselbe Kaskade gehen und in beide Teile, das Setzen der Bleiröhren und der kupfernen Hähne; die große Röhre geht bis zur Mitte der Kaskade; beläuft sich nach genauer Berechnung und Messung auf      1200
  • Die Arbeit zur Befestigung der Kaskade, Steinmauer nach Felsenart behauen, mit einem großen Felsen, der eine Kaskade mit Wasserfall hat      2000
  • Um die beiden Seitenteile zu machen mit vier Fontänen und vier Nischen, die in der Mitte ein Bassin haben, und die darin befindlichen Bleiröhren, die den Fontänen das Wasser zuführen, und die kupfernen Hähne und außerdem die beiden Kaskaden an den beiden Seiten, die Felsbekleidung haben und Stufen an den Seiten und ebenso mit Fels bekleidete Gegenmauern, mit Rücksicht auf die Schwierigkeit, die Steine herabzulassen      9200
  • Nicht inbegriffen ist hierbei der Fuhrlohn für die Steine und das Ausgraben der Erde, berechnet sind allein diejenigen Dinge, zu denen ich verpflichtet bin.
  • Was den Preis des Fußes des Oktogon betrifft, so habe ich den Umfang gemessen; er ist 800 Fuß in der Runde und 33 Fuß hoch; die Ausbesserung der Mauern, die verfallen sind, ihre Bekleidung mit nach Felsenart geschnittenen Steinen, das Aufsetzen noch eines Steines auf die Höhe der Mauer, um sie vor Frost zu schützen, das Bestreichen der Fugen mit öligem Kalk, ohne Berechnung      7850
  • Was die Karren betrifft, so sind deren 15 nötig mit je vier Pferden, um der Arbeit zu genügen. Für die Unterhaltung dieser 15 Karren oder für die Männer, die sie führen, sind nötig      3000
  • Für 10 kleine Karren mit je zwei Pferden oder für die Männer, die sie führen, sind nötig      1000.«

Die Gesamtsumme von 43 750 Talern wurde dann um etwa 10 000 Taler moderiert. Auch über den Kaskadenbau wurde ein genau spezifizierter Vertrag in französischer und deutscher Sprache

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[61  Landgraf Karl. 1677–1730]

aufgesetzt; das Original des italienischen Exemplars wurde vom Generalfruchtschreiber Volmar in Verwahrung genommen, später aber dem Architekten Guerniero zugestellt. Hier der übertragene Text des französischen Konzeptes:

»Wir KARL, von Gottes Gnaden Landgraf von Hessen, Fürst von Hersfeld, Graf von Katzenelnbogen, Dietz, Ziegenhain, Nidda und Schaumburg, thun zu wissen allen, die es angeht, daß Wir, die Wir für gut befunden haben, die Werke auf der Höhe des Berges bei Weißenstein, der Winterkasten genannt, zu vollenden, mit Unserem Architekten Gio. Francesco Guernieri einig geworden sind, die genannten Bauwerke nach dem beiliegenden Plan zu errichten, wie folgt:

  1. Den Fuß des Oktogons, bezeichnet P, dessen Mauer dreißig Fuß hoch sein wird, rings herum ganz mit Felsen bekleidet, mit Nischen zur größeren Auszierung verschönt.
  2. Der andere Teil des Baues, der sich am Ende der Kaskade, bezeichnet O, befindet, in ovaler Form, wird zwei kleine Kaskaden mit zwei Stufen bis zum ersten Absatz enthalten. An den beiden Seiten werden Nischen und Fontänen vorhanden sein, in der Mitte wird sich ein mächtiger Felsen befinden, aus dem das die Kaskade bildende Wasser kommen wird, und unten wird sich ein großes Bassin befinden.
  3. Die mit A. bezeichnete Kaskade mit den vier, W. I. P. F. bezeichneten Bassins wird bis zum Anfang des Platzes herabgehen. Die Hälfte der Kaskade wird zwanzig Schuh breit und die beiden kleinen Kaskaden an beiden Seiten werden sechs Schuh (pieds chaussés) breit sein; sie werden zwei Aufstiege haben, um bis zur Höhe der ersten Kaskade hinaufgelangen zu können. Außerdem wird es vierzig kleine Fontänen geben, die sich gegenseitig das Wasser für die Kaskaden spenden.
  4. Alle diese Arbeiten werden binnen drei Jahren hergestellt und vollendet sein, beginnend am 1ten dieses Monats bis zum 1ten Oktober 1707, unweigerlich, sofern während des Sommers das Wetter nicht zu regnerisch ist und das nicht unüberwindliche Hindernisse bietet. Die Arbeit muß mit möglichster Sorgfalt und so gemacht sein, daß niemand etwas daran mit Recht aussetzen kann. \
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[62  Landgraf Karl. 1677–1730]

Für die oben näher bezeichnete Arbeit und die Mühe, die besagter Architekt dabei anwendet, versprechen Wir ihm jährlich 3000 Taler hessischer Währung zu zahlen, mithin während dieser dreier Jahre 9000 Taler. Die Auszahlung wird in der Weise geregelt sein, daß er, vom 1 ten dieses Monats ab stets nach Ablauf von vier Monaten 1000 Taler erhalten wird. Außerdem werden Wir ihm 40 Taler Hausmiete zahlen und ihm zwei Pferde stellen, die auf Unsere Kosten ernährt und unterhalten werden. Ferner erteilen Wir ihm Vollmacht und stellen seinem freien Ermessen anheim, solche Steinmetzen, Bildhauer und andere Arbeiter, die er für fähig hält, auszusuchen; er allein soll die Vollmacht haben, mit ihnen die Verträge abzuschließen und den Preis der Arbeit, die sie übernehmen, zu regeln, ohne daß sich jemand hineinmischen oder widersetzen könne.

Genannter Guerniero soll Uns unmittelbar unterstehen, wobei von seiner Geschicklichkeit erwartet wird, daß er Uns treu dient und alle Sorgfalt aufwendet, um Unsern Vorteil zu wahren, und daß die 10 bis 12 000 Taler, die Wir jährlich für die oben näher bezeichnete Arbeit bestimmen, mit möglichster Sparsamkeit verwandt werden. Er erhält außerdem die Erlaubnis, jährlich ungefähr im Oktober nach Italien zu reisen gegen das Versprechen, bei Beginn des folgenden Jahres zurückzukehren.

Zur Beglaubigung dessen haben Wir zwei gleichlautende Exemplare dieses Akkordes herstellen lassen, einen in französischer Sprache von Unserer Hand unterzeichnet und mit Unserem Siegel versehen, den anderen in italienischer Sprache und von Guernieri unterzeichnet und untersiegelt.

                                                Kassel, 1. Oktober 1704.«

In einem anderen Entwurf dieses Vertrages wird noch genauer als Datum der jedesmaligen Rückkehr Guernieros aus Italien der 1. bis 8. April festgesetzt und vereinbart, daß er die jeweilig im Oktober fälligen 1000 Reichstaler vor der Abreise ausgezahlt erhalten solle, um seine Reise und den Unterhalt während des Winters bestreiten zu können.

Wegen der erforderlichen Gespanne ließ Guerniero noch eine besondere Bilanz ausarbeiten, die dem Oberkammerrat Dehn zugeschickt

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[63  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Vom Kasselschen Getreidemaß hielt das Viertel = 16 Metzen = 2 Scheffel.}

{*) Der Zentner wurde damals noch zu 108 Pfund gerechnet.}

wurde. Es handelte sich darum, festzustellen, ob die Beförderung des Steinmaterials durch eigene Geschirre oder durch die Dienstfuhren der Untertanen vorteilhafter sei. Über die Kosten der Dienstfuhren ließ Guerniero zunächst folgenden Überschlag aufstellen:

      »Jeder Bauer fährt mit einem Wagen in 4 Winter Monahten täglich zwey und in den übrigen 8 Monahten täglich 3 mahl thut wenn 52 tage vom Jahre wegen der Sonntäge abgezogen werden von 104 tagen in 4 Winter Mont. à 2 Fuhren      208
      von 208 tagen in übrigen Sommer Mohn[a]ten und täglich zu drei fuhren thut      624
      Summa waß ein Bawr jährlich fährt      832
      und 12 Bauren jährlich      9984
      Jede Fuhre wird zahlt mit 16 alb. und thun 9984 Fuhren, so jährlich geschehen      4992 R.«

Ein zweiter Anschlag berechnet die Kosten eines Wagens mit Leitern darauf, Reitsattel, Zäumen, Zugstricken, Aufhaltstricken, Halftern und Peitsche auf 23 Taler 5 Albus, dazu vier Pferde zu 200 Talern, zusammen also 223 Taler 5 Albus, was für 12 Wagen 2677 Taler 28 Albus ergeben würde. Der dritte Überschlag stellt die für Pferde und Knechte notwendigen Unterhaltungkosten fest:

      »Jedes Pferd hat tägl. 1 Metz. Hafer und thun 48 Pferde jährl. 17 520 Metzen oder 1095 Vtl.{*)} und à 1 Rtlr.      1905 Taler
      Jedes Pferd 10 Pfd. Heu thut 48 Pferde tägl. 480 Pfd. und jährlich 175 200 Pfd. oder 1622 C. 24 Pfd.{**)} und à ½ fl.      540 Taler 21 Alb. 4 Hlr.
      Zwantzig vier Knechte haben à 3 Rtlr. Monatl. 72 Rtlr. und jährl.      864 Taler
      Summa      2499 Taler 21 Alb. 4 Hlr.«

Es würde somit die Anschaffung von 12 Wagen mit 48 Pferden, Geschirr und Zubehör 2677 Taler 28 Albus gekostet haben, der Unterhalt von 24 Knechten und 48 Pferden ohne Beschlaggeld, Reparatur

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[64  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Callmann Heilbrunn.}

{**) Gleichzeitig auch 300 Klaftern Buchenholz zum Kalkbrennen.}

der Wagen und Geschirre 5177 Taler 17 ⅓ Albus, dagegen würden jährlich durch 12 Bauernfuhren 9984 Steine oder ebensoviele Fuhren herbeigeschafft, was, jede Fuhre zu einem halben Taler gerechnet, 4992 Taler betragen, sich also um 185 Taler 17 ⅓ Albus billiger gestellt haben würde als die Anschaffung von 12 Wagen und 48 Pferden mit Zubehör, wogegen freilich Pferde, Wagen und Geschirr nach wie vor Eigentum des Landgrafen geblieben wären. Dieser letztere Umstand scheint ausschlaggebend gewesen zu sein; im November wurden 50 Stück neue Zugpferde vom Juden Callmann{*)} in Eschwege bezogen – die Kaufsumme von zweitausend Talern schoß der Hofrentmeister Johann Conrad Rumpel dem fürstlichen Kabinett gegen ½ Prozent monatliche Zinsen vor – und auf dem Winterkasten ein neuer Pferdestall errichtet, zu dessen Deckung 800 Bund Stroh von der Rentkammer geliefert wurden. Die schon im nächsten Jahre erfolgte starke Inanspruchnahme der bäuerlichen Spanndienste zeigt freilich, daß dieses neu angeschaffte Pferdematerial zum Transport der gewaltigen Steinmassen bei weitem nicht ausreichte. Auch einige »Logimenter« für die Arbeitsleute wurden auf dem Winterkasten erbaut; für diese ließ der Oberkämmerer von Arenstedt zwanzig Matratzen, zwanzig wollene Decken und ebensoviel Paar Bettücher anfertigen, während das Forstamt 300 Stück Eichenbohlen, 13 Schuh lang und 2 Zoll dick{**)} am nächstgelegenen Ort hauen und die Rentkammer zur Befeuerung dieser Logimenter die nötigen Steinkohlen hergeben ließ.

Wie rasch die Arbeiten an den Kaskaden vor sich gingen, zeigt ein von Kassel am 30. Oktober 1704 an Leibniz abgesandter Brief Papins in dem es heißt: »Ce qu’il y a de rare dans les cascades que Mons.gr fait faire à Weissenstein c’est qu’elles se continueront dans une longueur de chemin tout a fait extraordinaire: puisque elles commencent dez le haut de la montagne et qu’on a dessein de les conduire jusques au bas. Il y en a dêja une grande partie executée avec beaucoup de sumptuosité et on a dessein d’achever le reste de même mais il y a l’inconvenient presque inevitable quand on commence dans des lieux si elevez: c’est qu’il est bien difficile d’avoir des sources aussi abondantes qu’il servoit à souhaitter et il faut bien du temps pour remplir le reservoir.«

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[65  Landgraf Karl. 1677–1730]

{Gullmann, der im selben Jahre dem Landgrafen auch drei vergoldete Statuen, Herkules, »Umpalis« (Omphale) und Venus, als Neujahrsgeschenk für die Prinzessin Hedwig Luise von Hessen-Homburg lieferte, empfing im Dezember zusammen mit Guerniero nochmals 105 Taler 29 Albus 16 6/15 Heller für Fracht, Briefporto und andere Kosten »vor einige von Florenz anhero gebrachte sachen.}

1705.

Im Herbst des Jahres 1704 hatte Guerniero von der ihm vertragsmäßig zustehenden Befugnis, nach Italien zu reisen, Gebrauch gemacht, und zwar gleichzeitig auch »in herrschaftl. Comissionen«; in Florenz übergab er als Geschenk des Landgrafen – wir wissen nicht, an wen – zwei von dem Frankfurter Juwelier Werner Hassel erkaufte Emailleporträts. Im Mai erhielt der Kaufmann Johann Balthasar Gullmann in Augsburg an ausgelegtem Porto für Pakete und Briefe »bei des Italiänischen Baumeisters Reise undt anwesenheit in Italien« 15 Taler 2 Alb. 8 Hlr. zurück.{*)} Im Januar 1705 wurden zwei italienische Steinmetzen, Giachomo Portta und Princesco Angeli, in ihr Vaterland geschickt, um zum bevorstehenden Frühjahr von dort sechs Maurer und bis zu fünfzig Tagelöhner mitzubringen. Sie erbaten sich vom Landgrafen einen halben Gulden tägliches Kostgeld, eine Legitimation und die nötigen Pässe. Sie bekamen vierzig Taler Reisegeld, und Anfang Juni erhielt Guerniero noch 50 Fl. (= 33 ⅓ Taler) weitere Zehrungskosten, die er für sie ausgelegt hatte, zurück.

In die Arbeiten dieses Jahres, in denen die Ausgaben die bisher noch nicht erreichte Höhe von 22 912 Tlrn. 30 Alb. 11 Hlrn. erstiegen, gewähren die umfangreichen Belege zu den Ausgaben der Hofkammerrechnung einen fast lückenlosen Einblick. Aus keinem andern Jahre der Bauzeit sind uns selbst die kleinsten Rechnungsposten in so aufschlußreichem Maße erhalten. Zu dem zur Fortsetzung des Bauwesens i. J. 1705 nötigen Verlag bestimmte Karl am 2. April folgende Gelder: An Ausbeute oder Überschuß vom Richelsdorfer Kupferbergwerk 4000, an Überschuß aus dem fälligen Bierlizent in Kassel 2000, von der Rentkammer aus den fälligen Schaumburgischen Steuergeldern 2000, aus verkauftem Gehölz zu Schwarzenfels und Altengronau 1000, aus der Kriegskasse in Abschlag des dahin getanen Vorschusses 1620, im ganzen also 10 620 Reichstaler. Daß diese Summe bei weitem nicht ausreichte, zeigte sich schon recht bald. Der finanzielle Geschäftsgang

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[66  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Bartholomäus Thalmann. Im Jahre 1712 ist Fuhrhans Kriegspfennigmeister.}

{**) Im spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) trat Karl der zwischen England, dem Kaiser und Holland geschlossenen Allianz bei und stellte an England 8000, an Holland 3000 Mann Hilfstruppen, wodurch er nicht nur die Garantie seiner Staaten, sondern auch ansehnliche jährliche Subsidiengelder erhielt. Karl selbst schickte sieben seiner Söhne auf den Kriegsschauplatz, von denen drei im Kampfe blieben. Die in diesem Krieg bewährte Tapferkeit der hessischen Truppen ist hinlänglich bekannt.}

war in der Weise geregelt, daß der Kabinetssekretär Bernhard v. Lindern diese Gelder in Empfang zu nehmen und auf die vom Oberbaumeister von Hattenbach und vom Architekten Guerniero attestierten Lohnzettel und Anweisungen hin auszuzahlen hatte. Die Ablöhnung der Arbeitsleute geschah durch den Jagdschreiber Wiegand.

Da die für den Bau bestimmten Gelder nicht schnell genug eingingen, befahl Karl Ende Mai von Schlangenbad aus dem Kriegspfennigmeister Thalmann,{*)} von denjenigen 25 200 Reichstalern, die der Regierungsrat und Gesandte im Haag{**)} von Dalwigk kürzlich durch Wechsel nach Frankfurt übermacht hatte und die dort bereit lagen, 10 000 Taler in Abschlag des der Kriegskasse aus den Kabinetsgeldern getanen Vorschusses an v. Lindern auszuzahlen. Gleichzeitig erhielt v. Lindern den Befehl, von dieser Summe Guerniero »die nothdurft nach und nach gegen seine Quittung zu verabfolgen«. Da es immer noch an Arbeitskräften mangelte, hatte Karl schon vor seiner Abreise nach Schlangenbad den Italiener aufgefordert, sich durch das Landgericht Leute besorgen zu lassen. Guerniero wandte sich an die Beamten des Landgerichts, die im Mai den Untertanen in den Kasseler Ämtern bekannt machen ließen, daß jeder, der bei dem italienischen Baumeister auf dem Winterkasten um 7 Albus Tagelohn zu arbeiten Lust habe, sich bei diesem melden und an die Arbeit gehen solle. Besonders fühlbar machte sich nach wie vor der Mangel an geübten Maurern. Deshalb ersuchte Hattenbach auf Karls Veranlassung die Rentkammer um Abhilfe, und diese forderte die Beamten verschiedener hessischer Städte und Ämter auf, baldmöglichst etwa zwanzig Maurer auf etliche Wochen vom Land herein zur Arbeit auf den Winterkasten zu schicken, und zwar sollten Gudensberg, Felsberg, Homberg, Wolfhagen und Zierenberg je drei, Melsungen, Spangenberg und Lichtenau je zwei Maurer stellen, die sofort nach Empfang der Zustellung, »ob sie schon in particulier arbeit begriffen«,

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[67  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Weiter wurden für Guerniero aus der Kabinetskasse bezahlt: zwei Chaisengeschirre mit langen Ledersträngen, Messingschnallen und Buckeln, zwei Zäume mit Leitriemen, ein Tragkissen mit Gurt und einer starken Trage, lederne Decken über das Tragkissen, mit Messingnägeln und Buckeln beschlagen, ein neues Reitzeug, ein Handzügel, zwei Paar Steigbügel. ein Sattel und eine grüne Schabracke.}

mit ihrem Werkzeug auf dem Winterkasten gegen den gewöhnlichen Tagelohn antreten sollten; falls sich die Leute nicht in Güte dazu verstehen sollten, würden sie mit Mannschaft geholt werden. Die Zahl der Maurer, Handlanger und Tagelöhner stieg nunmehr um ein Beträchtliches. Sowohl am Fuße des Berges als auf der Höhe wurden neue Hütten für die Arbeiter gezimmert, und die großen Massen Stroh, die aus verschiedenen Ortschaften zur Deckung der Hütten geliefert wurden, zeigen, daß diese umfangreich gewesen sein müssen. Auch ein massives Haus wurde auf der Höhe errichtet; schon im März versprach ein italienischer Maurer, di murare la Casa nuova sopra questa Montagna; dieses neue, gleichfalls zur Logierung der Arbeitsleute bestimmte Haus, das sechs Kamine erhielt, wurde von Meyberth Germeroth von der Waldau gedeckt; er erhielt für jedes Gefach, »deren zu beyden Seiten 60 seindt«, einen halben Taler.

An Zugmaterial wurden weitere vier Pferde, dazu vier Zugochsen angeschafft und an der Sichelbach ein neuer Marstall erbaut.

»Des Herrn Baumeister sein Haus«, von dem die Rede ist, wird eine Art Baubüro gewesen sein. Der Rentmeister Buch erhandelte für ihn ein Reitpferd zu achtzig Talern.{*)}

Gearbeitet wurde das ganze Jahr hindurch, selbst noch in der Weihnachtswoche. Der Jagdschreiber Wiegand zahlte in diesem Jahr 15 281 Rtlr. 16 Alb. an die Arbeitsleute aus. Nach den auf die einzelnen Monate entfallenden Posten läßt sich die jeweilige Intensität der Arbeit bestimmen; danach war die Arbeitsleistung im Januar am geringsten, im Juli am höchsten, blieb aber noch bis in den Dezember hinein eine sehr rege. Daß die Arbeit eine fehr anstrengende war, ist selbstverständlich; charakteristisch ist ein von den vier Schmiedeknechten der Zeugschmiede an den Landgrafen gerichtetes Gesuch:

»Durchleuchtigster Fürst, gnädigster Fürst undt Herr, Ewer Hochfürstl. Dhlt haben wier unterthängst berichten sollen, daß wier eine woche umb die ander alhier auff dem winterkasten die schmiedearbeit verrichten müßen, wogegen mohnatlich ein jeder vier Thaler bekommt

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[68  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) 16 Albus = ½ Taler.}

weilen wir aber bey dießer arbeit alles zerreißen undt uns des nachts bey der großen Kälte mit unsern rocken bedecken müßen so daß wir von obgemelt. mohnatlichen solt, wovon wier mohnatl. noch 8 alb. Quartiergelt zu Caßell geben müßen, nicht so viell zu wege bringen wißen umb uns einen rock da von anzuschaffen,

Alß haben Ewer Hochfürstl. Dchlt. wier unterthänigst bitten wollen, dieselbe geruhen gnädigst die Verordnung ergehen zu laßen, daß einem jeden von uns ein schlechter rock möge gereichet werden.«

Sie erhielten zusammen ein Gnadengeschenk von zehn Talern verabreicht. Die Steine kamen aus den nahen Tuffbrüchen hinter dem Habichtswald und am Essigberg. Auch die Balhorner Brüche lieferten Material. Für die Grotte wurden im August auf mehreren Maultiergespannen Ducksteine aus Thüringen geholt. Seit Ende Mai wurden, da die vorhandenen Gespanne zur Herbeischaffung der Steine nicht genügten, die Gemeinden zum Spanndienst herangezogen. An diesen Dienstfuhren waren beteiligt die Dorfschaften Großenritte, Elgershausen, Martinhagen, Ehlen, Hoof, Altenritte, Breitenbach, Dörnberg, Bettenhausen, Sandershausen, Heiligenrode, Oelshausen, Fürstenwald, Weimar, Heckershausen, Ihringshausen, Niedervelmar, Simmershausen, Burghasungen, Wenigenhasungen, Frommershausen, Harleshausen, Nordshausen, Sand, Wichdorf, Rengershausen, Oberzwehren, Kirchbauna, Niederzwehren; daneben fuhren als Einzelunternehmer »Maestro Giacomo« und »Maestro Gotfried«. Geleistet wurden auf Grund der Wochenzettel von Mitte Mai bis Ende Dezember 3647 Fuhren; es fuhren in der 26. Woche des Jahres z.B. 366, in der 27. Woche 369, in der 28. Woche 69 Wagen. Da für 11 Wochen dieses Zeitraums keine Fuhren registriert sind, ergeben sich mit Abrechnung der Sonntage auf den Tag 33 Dienstfuhren. Die dem Winterkasten am nächsten wohnenden Gemeinden wurden am meisten in Anspruch genommen; so stellten z.B. zu den 307 Fuhren der 22. Woche Hoof 57 ½, Großenritte 52, Elgershausen 43, Dörnberg dagegen nur 8 und Bettenhausen nur 4 Dienstfuhren. Für die Fuhre wurden je nach der Größe des Steins 12, 14 oder 16 Albus{*)} gezahlt.

Von der Tätigkeit in den Steinbrüchen und derjenigen der Steinmetzen mag folgende, den Zeitraum von Januar bis August umfassende Tabelle ein Bild geben. \

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[69  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Es waren dies Leute der verschiedenen, 1684 formierten Ausnahmsregimenter, aus denen sich später die Garnisonsregimenter (v. Porbeck, Köhler, v. Knoblauch) entwickelten. Die einzelnen Kompagnien eines Bataillons führten die Namen der Ämter. So bestand z.B. das zum ersten bestimmte Bataillon des späteren Garnisonregiments v. Porbeck aus der Kompagnie der drei Kasseler Ämter, der Gudensberger, der Wolfhager und der Trendelburger Kompagnie.}

An Steinen

       lieferten die Steinbrecher         bearbeiteten die Steinhauer
                       Steine                         Treppensteine     Platten

Januar          146                                16              112
Februar        212                                 24              173
März             290 ½                            51              214
April              243                               96              142
Mai                512                               10              461
Juni              1076 ½                          3                 611
Juli               1425 ½                           6               1079
August          839                              —               836

Die Steinbrecher bekamen für jeden gebrochenen Stein je nach dessen Größe 10 ⅔, 12 oder 16 Albus, für einen besonders großen Stein 1 Taler. Das Abräumen des Steinbruchs wurde besonders bezahlt. Die Steinmetzen erhielten für den behauenen Treppenstein 10 ⅔ und für eine Platte 3–6 Albus. Besondere Stücke wie Pilaster, Mauerkränze erzielten entsprechend mehr.

Als man Mitte Mai mit den Ausschachtungsarbeiten zu den Kaskaden begann, wurde Militär in verstärktem Maße herangezogen, und zwar wurden sogenannte »Ausschösser«{*)} hinaufkommandiert. Anfangs arbeiteten durchschnittlich fünfzig Mann; Ende Juni gruben gleichzeitig je 63 Mann von der Trendelburger, Eschweger und Rotenburger Kampagnie und 60 Mann von der Spangenberger Kompagnie an den Kaskaden, zusammen also mit Einschluß eines Fähnrichs, zweier Unteroffiziere und eines Tambours 252 Mann. Anfang Dezember standen noch 31 Mann oben; bis dahin hatten außer aus den genannten Kompagnien Leute aus der Melsunger, Hersfelder, Allendorfer, Wanfrieder, der Vachischen und der Diemelkompagnie abwechselnd an den Kaskaden gegraben. Der kommandierende Leutnant bekam 7 Albus 1 Heller, ein Sergeant 4 Albus, der Tambour 2 ⅔ Albus und die Gemeinen zwei Mariengroschen Tagelohn. Zu den gleichen Erdarbeiten an den Kaskaden wurden seit Anfang Juni

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[70  Landgraf Karl. 1677–1730]

auch die Untertanen aus verschiedenen Ämtern verwandt. In der 23. Woche des Jahres gruben 62 Untertanen aus dem Amte Neustadt, in der folgenden 60 aus dem Amt Zierenberg, in der nächsten 76 aus dem Amt Wolfhagen, darauf 73 aus dem Amt Bauna usf.; sie bekamen jeder etwas über einen Taler Wochenlohn. Daneben waren seit der durch das Landgericht im Mai ergangenen Auf‌forderung fortgesetzt Handlanger und Tagelöhner mit Ausgraben und allerhand Handreichungen beschäftigt, anfangs durchschnittlich dreißig, im Hochsommer über achtzig und hundert. Die Zahl der Maurer stieg von zwanzig im Mai bis zu dreißig, die an der Grotte und am Amphitheater arbeiteten; neben diesen begannen im Juli, als die Ausschachtungsarbeiten beendet waren, noch 40 bis 50 Maurer an den Kaskaden zu mauern. Ihr Wochenlohn betrug etwa 2 Taler 12 Albus. Im Dezember waren noch etwa 10 Maurer bei der Arbeit; diejenigen, die nach Haufe reisten – unter den Maurern und Steinhauern befanden sich viele Italiener –, erhielten wegen ihrer fleißigen Arbeit ein Trinkgeld ausgezahlt.

Der Winterkasten glich einem Ameisenhaufen. Über und unter der Erde war man in fieberhafter Tätigkeit. In der zweiten Juliwoche dieses Jahres sehen wir auf dem Berge täglich 253 Soldaten und 78 Untertanen an der Kaskade graben; ihnen sind 77 Tagelöhner behilf‌lich. Wir sehen 22 Maurer am Amphitheater, 34 an den Kaskaden Stein zu Stein fügen. Der Steinmetzen werden es einige Dutzend gewesen sein. Dazu kommen die Fuhrleute und die sonftige Bedienung der in dieser Woche geleisteten 369 Steinfuhren, die zum Fahren, von Materialien verwandten Marställer mit ihren Maultiergespannen, ferner die Bergleute, die Wagner und Schmiede mit ihren Gesellen, die Zimmerknechte, Steinsäger, Mosaikarbeiter, die Schreiner und Schlosser, die Steinbrecher in den nahen Brüchen – weit über tausend Menschen, die an der Vollendung des Riesenwerkes schufen.

Daß am Oktogon weitergearbeitet wurde, erweist die im September erfolgte Zahlung von 20 Talern an den italienischen Steinmetzen Bernardo Cassela »vor ein verdungen stück felßen am Octangulo zu machen« und eine solche von 15 Talern, gleichfalls für ein Stück Felsen am Oktogon an Battista Patti.

Die Hauptarbeit galt aber in diesem Jahre zunächst der Polyphemgrotte mit den beiden Seitengrotten. Schon im Januar hatte der auch sonft bekannte Bildhauer Johann Kaspar Berger ein Wachsmodell

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[71  Landgraf Karl. 1677–1730]

{8) Für die 1676 von Cadort begonnene Grotte in Herrenhausen beschaffte der Bauschreiber Brand Westermann »Schub- und Schneckenwerck« aus Holland; auch trug die Grotte Gebilde aus Tropfstein, Kristalldrusen u.s.f. (Schuster, Hannover. Geschichtsblätter 1904. S. 160).}

{*) Die Sendung geschah an den Burgvogt Thon: en gespan onder nevenstaande Merk (C. L. Z. H. – Carl Landgraf zu Geffen). Der vorgedruckte Frachtbrief trägt den schönen Schlußvermerk: »God wil haar geleiden en in salvo arriveren laten; In desselfs protectie bevolen, verblyve V. E. D. W.«}

{*) Solche Steinchen finden sich neben anderen Resten einstigen Glanzes noch jetzt im Schutt der jetzt verschlossenen Grotten.}

{***) Die Oberlichtfenster der Seitengrotten hatten farbiges Glas. Als dieses zertrümmert war, setzte man die noch jetzt stehenden Holztempelchen über die Öffnungen.}

zu diesen Grotten hergestellt. In der großen Grotte waren zwei italienische Steinsäger beschäftigt. Der Kasseler Hofkupferschmied Johannes Seldenschlo hatte für die Grotte, nachdem sie im Rohbau fertig war,»ein starck stück Kupfer in vier Ecken geschlagen, welches mühsam zu machen«. Die Grotten wurden dem damaligen Geschmack entsprechend ausgeschmückt.{8)} Der Apotheker Johann Hermann Hölcke in Amsterdam erhielt durch den Hofrentmeister Rumpel 172 Taler 7 Albus für »anhero geschickte allerhand Perlemutter, Schulpen und Muscheln«. Schon im Oktober 1704 hatte Hölcke dreihundert Stück feine Perlmutter und dreihundert Stück »S. Jacobs Schulpen« geschickt, denen im Juli 1705 eine Sendung von abermals dreihundert Stück feinere Perlmutter und siebenhundert Stück westindischer Perlmutter folgte.{*)} Zur Herstellung der gläsernen Steine wurden zwei messingene Glasformen beschafft. Verschiedene Botengänge von und nach der Glashütte werden erwähnt, größere Mengen Goldglanzes geliefert, im November für 72 Taler kleine blaue und schwarze Steine bezogen,{**)} desgleichen 68 Metzen kleine Steine aus der Fulda.

Die Türen waren schon im Juli eingesetzt; als im Dezember die Fenster nicht mehr fertiggestellt werden konnten, wurden 6 runde mit Tuch bespannte Eichenholzrahmen vorgesetzt.{***)} In den Grotten, die zu wohnlichem Aufenthalt dienen sollten, wurden Windöfen aufgestellt.

Auch eine Wasserorgel, wie er sie unter den Wasserkünsten zu Tivoli gesehen hatte, ließ Karl noch in diesem Jahre durch den Hoforgelmacher Wenderoth und den Optiker Zahn anfertigen. Das Werk muß sogar schon Ende 1704 oder im Januar 1705 fertig gewesen sein, denn der von Karl unterschriebene Zahlungsbefehl ist datiert vom 4. Februar 1705. Hier die technisch wertvolle Rechnung des Optikers Zahn:

»Rechnung des Selbft Spielendes Orgel Wercks in die Grotte auf weißen Stein, So ich auf Ihro Hoch Fürstl. Durchl. gnädigsten Befehl

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[72]
  • mit hülfe des Orgelmachers Johann Wenderoth verfertigen sollen, zu welcher arbeit ich dan ahn arbeitslohn und zehrungs Kosten vor geschossen, welches mit quittungen belegen kan.
                                                                            Thlr.  alb. slr.
  • Meister Jacob dem Schlosser vor räder und Treibwerck
    nebst einem Vorhanckschloß thut  4  4  [–]
  • Noch Meister jacob an das große Werck gearbeitet, hat
    darahn verdienet Laut rechnung    [–]  30  8
  • Noch dem Schreiner vor ein groß gehäuß  1  3  [–]
  • dem Mühl meister vor ein klein überschlecht Waßer rath
    sambt dem gestelle so ich bezalt Laut quittung  1  10  8
  • Vor 2 Wellen zu trehen gegeben    [–]  24  [–]
  • Vor Stahltraht auf die Wellen    [–]  16  [–]
  • Vor Eysern traht zum gatter    [–]  8  [–]
  • Vor ein glaß ein zu machen    [–]  4  [–]
  • Vor Nägel und einen Neuen hann    [–]  6  8
  • Vor Zehrungs Kosten so bey oft mahliger hin und Wieder
    reiße auf den Winder Kasten  3  30  2
                                                                      Summa  13  9  2

Was nun des Orgelmachers Arbeit ahn langet, solches zeiget beiliegente rechnung.

Was das große Werck anbelanget, Spielt musicalische stück welche Hoch in die stim Lauf, undt darzu den Baaß so, alß ein musicant es deutlicher und schöner nicht kan Spiellen, hier zu hab ich mein possetiv genommen, welches ich bezahlt mit      18 Rthlr.

Daran hab ich vier wochen gearbeidet, ist also ungefähr noch zwey daran zu arbeiten.

Weilen dann das Kleine werck hier, zwischen ist bestelt, darzu ich modelle gegeben, auch die Treib Räder auf getheilt, die musicalischen stück deren 5 seindt so auf die Welle getragen,

Von dießer und aller andern arbeit welche Ihro Hochfürstl: Durchl: mir gnädgst auf tragen pretentire nichts. Solte mir aber eine gnade wiederfahren von Ihro Hochfürstl: Durchl: weilen dießes eine Aparte arbeit und Kunst ist, stelle ich in Ihro Hochfürstl: Durchl: gnädigsten belieben, gibt alß dan wiederum eine anfrischung zu fernerer

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[73  Landgraf Karl. 1677–1730]

Neuen Invention welche ich Ihro Hochfürstl: Durchl: presentiren werde, und das mit Gottes Hilfe.

Johann Andreas Zahn.«

Die Kosten beliefen sich demnach auf 31 Taler 9 Albus 2 Heller, die alsbald bezahlt wurden, wenn auch eine weiterhin erhoffte »Anfrischung« ausblieb. Die beigefügte Rechnung des Hoforgelmachers Wenderoth lautet:

»Verzeugnus wegen der selbst Spielenten Waßer orgell in der Grotte zu Weißenstein so ich gemacht, ohne die Welle und rähter wie hier unten zu sehen, alß
      die Kunstlade
      Blaßbalg
      Dangenden
      Clavier
      Pfeif Werck so in 3 Rohr bestehet mit 10 mahliger Verenderung
      Messinge Schrauben
      den auß zug zum stellen
      den Vorschub, auch alle Eyßerne schrauben undt Wellen so darahn befindlich,
       Noch einen Kasten über daß Orgell Werck gemacht mit einem verschloßenen Beschlag zu welcher arbeit ich dan alle Matterialien auß getahn
      Welches thut      14 r.
                                                      Johann Wenderoth.«

Daß dieses 1705 aufgestellte Werk identisch ist mit dem noch zu erwähnenden 1778 unter Friedrich II. errichteten, ist nicht anzunehmen. Denn wie das 1700 in Tivoli geschaute Orgelwerk »zwar noch einigermaßen, aber einen sehr schlechten Ton von sich gab«, so wird auch dieses im Jahr 1705 geschaffene das Schicksal aller, der Feuchtigkeit naturgemäß stark ausgesetzten Wasserorgeln geteilt haben. Der Zweck der im Innern der Grotte versteckt angebrachten Wasserorgel war, durch ihre Melodien, die scheinbar der siebenröhrigen Hirtenflöte des Polyphem (wohl richtiger Pan) entströmten, die Besucher in die Grotte zu locken; in dieser wurden dann durch einen Druck des Wärters aus Fußboden und Wänden die Vexierwasser – eine beliebte Spielerei jener Zeit – angelassen, eine Menge ganz

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feiner, sich im Bogen durchkreuzender Fontänen, vor deren Strahlen man nur an einem einzigen Punkt der Grotte sicher war.

Auch an den sog. Pferdetreppen wurden solche Vexierwasser angelegt, unter Wilhelm IX. aber wieder beseitigt, während diejenigen in der Grotte heute noch in demselben Maße wie vor zweihundert Jahren gemischte Empfindungen im Besucher erwecken.

Im April wurde der Berg unterhalb der Grotte bereits ausgegraben. Im Sommer baute man am Amphitheatrum und dem von ihm eingeschlossenen Riesenkopfbassin. Im September stürzte das Erdreich oberhalb des Amphitheatrums ein, so daß dreizehn Handlanger in Nachtarbeit mit dem Aufräumen beschäftigt werden mußten. Am 15. September mußten abermals acht Maurer und dreizehn Handlanger die Nacht hindurch arbeiten. Im Juli begannen die Maurer mit der Aufrichtung der eigentlichen Kaskaden.

Die Bergleute waren in diesem Jahr unter der Oberaufsicht Guernieros mit Anlage des von ihm vorgesehenen Wasserlaufstollens beschäftigt, der in der Höhe der Pansgrotte bei dem Unglücksteich beginnt und inmitten des von lebendigen Hecken eingezäunten Geländes des Sichelbacher Vorwerks zutage tritt, wo er in einen offenen Graben übergeht. Es wurde gleichzeitig von je sechs Leuten sowohl bei dem Stollort auf der Sichelbach als auch beim Gegenstollort bei der Grotte, also am Unglücksteich, wo der Wasserstollen mündet, begonnen, wobei es sich meist um ein Herausschlagen festen Wackengesteins handelte. Auch wurde ein unteres und ein Oberlichtloch abgesunken. Bei diesem, das auf elf Lachter abgesunken wurde stieß man auf besonders festes Gestein und starken Wasserzulauf, weshalb den Leuten das Lachter mit vierzig Talern bezahlt wurde, während es sonst zu achtzehn Talern und, wenn das Gestein sich streckenweise kurzklüftiger zeigte, zu sechzehn Talern verdingt war. Auch am Gegenstollen beim Unglücksteich hatte man stellenweise mit starkem Wasser zu kämpfen. Nachdem das Oberlichtloch abgesunken war, fingen acht Arbeiter bei den Gegenörtern an, wo sie gleichfalls wegen des stark zugehenden Wassers schwere Arbeit hatten. Während sie im Geding auf‌fuhren, wurden weitere sechs Bergleute unter Aufsicht des Steigers Schmidt auf der Sichelbacher Suhl gegen Schichtlohn – die Schicht zu acht Albus – damit beschäftigt, die Sohle nachzuhauen, das Gezimmer auszureißen und einen im Frühjahr durch die Wasserfluten eingebrochenen Teil des Wasserlaufstollens

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aufzuräumen. Der Stollen hat durchschnittlich eine Höhe von 2 ½ bis 3 Metern bei einer Breite von etwa einem Meter und ist über 200 Meter lang. An vielen Stellen sind noch die Bohrlöcher erkennbar, in die die Sprengschüsse gelegt wurden. Bei diesen Sprengungen, für die nicht unbedeutende Mengen von Papier und Pech geliefert wurden, kamen wiederholt Unglücksfälle vor. In der Hofkammerrechnung dieses Jahres sind zwei Beträge ausgesetzt, einmal dem Hofchirurgen Mutillet »artzlohn von 2n bey der arbeit auf dem Winterkasten beschädigten bergleuten 4 Rtlr.« und dann »einem Bergmann namens Johannes Jung so bei sprengung eines stück berges auf dem Winterkasten schaden bekommen, zum artzlohn gesteuert auf gnädigsten befehl 4 Rtlr.« Bereits zum 10. Januar heißt es: »Wiederum ein patient Conrad Fischer, welcher schaden in der Gruben an der hand bekommen und vier wochen feyern müssen, welchem von dem Oberberginspektor Carl Zumpe vermacht ist wöchentlich 1 Gulden ... 10 Gulden« (= 6 Rtlr. 21 Alb. 4 Hlr.). Und am 21. Februar »Vier Gulden (= 2 ⅔ Rtlr.) vor den bleßierten Bergmann so sich in der Grube geschossen, jede woche vom Oberberginspektor verordnet 1 Gulden Gnadengeld; vorm Arzt gelegen trägt in 4 Wochen 4 Gulden«. Darunter notierte der Oberberginspektor: »Weilen dieser bergmann durch einen unglücklich gegangenen Schuß ziehmlich stark plessiret worden, so wirdt der Herr Geheimbte Secretari dienstlich ersuchet, obige 4 fl. zu verschießen und die alle lohntage fallende Püxen Pfennige wieder daraufhin zu behalten. C. Zumben.« Näheres darüber sagt uns die Rechnung des Chirurgen: »Paul Ulrich soll wegen seinen ufm Winter Kasten empfangenen schuß, wodurch die helfte der linkten Seite des Haubtes verbrant, und durch die Steine zerschmettert deren unterschiedene noch herausnehmen müßen, negst Gott wied. Couriret, und soll dafür drey Rtlr. zahlen. Conrad Horst, welcher den Daumen an der rechten Hand ufm Winterkasten gäntzl. zerquetscht so auch wieder Couriret und sol dafür 1 Rtlr. zahlen. Caßell, d. 21 Febr. 1705.
                     4 Rtlr.      Gerhardt Mutilliet Hof Chirurgus.«

Beiden Bergleuten wurden außerdem noch zusammen 4 Taler »gnädigst gesteuert«. Dieselbe Summe erhielt Johannes Jung, dessen Unfall durch ein von ihm und seiner Frau an den Fürsten gerichtetes Gesuch näher illustriert wird: \

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»Durchlauchtigster Fürst Gnädigster Fürst und Herr. Ew. Hochfürstl: Durchl: wollen gnädigst geruhen zu vernehmen, weß gestalten gestern Nachmittag mein Mann eine Unglückliche Stunde begegnet und zugestanden auf dem Winter Kasten, indem derselbe ein stieck berg Werck hat sprengen wollen undt daß Pulver unter dem Arm gehabt, hat sich daß Unglieck zu getragen, daß daß liecht muß einen Funcken fallen lassen, daß mirs ist aufs Pulver vorkommen, so daß ich armer Elender Mann nicht sagen soll wie daß Unglieck geschehen ist, ist mir Unmieglich, dann mir daß gantze Gesiecht, arm undt mit sal: ven: daß Hemmet auf dem leibe verbrennet ist.

Alß bitte Ihre hochfürstl. Durchl: gantz Unterthänig sie geruhen gnädig mir Armseel: Mann eine Gnade zu erzeigen, beneben meinem armen Weib undt Kindt.

              Ew. Hochfürstl: Durchl: Unterthänigster Knecht
              Johannes Jung, Bergmann aus Schmalkalden.«

In den Lohnzetteln der späteren Jahre taucht Jung übrigens wieder auf.

Die Bergleute erhielten in diesem Jahre für ihre Arbeit am neu angelegten Wasserlaufstollen 1153 Taler 19 Albus ausgezahlt. Zwei Bergleute waren den Mineurs zugeteilt, die unter dem Miniermeister Andreas Jung am Berg mit dem Fortschaffen der Erde beschäftigt waren.

Seit Anfang November 1704 befand sich der Röhrengießer (stagnaro) Giuseppo Torniaro auf dem Winterkasten. Er bezog einen verhältnismäßig hohen Monatslohn von 10 Talern 21 Albus 4 Hellern. 1705 lieferte der Hoftöpfer Franz Walpert zu Großalmerode 1122 große und 907 kleine eulerne (tönerne) Röhren und kurz darnach noch einmal auf 24 Gespannen – nach Abzug der unterwegs zerbrochenen – 2950 Röhren, das Hundert zu 7 ½ Kammergulden. Zum Brennen der Schmiedekohlen wurden große Mengen Holz angefahren, so im Mai auf sieben Wagen dreißig Klaftern aus dem Harleshäuser Forst, im November 35 Klaftern usw. Der Kaufmann Johannes Christoph Rausch in Kassel lieferte für 178 Taler Stab- und Eisenwaren, der Eisenfaktor Biedenkapp in Kassel für die gleiche Summe Stabeisen, Stangendraht, Tafelblech, der Verwalter Möller vom Eisenhammer in Holzhausen für 180 Taler Stabeisen, der Schiffer Hans Baurmeister in Münden 14 Schock Tannenbohlen, weitere 15 Schock

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{*) Ob »Zwei Zober bier vor die arbeither« ihrem natürlichen Zweck zugeführt oder wie das an anderer Stelle erwähnte Bier »zu der Farbe« gebraucht wurden, läßt sich nicht feststellen. Ebenso ist es mit 4 ½ Steigen Eiern zu 16 Albus (1 Albus = 12 Heller). Dagegen steht die Verwendung von »2 Spill carten« außer Frage.}

lieferte der Dielenhändler Christoph Hassert in Münden frei an die Schlagd zu Kassel an den Bauschreiber Adam Schulze, der Nagelschmied Scheller in Schmalkalden viele Tausend Stück Dielen- und Treppennägel, der Kaufmann Thomas Jung in Schmalkalden 20 Hentner Hammerschlag, die Porzellanmacher Dirck (Dietrich) de Voß und Ludwig Verschuer 10 Zentner fein gewaschene Porzellanerde. Die Neustädter Mühle in Kassel, wohin die Schlacken gefahren wurden, lieferte Schlackenmehl, der Hofseiler Cornelius Appold ein fünfzehn Klaftern langes Bergseil zum Wasserstollen, sechs Paar Rüststricke, die 1 Zentner 78 Pfund wogen, ein 32pfündiges Seil, Hanf und Werch, der Backsteinbrenner Jeremias Dubois »gebackene Steine«. An sonstigen wiederholten Lieferungen kommen vor Leinöl, Gips und Materialien zum Kitt, für die Erdarbeiter Karren, für die Bergleute Stünze mit Pech, Eimer, Keilhauen, Stahlbicken und Brecheisen. Nicht unerwähnt mögen zwei Rieß Konzeptpapier »zu tütten zum Geld« bleiben.{*)}

Guerniero erhielt am 1. Oktober 1705, also nach Ablauf des ersten neuen Vertragsjahres, merkwürdigerweise nicht die vereinbarte, für damalige Zeit horrende Gage von 3000 Talern, sondern nach der Hofkammerrechnung 533 Taler 10 Alb. 8 Hlr. weniger, nämlich »das Ihm jährlich wegen dieser entreprise aus den Cabinets Intraden pro studio et labore gnädigst verwilligte und verordnete tractement vom 1 Octobris 1704 biß den 1 Octobr. 1705ten Jahres bezahlet vermöge beyliegender dessen quittung mit 3700 fl. oder 2466 Rtlr. 21 Alb. 4 Hlr.«; außerdem erhielt Leibmedikus Dr. Combach für ihn den Hauszins von 40 Talern erstattet. Auch ließ ihm Karl für allerhand von ihm, Guerniero, bezahlte, aber nicht verwandte Materialien, wie Metallhähne, Rollenblei, Dielen, 590 Taler zurückerstatten. Oberbaudirektor Obristleutnant von Hattenbach erhielt seine übliche Zulage von 100 Talern, Jagdschreiber Wiegand wegen der Auszahlung der Arbeitsleute die gleiche Summe.

Wohl schon während seines letzten Aufenthaltes in Italien im Winter 1704/05 hatte Guerniero sein großes Kupferwerk über die

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Bauten und Wasserwerke auf dem Winterkasten vorbereitet. Selbstverständlich hatte er schon vor dem Abschluß der einzelnen Kontrakte dem Fürsten Grundriß und Entwürfe im einzelnen vorgelegt; nunmehr sollte das alles, zumal der ursprünglich geplante Umfang der Anlage auf ein Drittel beschränkt worden war, in einem größeren Werke der Mit- und Nachwelt überliefert werden. Möglich ist es aber auch, daß Guerniero im Herbst 1705 erst zu diesem Zwecke nach Rom reiste; Ende November erhielt der Papiermacher Scheidemantel beim Messinghof »zu anschaffung der benötigten bereitschaft zur verfertigung des bestelten großen regal Pappiers zu denen abrißen vom Winter Rasten bau« fünfzig Taler ausbezahlt. Noch 1705 erschienen zu Rom die von den drei römischen Künstlern Frezza, Speculi und Denturini in Kupfer gestochenen Pläne und Zeichnungen Guernieros unter dem Titel: »Delineatie Montis Parum distantis a Casella urbe Hassiae, qui olim ab lncolis Verter Castr. id est Mons Ventorum dicebatur, nunc autem Carolinus – – – Romae MDCCV. Typis Cajetani Tenobii Typographi & Scalptoris, ante Seminarium Romanum ...« Die hier irrtümlich gebrauchte Benennung des Winterkastens als »Windberg« gab Veranlassung, das Werk mit unveränderten Kupfern, aber dem neuen Titel: »Delineatio Montis a Metropoli Hass0 – Casselana uno cireiter milliari distantis, qui olim Winter-Casten, id est, Hliemis Receptaculum dicebatur, nunc autem Carolinus audit« bereits 1706 in Cassel bei Heinrich Harms wieder herauszugeben. Eine sehr seltene dritte Ausgabe mit 16 zum Teil neuen Platten führt den deutschen Titel: »Eigentliche Abbildung des nahe bei der Residentz-Stadt Cassel gelegenen Berges, Insgemein der Winterkasten, nun aber der Carlsberg genant, von dem Glorwürdigen Namen des durchl. Fürsten und Herren, Herrn Carls Landgraffen zu Hessen ... Samt deren darauf sich befindlichen Kostbahren Gebäuden und Wasserkünsten ... verfertigt von Johann Francesco Guerniero, Römischen Baumeister, Zuerst in Rom, hernach in Cassel wieder gedruckt von Heinrich Harms. Fürstlichen Hessischen Hof-Buchdrucker. Im Jahr 1727.« Eine vierte und letzte, um zwei Platten vermehrte Ausgabe mit lateinischem und französischem Titel erschien 1749 in Kassel.

In einer vorausgehenden, in lateinischer, italienischer, französischer und deutscher Sprache gehaltenen Widmung an den Landgrafen bezeichnet sich Guerniero selbst nur als geringes Instrument des großen Werkes, diese Wasser in den verborgenen Gängen der Erde zu leiten

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und zu sammeln; er wolle mit seinen Seichnungen nur die sinnreiche Erfindung des Landgrafen der Welt bekannt machen. Der zweite Teil ist, wiederum in vier Sprachen, an den Leser gerichtet und gibt eine Beschreibung des Grundrisses und der Perspektive der ganzen Anlage. Auch hier erklärt Guerniero, daß die Klugheit des Landgrafen ihm den Weg gebahnt habe. Offenbar hat er den Ideen Karls erst eine greifbare, wenn auch phantastische Gestalt gegeben, und Hoffmeisters Annahme, daß diese in ihrer Gesamtheit technisch fast unausführbaren Pläne mehr als Richtschnur denn als genaues Vorbild gedacht waren, wird durch die spätere Ausführung, die sich wie schon gesagt, auf ein Drittel des Gesamtentwurfes beschränkte, unterstützt.

Den Abschluß der ganzen Kaskadenanlage, die bis zum Fuße des Berges gedacht war, bildete auf der höhe des Berges ein riesiges Achteck mit lauter Grotten und Nischen und reichem Statuenschmuck, »hernach steiget man auch 2 Treppen zu beyden Seiten hinunter auff einen Platz, alwo 3 schöne Grufften mit ihren Fontainen sind in deren mittelsten ein Cyclops vermittelst eines Wassertriebs lieblich pfeiffen thut, in denen 2 andern zu beyden Seiten aber haben die springenden Wasser ihre Behälter. Und diese Grufften nebst deren Gewölbe sind in Form eines Felsens von Ducksteinen verfertiget. Außwerts zu beyden Seiten sind 2 Grotten, deren Gewölbe auff Grotten Manier mit Perlemutter und andern verschiedenen Muscheln von allerhand Farben, ingleichen mit Einflechtung Mosaischer Arbeit außgezieret sind.«

»In der Mitten des Platzes ist ein großer weiter Brunne, in dessen Mitte ein Felß, welcher 50 Schuh hoch Wasser aufwirfft, von diesem Platze gehet man zu beyden Seiten auff 2 abhängigen Treppen auff eine Ebne, woselbst ein großer Felß, von welchem eine grosse Menge Wassers herabfält; weiter gehet man auff Treppen hinunter auff noch einen Platz, alwo man ein Amphitheatrum außgezieret mit Statuen, deren zwey vermittelst des Windes blasen, nebst 2 kleinen Wasserfällen zu beyden Seiten, und in der Mitten des obgemelten grossen Felsens ansichtig wird; unter dem Fuß dieses Felsens liegt ein Riese, auß dessen Schlund eine grosse Menge Wassers in die höhe steiget, welches vielerley kleine Wassersprünge formiret, und dann in das grosse daben befindliche Bassin nieder fällt.« Aus diesem Bassin entspringen Kaskaden, die sich bis auf einen Platz ergießen,

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in dessen Mitte drei andere Wasserfälle mit kleinen Fontänen sich befinden, deren jede der andern das Wasser gibt; das Ganze wird flankiert durch zwei abhängige große Treppen mit bequemen Sitzen vor jedem Treppengang. »Die Cascaten wie auch die Treppen und alles ist von Ducksteinen gemacht; dieser Platz, dessen Grösse 650 Schuh Rheinländisch Maß in sich hält, ist mit vielen Abteilungen von Fontainen, Verzierung mit Statuen, Treppen und dergleichen versehen ... Am Ende des Platzes siehet man eine andre Cascata in Form dreyer Cascaten mit kleinen Fontänen, deren jede der andern das Wasser gibt, wie oben, und weiter hinunter gehet man zu einer Grotte, nebst einem grossen Behälter, worauß das Wasser mit einem starcken Geräusch ferner zu einer andern Cascata gehet, die auch 3 Cascaten und kleine Fontainen macht, auff selbige Arth, wie oben, und endiget sich endlich auf der Ebene des Amphitheatri; in diesem sind 3 Fontainen so rund umb mit kleinen Fontainen umbgeben, mit 2 grossen abhängigen Treppen, mit Felsen ausgezieret und mit Bäumen zu beyden Seiten gepflantzet, gleichwie ein Amphitheatrum

»Dieses gantze Werck,« heißt es am Schluß, »ist von Steinen gemacht, deren jeder 3 ½ Schuh breit, 9 Schuh lang und 2 Schuh dick ist, die Farbe dererselben ist natürlich wie ein Felse. In der Mitte des Amphitheatri ist ein großer Brunne, und zu beyden Seiten gleich gegen ein ander über zwey Garten, an deren jeden Spitze zwey Lusthütten und in der Mitten ein raumlicher Spatzier-Gang, von darauß tritt man auff eine grosse Treppe, welche in den Garten gehet, alwo imgleichen verschiedene Fontainen sind. Unter besagten haupt-treppen, welche mit vielen Zierathen der Bau Kunst versehen, ist ein Wasserfang, welcher eine grosse Fontaine formiret; solche fängt alle das Wasser derer Cascaten; wie man solches alles in der großen Zeichnung der Perspectiv des gantzen Wercks sehen kan. Ich will in dieser Beschreibung mich nicht weiter auffhalten, weilen dafür halte, daß die einfältige Erklärung derer Sachen gnug seye, damit die Gedancken von ferne sich einbilden können, was das Auge in der nähe nicht sehen kan.«

Das ebenso vernünftige als großartige Prinzip dieser Anlage war, die von der Natur selbst gebotenen Vorteile des Wassers und des Geländes auszunutzen. Die während des Winters in großen Mengen sich auf dem Plateau des Berges ansammelnden Wassermassen

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[82] Abb. 5. Prospekt der ursprünglich geplanten Gesamtanlage. (Aus Guernieros »Delineatio Montis«.)

sollten auf die einfachste Art in mannigfacher Gestalt, sei es als hochaufstrebende Fontäne, sei es als flutende Wand eines Wassersturzes, der sich die Kaskaden herabwälzt, dem Willen des Baumeisters gefügig gemacht werden. Auf einer der Kupfertafeln Guernieros sieht man die ganze Berggegend zur Rechten und Linken der Kaskaden in baum- und strauchreiche Anlagen verwandelt, in denen sich Wild aller Art lustig herumtummelt. Die Kaskaden selbst führen, von geschnittenen Hecken gesäumt und mehrfach durch kunstvolle Anlagen unterbrochen, bis zum alten Weißensteiner (jetzigen Wilhelmshöher) Schloß hinab, das durch einen als unterer Abschluß gedachten italienischen Palast ersetzt werden sollte. Die Stilähnlichkeit dieses projektierten, aber niemals ausgeführten Palastes mit dem 1701–1711 erbauten Orangerieschlosse in der Aue bei Kassel veranlaßte L. S. Ruhl und Hoffmeister zu der Annahme, daß auch dieses Gebäude von Guerniero gebaut sein müsse, als dessen Baumeister Gurlitt und Otto Gerland allerdings Paul Du Ry in Anspruch nehmen. Akten über diesen Bau sind nicht vorhanden; der Tradition nach soll Landgraf Karl die Schlußrechnung dem Kaminfeuer überantwortet haben, um über die Größe der darin aufgeführten Summen den Schleier der Vergessenheit zu ziehen.

Also nur Oktogon und ein Teil der Kaskaden kamen zur Ausführung, sei es nun, daß dieser großartige Plan niemals zur Verwirklichung bestimmt war, oder sei es, daß dem Landgrafen, dem nicht die reichen Einkünfte seiner Nachfolger zur Verfügung standen, die Kosten zu hoch waren; wohl mögen auch die Gegner des Projekts, unter denen sich auch der Erbprinz Friedrich befunden haben soll, ihren Einfluß geltend gemacht haben. Die ganze Anlage widersprach selbst in ihrer beschränkten Ausführung noch so sehr allen bisherigen architektonischen Erfahrungen, daß mancher Sachverständige den Kopf schüttelte. Guerniero aber, der kein Akademiker, sondern ein Künstler von Gottes Gnaden war, ließ sich durch nichts beirren, und der Landgraf gewährte ihm freie Hand. Während der ganzen Dauer seiner Tätigkeit auf dem nunmehr Karlsberg genannten Winterkasten und auch später noch soll der Italiener unter Anfeindungen zu leiden gehabt haben; denn ihm in erster Linie maß man die Hauptschuld an der landgräf‌lichen Baulust zu. Nicht nur wurde die Möglichkeit, den ungeheuerlichen Plan auszuführen, wie wir noch sehen werden, aus den Kreisen der Wissenschaft heraus angezweifelt, sondern auch

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[83  Landgraf Karl. 1677–1730]


Abb. 6. Das von den einen Guerniero, von andern Paul Du Ry zugeschriebene Orangeriegebäude in Kassel.

sonst entstanden dem Bau Widersacher. Einer von ihnen war der abgesetzte Schulmeister Martin Becker aus Böttiger im Amte Felsberg, der mit anerkennenswertem Mut, aber auch argen Übertreibungen in einer abschriftlich erhaltenen fanatischen Bußpredigt, die er an den Landgrafen und »andere hochgebietende Herren Sowohl Geist- als Weltlichen Standes« richtete und in der er, allerdings erst nach Vollendung des Baus, wider die allgemeine Sittenverderbnis im allgemeinen und die Perücken und Fontangen im besonderen eiferte. Sie beginnt:

»Wehe dir armen Hessenland!
Wo du nicht bald Buße thust.

Ew. Hochfürstl. Durchl. kann ich armer einfältigster Mensch unmöglich unterlaßen die Seufzer der armen Unterthanen hiermit in tiefster Unterthänigkeit vorzulegen, es koste auch was es wolle, und wann es schon mein Bestes kostet, so ist’s doch nicht mehr als ein Klumpen Erde. Dann die Liebe zu Ew. Hochfürstl. Durchlaucht und zu den Armen treibt mich darzu, daß ich unmöglich schweigen kann.

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[84  Landgraf Karl. 1677–1730]

Gott der Herr sagt zu uns: Ihr eßet oder trinket ober was ihr thut, das thut Alles zu Gottes Ehr. Dürfte man nun wohl fragen: Wozu doch solch Gebäw mit dem verfluchten Bilde, das man den Winterkasten nennet, gebauet wäre? Sollte man wohl etwas daran finden zu Gottes Ehre? Ach! Ich sage nicht zu Gottes Ehr, sondern vielmehr zur fleischlichen Ergötzung! Ach! Wieviel tausend Seufzer sind wohl darüber gefallen und zu Gott in den Himmel gestiegen. Zu solchem unnöthigen Gebäw mag man billiger mit dem Jünger Jesu sagen: Solches hätte wohl besser mögen theuer verkauft und den Armen gegeben werden. So haben so viel tausend Arme dazu steuern müßen, und also der Armen Schweiß und Blut daran erbauet worden. Dörfte man wohl weiter gehen? So kann man solcher und dergleichen unnötiges Gebäw mehr finden. Ja, da nun so viele sind, die nur ihren Hochmut zeigen in schöner Häuser Bauen, auch einer dem andern solches zuvor thun will, als wenn man hier ewig wohnen wolle, Ja, anstatt daß man einen Vorrath nach dem andern in unsere hochfürstl. Schatzkammer sammeln sollte, damit man im Fall der Noth nicht alles von den armen Unterthanen fordern müßte, davon man nichts anderes als ein tägliches Heulen und Wehklagen über Geld und Geld geben hören muß, so muß man leider Gott erbarm’s!, sehen und erfahren, daß solches zum verfluchten Hof‌fart und zu Narrentheidungen und Schertz, die uns als Christen nicht ziemen, muß angewendet werden, das sei Gott geklagt!«

1706.

Je weiter der Bau fortschritt, um so größer wurden die finanziellen Schwierigkeiten. Vor seiner Abreise von Kassel hatte Karl der Rentkammer eingeschärft, daß die, namentlich aus der Grafschaft Schaumburg noch restierenden Kammergefälle eingetrieben werden sollten. Eine Reihe von Beamten, darunter der Amtsschultheiß Sobbe zu Schaumburg, der seit mehreren Jahren mit den Gefällen rückständig war, erklärten sich auch bereit, auf diese alten Restanten einen erheblichen Vorschuß zu tun, wofür sie sich unter der Hand, je nach der Höhe der eingetriebenen Summen, »cum interesse« wieder bezahlt machen durften. Es scheint aber bei dieser Erklärung geblieben zu sein. Mitte Juli schrieb der Landgraf an seinen Kanzler Goeddaeus in Kassel, er gebe sich der Hoffnung hin, daß die Rentkammer nicht

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[85  Landgraf Karl. 1677–1730]

versäumen werde, um die Beamten zur Entrichtung des versprochenen Vorschusses, der sich vorläufig auf mindestens 8–9000 Taler erstrecken müsse, zu bewegen; der Kanzler, zum er das Vertrauen hege, daß er durch seinen »interponirenden Fleiß und Sorgfalt« diesen Befehl nachdrücklich unterstützen könne, möge, da bei des Landgrafen Abwesenheit keine anderen Mittel ausfindig gemacht werden könnten, die Rentkammer veranlassen, aus den einkommenden Restanten 3000 Taler zur Fortsetzung des Bauwesens auf dem Winterkasten an den Jagdschreiber Wiegand auszuzahlen. Außerdem hatte der Rentkammerregistrator Stephan Simon 1000 Taler auf die in diesem Jahre fälligen Wolfsjagdgelder aufgenommen, die ihm dann der Jagdschreiber Wiegand – der diese Gelder einzunehmen hatte – auszahlte. Gleichfalls 1000 Taler hatte der Kabinettssekretär zur völligen Bezahlung auf drei Monate dergestalt geliehen, daß ihm diese Summe von den 2000 Talern Überschußgeldern aus dem Frankenberger Bergwerke nach Ablauf der drei Monate vom Berginspektor Karl Zumben wieder ersetzt wurde.

Die Wolfsjagdgelder hatten zu dieser Zeit schon keine notwendige Berechtigung mehr. Wölfe kamen damals nur noch vereinzelt vor und demgemäß auch die Wolfsjagden. Allerdings hatten noch 1642 allein im Reinhardswald 19 Wolfsjagden stattgefunden, wozu beinahe jeden dritten oder vierten Tag ringsum alle Bauern aufgeboten worden waren; im nächsten Jahr fand man im selben Wald in drei Jagden noch sechs Wölfe. Landau berichtet, diese drückenden Fronden der Wolfsjagddienste seien 1720 in einen Geldzins veranschlagt worden, wir sehen aber, daß bereits in diesem Jahr, 1706, ein Abkauf der Wolfsjagddienste stattgefunden hatte. 1734 wurde dann auf Verlangen der Landstände auch diese Geldrente gänzlich aufgehoben.

Wie in anderen Ländern, hatte sich unter Karl auch der Zwangsankauf des geschossenen Wildprets durch die Einwohner ausgebildet, wohl aus dem ursprünglich freiwilligen Anerbieten der Leute, das Wild unter der Bedingung, daß es merklich vermindert würde, anzukaufen. Diese freiwillige Leistung wurde allmählich zur Verpflichtung. So hatte Karl auch in diesem Jahr, 1706, 2234 Stück Rotwild zur käuf‌lichen Verteilung an die Untertanen abschießen und die dafür gelösten Summen im nächsten Jahr für das Bauwesen auf dem Karlsberg verwenden lassen. Auch noch 1730 wurden rund 400 Stück Rotwild gegen einen Albus für das Pfund verteilt; die Verteilung

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[86  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) bossiert.}

geschah meist nach der Größe der Waldhuten, die die einzelnen Dörfer besaßen.

Die vornehmlich am Wasserlaufstollen arbeitenden Bergleute erhielten in diesem Jahr 1441 Taler 8 Albus.

1707–1708.

Für die Zeit vom 1. Oktober 1706 bis zum 1. Oktober 1707 – an diesem Tage lief der 1704 geschlossene Vertrag ab – wurden 18 800 Taler verordnet, und zwar 5000 aus der Ausbeute vom Richelsdorfer Kupferbergwerk, 3000 aus dem Mündischen Bier- und Brühanlizent in Kassel, 6000 aus den vom verkauften Wildpret gelösten Geldern, 3000 aus den Schaumburgischen Restanten, zu deren energischen Eintreibung »ohne weiteren Aufenthalt« die Rentkammer am 14. April nochmals angehalten wurde, 1000 aus den Wolfsjagdgeldern und 800 aus dem Frankenberger Bergwerk. Von dieser Summe bekam Wiegand 12 851 Rtlr. 17 Alb. 6 Hlr., darunter 1399 Rtr. 13 Alb. 4 Hlr. zur Bezahlung der Schulden aus 1706.

Im Januar 1708 erhielt der Stückgießer Jost Henrich Köhler 18 Taler »vor ein von einer Wasserkunst verfertigtes und ins Hauß auf der Rennbahn« (nämlich das Kunsthaus in Kassel) geliefertes Modell. Als die Kaskaden ihrer Vollendung entgegengingen, wandte man sich wieder intensiv dem Oktogon zu, von dem bis jetzt nur der Unterbau stand. Schon Ende 1704 oder Anfang 1705 – ursprünglich bestand also wohl die Absicht, das Oktogon ohne Unterbrechung zu vollenden – hatte der Bildhauer Johann Berger »ein Mottel zu dem 8eckigten Fuß in wendich zwelf Crotten von wachß felsen geposirt{*)} wie auch außwendig den Weg und den Berg mit felsen gemacht«. Außerdem war neben eingehenden Zeichnungen ein Holzmodell vom Oktogon vorhanden. Am 1. März 1708 schloß der Landgraf mit Guerniero folgenden neuen Vertrag:

»Wir Karl von Gottes Gnaden x. tun kund und zu wissen allen, die es angeht, daß Wir für gut befunden haben das Werk auf der Höhe des Berges bei Weißenstein fortzusetzen und mit Unsrem Architekten Giovanni Francesco Guerniero die Erbauung des bezeichneten Oktagon zu vereinbaren, und daß er sich angelegen sein läßt, dieses

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[87  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Soll wohl heißen: horizontal und vertikal.}

{**) Auch im französischen Original steht buchenheister. Über das Wort s. Vilmars Idiotikon von Kurhessen Seite 161.}

{***) chasseurs.}

{†) La grande conserve, der heutige Unglücksteich.}

binnen vier Jahren zu vollenden, beginnend am 1. März 1708 bis zum Ende des Jahres 1711, sowohl in der Ebene wie in der Höhe{*)}, von derselben Höhe und Länge wie in der Zeichnung und an dem Holzmodell, ohne irgend welche Änderung mit aller Sorgfalt und ohne den geringsten Fehler.

Wir versprechen ihm für diese Oktagonarbeit mit der ovalen Treppe über den Bogen die Summe von 91 554 Talern, ohne die Statuen, und auf Unsere Kosten hierzu acht Wagen zu vier Pferden und zwei Wagen zu sechs Pferden zu unterhalten, die aber nur zum Fahren aller zum Bau notwendigen Dinge gebraucht werden dürfen, jedoch mit der Einschränkung, daß sie nicht mit einem Male ruiniert werden und, wenn das eine oder andere sterben sollte, sofort auf Unsere Kosten ein anderes an seine Stelle tritt.

Wir wollen auch die zugehörigen Stallknechte unterhalten und die großen und kleinen Wagen liefern mit allem Geschirr für die Pferde.

Ebenso wollen wir ihm das nötige Holz geben, um Kalk und Kohlen herzustellen und 500 Buchenheister,{**)} um Schubkarren und andere Werkzeuge herzustellen, die die Arbeit erfordert; aber er soll verbunden sein, keinerlei Holz ohne Ermächtigung und ohne das Siegel unserer Forstbeamten{***)} fällen zu lassen und dafür Sorge zu tragen, daß die Leute und Stallknechte keinerlei Schaden in dem reservierten Gehölz oder an einer anderen Stelle des Waldes anrichten.

Zur Vollendung der Kaskaden mit denjenigen Treppen, die noch nicht fertiggestellt sind, um dort auf beiden Seiten die Steine aufzurichten, um diesen Bau gegen die Unbilden des Wetters die vier Jahre hindurch zu schützen, für den großen Wasserbehälter{†)} bei der Einmündung des großen Kanals, für die Ausbesserungen des erwähnten Kanals mit seinen Wölbungen, damit sich die Wasser nicht darin verlieren, um die große Wölbung des großen Wasserbehälters fertig zu stellen, um den Kanal bei dem Bergwerk bis zur Sichelbach

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[88  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Auch im Original Claffter.}

zu vollenden, wollen Wir ihm 4010 Taler geben, die mit der Summe für das Oktagon 95 564 Taler ausmachen. Von dieser Summe sollen ihm 4000 Taler gekürzt werden für das schon fertiggestellte Stück am Oktagon mit allen Steinen, die sich jetzt daran befinden, dergestalt, daß die Gesamtsumme aller oben genannten Arbeiten 91 564 Taler ausmacht.

Diese Summe soll folgendermaßen beglichen werden, daß man ihm jährlich 22 891 Taler auszahlt, und zwar wird diese Jahressumme derart eingeteilt werden, daß man ihm am 1. April 9000, am 1. August 9000, am 1. November den Rest ingestalt von 4891 Talern giebt. Im darauf‌folgenden Jahr wird man ihm am 1. Januar 6000, am 1. April 6000, am 1. August 6000, am 1. November 1891 Taler zahlen, und in gleicher Weise wird man in den beiden andren folgenden Jahren fortfahren.

Wir geben dem genannten Architekten die Versicherung, daß ihm sein Geld pünktlich ohne Aufschub bezahlt werden soll, und falls die Auszahlung dieser Summen nicht unverzüglich erfolgen sollte, wollen Wir ihm die Verluste, die ihm dadurch entstehen könnten, ersetzen. Nach Ablauf der vier Jahre wollen Wir ihm zu einem angemessenen Preis alle Tannenstämme und Bretterbohlen wieder abkaufen, die er in diesen vier Jahren angekauft hat.

Für seine Strapazen und für seine Mühen wollen Wir ihm über diesen Akkord hinaus 1500 Taler jährliche Gage zahlen, die vom 1. April dieses Jahres beginnen soll; und er soll seine Bezahlung alle drei Monate bekommen, 40 Taler Hausmiete und 30 Klafter{*)} Holz für seine Haushaltung; auch wollen Wir ihm zwei Pferde geben, die auf Unsere Kosten besorgt werden sollen.

Zu Urkund dessen haben Wir zwei gleichlautende Exemplare dieses Akkords herstellen lassen, französisch, von Unserer Hand gezeichnet und mit Unsrem Siegel gesiegelt, das andre italienisch, unterzeichnet und gesiegelt von ihm, Guerniero.

Geschehen zu Cassel am 1 März 1708.«

Über die bedeutenden Ausgaben dieses Jahres und deren Deckung haben wir eine genaue Aufstellung des Kabinettsekretärs v. Lindern:

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[89  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Diese aus den Kammerintraden bewilligten 3000 R. hatte Müller sukzessive, und zwar wöchentlich 200 R. bis zur völligen Abtragung der Summe, aus den »paratissimis« an Guerniero auszuzahlen.}

{**) Von dieser Summe hatte der Registrator und Bierlizenteinnehmer Simon monatlich 166 ⅔ R. an v. Lindern auszuzahlen.}

{***) Diese 4000 R. aus der Kriegskasse stammenden Überschußgelder, die im Silbergewölbe bei Hof aufbewahrt wurden, erhielt v. Lindern als Vorschuß mit der Bedingung, daß sie aus den für 1709 für den Bau auf dem Winterkasten verordneten Verlagsgeldern wieder ersetzt und ins Silbergewölbe zurückgeliefert wurden. Verwandt wurden sie zur Bezahlung Guernieros.}

{†) Jährlich also 2466 ⅔ Taler.}

{††) Jährlich also 966 R. 5 Alb. 44 45 H., trotzdem der neue Akkord vom 1. April ab 1500 R. festsetzte.}

Einnahmegeld
zum Bauwesen aufm Winterkasten pro anno 1708.
       Rthlr. Alb. H.

  1. Aus Fürstl. Kammerschreiberei von dem Kammerrat George Caspar Müller empfangen.  
    3000 [– –]{*)}
  2. Aus der Kriegskasse von dem Kriegspfennigmeister Thalmann    
    6000 [– –]
  3. Vom Richelsdorfer Bergwerk durch den Inspektor Johann Christoph Arend empfangen    
    4000 [– –]
  4. Aus dem Bierlizent von dem Registrator Simon bar empfangen   
     2000 [– –]{**)}
  5. Aus den Wolfsjagdgeldern von dem Jagdschreiber Wiegand empfangen    
    1000 [– –]
  6. Aus verkauftem Schwarzwildpret geliefert empfangen    
    2800 6 6
  7. Ferner aus der Kriegskasse laut gnädigstem Befehl de dato im Lager vor Lille d: 25 Augusti 1708  
    6000 [– –]
  8. Mehr aus der Kriegskasse bei Ihro Durchlaucht Abwesenheit auf Assignation des Kriegsrat Klaute durch den Registrator Chuno gegen meine Quittung empfangen    
    1000 [– –]
  9. D. 24. Decembris auf Ihro durchl. gnädigsten Befehl vorschußweise von den im Silbergewölbe deponierten Geldern empfangen    
    4000 [– –]{***)}
    Summa aller Einnahmegelder in diesem Jahr tut  
    29800 6 6

Ausgabegeld
zum Bauwesen aufm Winterkasten anno 1708.

  1. Dem italienischen Baumeister Francesco Guerniero vermöge gemachten Kontrakts pro hoc anno bar bezahlt laut Quittung    
    22891 [– –]
  2. Demselben an gnädigst verordnetem tractement vom 1. Octobris 1707 bis 1. Marty von 5 Monaten laut Quittung    
    1027 24 10{†)}
  3. Demselben an gnädigst verordnetem tractement vom 1. Marty bis letzten Decembris von 10 Monaten laut gemachten Akkords laut Quittung    
    805 17 10{††)}
  4. Mehr demselben zum jährlich gnädigst verordneten Hauszins für dieses Jahr bezahlt    
    40 [– –]
    Summa, so der Baumeister in diesem Jahr empfangen  
    24764 10 8
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[90  Landgraf Karl. 1677–1730]

    Rthlr. Alb. H.
    Summa, so der Baumeister in diesem Jahr empfangen  
    24764 10 8

  • Der Jagdschreiber Wilhelm Wiegand hat in diesem Jahr zur Bezahlung der Arbeitsleute, Steinfuhren und Materialien, auch anderem Behuf, von den dazu gnädigst destinierten Geldern unter der Hand bar von mir empfangen und wieder ausgegeben  
    4311 10 10
  • Auf gnädigsten Befehl dem Stückgießer Jost Henrich Köhler für zu den Fontänen auf dem Winterkasten verfertigte Hähne, Röhren und Platten  
    620 [– –]
  • Dem Kauf- und Handelsmann allhier Joh. Christoph Rausch für gelieferte allerhand Materialien zum Behuf dieses Bauwesens  
    607 25 [–]
  • Demselben für abermals gelieferte Materialien  
    164 25 [–]
  • Dem Kaufmann Ephraim Limbach allhier für gelieferte 49 Zentner 28 lb Muhlenblei  
    221 21 4
  • Den italienischen Steinmetzen Reisegeld zur Abholung der Maurer und Steinmetzen aus Tirol und Italien  
    40 [– –]
  • Dem Jagdschreiber Wiegand vom 4. März bis ultimo dec. gnädigst verordnetes Kostgeld à 2 R. wöchentlich  
    86 [– –]
  • D. 3. Dezemb. dem Juden Joseph Levi allhier Interesse von 800 Rthlr., so er auf 4 Monate als 3. Aug. bis 3. Dez. dieses Jahres vorgeschossen  
    16 [– –]
  • Dem Registrator Simon halbjähriges Interesse von 1000 R., so er auf den Bierlizent vorgeschossen  
    25 [– –]
  • Summa Summarum aller Ausgabegelder zum Bauwesen auf dem Winterkasten in Anno 1708 tut  
    30 856 28 10
  • Mit der Einnahme verglichen ist mehr ausgegeben worden  
    1056 22 4

     Kassel, 12. Febr. a. 1709.      B. v. Lindern.

In dieser Rechnungsablage ist bemerkenswert der Umstand, daß es wieder einmal an tüchtigen Maurern, die zum Bau des Oktogons verwandt werden sollten, mangelte; ferner weisen verschiedene Posten darauf hin, daß bereits die Anlage der eigentlichen Wasserkünste im Gange war; wie wir noch sehen werden, konnten diese bereits in Funktion treten. Auch die finanziellen Schwierigkeiten tresen unverkennbar zutage.

1709.

Aus 1709 waren Rechnungsbelege nicht aufzufinden; wir wissen nur aus einer Aufstellung vom September, daß Guerniero von den ihm auch für dieses Jahr zukommenden 22 891 Talern die ersten drei Raten mit 21 000 Talern pünktlich erhalten hat. Das Jahr war ein Unglücksjahr; das zeigt eine Reihe von Gnadengesuchen. Eins davon trägt die merkwürdige Aufschrift: »Supplication à Son

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[91  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Also auch französische Steinmetzen arbeiteten am Oktogon.}

{**) Winterkasten.}

Altesse Serenissime de Jacque Montandon tailleur de Pierre{*)} a Wentergasse«{**)}

Es bezieht sich auf einen am 28. November 1709 in den Arbeitshütten auf dem Winterkasten ausgebrochenen Brand. Der Bittsteller Montandon, ein Familienvater, der erst seit einem Jahr in Arbeit stand, verlor bei diesem Brand seine gesamte Habe und rettete nichts als sein nacktes Leben und das eines Knaben – wohl seines Sohnes –, der bei ihm nächtigte. Er erhielt die übliche Unterstützung von sechs Talern. Nach einem Gesuch des Handlangers Paul Mordt scheint es fast, als ob kurz darauf wieder ein Brand an dieser Stätte ausgebrochen sei; da Montandon sich aber als den zweiten der vom Brandschaden Betroffenen bezeichnet und Mordt vierzehn Tage nach ihm mit der gleichen Unterstützung bedacht wird, ist wohl trotz der Bezeichnung »aber mahlen« anzunehmen, daß er der andere Geschädigte war. Seine immerhin charakteristische Bittschrift lautet:

»Ew. Hochfürstl. Durchl. ist ohne ferneres erinnern gndst. bekanndt, wie daß jüngsthin durch ein unvermuthetes Feuer abermahlen ein hauß auf dem Winterkasten ganz abgebrennet. Wann nun, Durchleuchtigster fürstl. gnädigster Fürst und Herr, mir armen 10 Jahre lang in dero diensten gestandenen Mann unter andern dieß unglück am meisten getroffen, daß mir alle meine armuth dabey eingeäschert worden, daß dannen hero nicht weiß, wo ich mit meinem armen Weib und Kindern unßers Lebens aufenthalt finden und uns bedecken mögen. Alß ist demnach an Ew. Hochfürstl. Durchl. mein unterthänigste Bitte, Sie gnädigst geruhen wollen in ansehung meiner bey dem Bauwesen ufm Winterkasten geleisteten vieljährig sauren Diensten wovon ich Lahm und Krumm worden, mit einer gndst. Beysteur zu erhohlung meines schadens mich zu begnadigen, Solches ...

      Ew. Hochfürstl. Durchl. Unterthänigster Knecht
      Paul Mordt.«

Gleichfalls noch 1709 stürzte ein anderer Arbeiter recht unglücklich von einem Gerüstturm und wandte sich dann in einem von Guerniero beglaubigten Schreiben an Landgraf Karl:

»Ew. Hochfürstl. Durchlt. Unterthänigst und Wehmütigst vorzubringen Wie das alß vergangenen Donnersdag den 10. octobr auf dem Weißenstein bey der herrschaftl. Arbeit allda beordert worden bin und gar einen unglücklichen Fall gethann so daß vom Gerüste vom Dorm herunter allwo Kalck undt andere materialien werden hinauf gefahren gefallen bin, so daß die Lenden gantz aus den Hüften gefallen wie dann auch ein Loch ins Bein und Arme gefällen undt

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[92  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) September.}

nun Miserabel liege und solches durch den Balbier heilen lassen muß, daß mich also gar Kranck zu bette befinde, und weile mir auch Ein stücke vom Hauße umgefallen und im bauen begriffen gewesen solches wiederumb zu reparieren, nunmehr aber selbiges müssen liegen laßen, wiewohl ich ohne dehm ein armer Mann und nicht viele im vermögen habe

Alß gelangt demnach an Ew. Hochfürstl. Durchl. Meine Unterthänigste Höchst Fleißigste bitte Sie geruhen, gdst. angeführter Motive halber, mir eine beliebige Steuer Zu meinem Artzelohn aus gnad. verhandreichen zu laßen, Solches wird der gütige Gott ein reicher vergelter seyn und Ew. Hoch Fürstl. Durchl. bey guter gesundheit u. langem Leben gnädig erhalten, und Ich mit meinem gebett vor dieselbe nicht nachlaße.

      Ew. Hoch Fürstl. Durchl. Unterthänigster u. gehorsambster
      Johann Jost Weiß
      armer Unterthann in der Dorfschaft Dörnberg
      Ambts Cassel.«

Ihm wurde der »Artzelohn« von 6 Talern bezahlt, über dessen Empfang dann der »Balbier« David Runge quittierte.

Auch die nicht unmittelbar auf Betriebsunfälle zurückzuführenden Krankheiten der Arbeiter wurden auf des Landgrafen Kosten kuriert. Das zeigt eine vom Chirurgen Kostnitz aufgestellte summarische

»Specification der jenigen Kranken und patienten, so ich vom 25. augst. biß zu endte dieses Jahres 1709 bey dem Bauwesen auf dem Winterkasten gehabt habe.

  • D. 26. augst. Georgio Krunio so schaden in dem Mundt bekommen das ihm das Zahnfleisch von den Zähnen ist abgefaulet habe denselben 4 wochen lang verbunden und curirt      4 Rthlr.
  • d. 28. dito. Den Schirmeister so eine dysenterie bekommen welchen 5 wochen lang stets bedienet und curirt      6 Rthlr.
  • d. 1. 7b{*)} hanß adam Bürger so einen starken fluß bekommen das ihm der ganze Halß ist zugeschwollen, worauf sich dann ein groß geschwer unter der linken maxilla inferiora gesetzt, welches ich habe öffnen müßen, da sich dann eine Cavität biß in die mitte der maxilla gefunden, hernach habe noch eine incision thuen müßen, umb der materi luft zu machen undt habe ihn 13 wochen in der cur gehabt      26 Rthlr.
  • d. 5. 7b. Johannes Wießener Steinhauer so durch heben eines steins die Hand in der junctur außeinander gezogen, wodurch eine große Geschwulst undt inflamation entstanden, undt ist hernach aufgebrochen, habe denselben 6 wochen lang in der cur gehabt und vollig curirt      10 Rhtlr.
  • Eodem. Sevenin Schultz maurer, welchem ein stein auf die Brust gefallen, das ihm die gantze Brust davon aufgeschwollen gewesen, das er hatt 3 Wochen müssen zu Bette liegen, habe denselben 5 wochen lang in der cur gehabt undt vollig curirt      7 Rthlr.
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[93  Landgraf Karl. 1677–1730]

  • d. 5. 7b. Einem Bergmann von Wahlershausen welchem ein großer Stein auf den Fuß gefallen und den Fuß gantz zerquetschet und gantz inflamiret habe denselben 5 wochen lang verbunden undt völlig curiret      8 Rthlr.
  • d. 12. dito. Johannes Dam Handtlanger so an der Dysenterie 4 wochen gelegen habe denselben curirt      5 Rthlr.
  • d. 1. 8b. Conrad Seger Handtlanger von Oberzweren welchem ein felsenstein auf den rückrath gefallen wovon der rücken gantz beschädigt das ihn habe 6 wochen täglich drausen müssen bedienen      9 Rthlr.
                                                                                       Summa 75 Rthlr.
    Cassell 29. Xb. 1709.                                                        Kostnitz.«

Daneben steht der Vermerk:
      Daß oben gesetzte acht patienten bey der arbeit auf dem berge bey Weisenstein sich befunden undt von dehm Chirrurgo Herrn Costnitz wider seindt zu recht gebracht worden, wird hiermit attestiret.
                                                                                         von Hattenbach.

Die Rechnung wurde nach dem auch sonst üblichen Verfahren auf 50 Taler moderiert. Übrigens erhielt Kostnitz fortab ein jährliches Fixum für die Behandlung der Arbeiter auf dem Winterkasten. Die Patienten wurden oft auch in »volle Pension« genommen. So hatte schon 1708 eine Witwe Ziegler aus Kassel einen auf dem Karlsberg beschädigten Schweizer gegen 24 Taler zwölf Wochen »in logiment am Tisch und in aufwartung« gehabt. Auch Kostnitz hatte auf Anweisung von Hattenbachs den im Steinbruch auf dem Winterkasten »durch ein stück erdt und stein gantz zu schaden gefallenen Christoffel Meile« während der achtwöchigen Kur mit Essen und Trinken verpflegt, wofür er die Woche 2 Rtlr. berechnete; für einen Bauern aus Nordshausen, der sich im Herrendienst beim Hacken des Holzes für den Kalkofen verletzt hatte, bekam er außer den Kurkosten noch 2 Taler »wegen vorgeschossener Lebensmittel«. Einige Monate später verunglückten zwei Handlanger, Hildebrandt und Elenau, und legten in einer gemeinsamen Bittschrift dem Fürsten dar, daß sie »nunmehro für den artzt in der Curc liegen und einigermaßen große Schmertzen ausstehen« müßten, auch mit Weib und Kind großen Mangel an der Nahrung litten, was ihnen gar schmerzlich zu Herzen gehe. Auch Elenaus Ehefrau hatte sich auf eigne Faust an Karl um eine Gnadensteuer gewandt, damit sie dem schmerzhaften Mann, der sich beim Heben wehe getan habe und »das Bett halten« müsse, und die armen kleinen Kinder desto besser durchbringen könne. Beide Handlanger erhielten eine »Steuer« von je zwei rheinischen Gulden.

Zur Fortführung des Baus ließ Karl sich im Mai vom Kriegsrat

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[94  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Arrérages, nämlich Subsidiengelder.}

{**) Am 26. April 1712 erhielt des Hofmalers Harmes Wittib für Malerarbeiten zum Modell am Winterkasten 52 R. 16 Albus.}

{***) In Eberhard Rudolph Rothes 1714 zu Ulm erschienenen »Denkwürdigkeiten« heißt es dagegen: »Ein schönes Haus, Weißenstein genannt, an den Fuß eines Hügels, gantz mit bäumen besetzt, da Ihro durchlaucht des Sommers offtmahls dero Versammlungs-Platz zur Jagd hat.«}

Baron von Goertz gegen Obligation 10 000 Taler vorschießen, die dieser nach Jahresfrist nebst 500 Talern Zinsen aus den bei Hof in Vorrat liegenden englischen Rückständen{*)} zurückerhielt.

In diesem Jahr begann der Modellist Wachter ein genaues Holzmodell der Wasserwerke auf dem Karlsberg herzustellen; es befand sich ursprünglich in einem Raum des Kunsthauses, nach seiner Vollendung in dem unterhalb der Rennbahn an der kleinen Fulda eigens erbauten Modellhaus, bis es unter Landgraf Wilhelm IX. in das neue Modellhaus am Holländischen Tor gebracht wurde.{**)} Es hatte eine Länge von 220 Fuß und nahm die ganze Länze des Gebäudes ein. Mit allen übrigen Modellen aus der Zeit Karls wurde es unter Jérôme verkauft. 1709 besuchte der Frankfurter Schöffe und Ratsherr Zacharias von Uffenbach die Anlagen auf dem Karlsberg und erzählt in seinem großen Reisewerk von einem Bassin, in dem der Strahl einer Fontäne, »wie der Baumeister versichert, unglaublich und zwar hundert und zwanzig Schuh hoch steigen soll, ohne künstliche Maschinen und Druckwerke, sondern bloß und allein durch den natürlichen Fall des Wassers«. Uffenbach fährt dann fort, er habe mit den ihn begleitenden Personen über die Ausführbarkeit einer solchen Fontäne gestritten und schließlich dem Kasseler Professor der Physik, Herrn Wolfarth, beipflichten müssen, der diese Ausführbarkeit auf Grund unumstößlicher Gesetze widerlegt habe. Der Frankfurter Ratsherr gibt uns auch eine ausführliche Beschreibung seines Besuches der Anlage. Das Weißensteiner Schloß, bei dem er außer einigen Fohlen und Mauleseln einen vom König von Preußen geschenkten Auerochsen sieht, macht in seinem schlechten Zustand keinen Eindruck auf ihn,{***)} so daß er ohne Aufenthalt daran vorbeifährt; um so mehr ist er erstaunt, als er dann bei den Kaskaden aussteigt, die auf 480 Stufen gebracht waren. Dergleichen werde man wohl, erklärt der weitgereiste Herr, in der ganzen Welt nicht wiederfinden. Das Oktogon war noch nicht vollendet, aber die Wasserkünste konnten mitsamt den Vexierwassern schon in Tätigkeit gesetzt werden. In

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[95  Landgraf Karl. 1677–1730]

der obersten Grotte waren bereits die inwendig al fresco »gemalten« Seitenpavillons zu Speisekabinetts für den Hof eingerichtet; auch das darunter befindliche Bassin mit der Fontäne des Enzeladus war fertig, ebenso standen der Zentaurus und Faunus nebst vier anderen Gipsstatuen schon an ihrer Stelle. Uffenbach erwähnt noch einen in viertelstündiger Entfernung auf dem Berg gelegenen Tiergarten »mit allerhand Wild in größter Menge angefüllt«; wo dieser gelegen haben mag, wissen wir nicht; der bei der späteren Löwenburg befindliche, nun auch längst wieder eingegangene Tiergarten war eine Schöpfung Wilhelms IX. Wenn er weiter mitteilt, daß das Werk »vor das große Haus, so in einen köstlichen Palast soll verwandelt worden, herunter geführet werden« soll, so spricht das auch dafür, daß die ursprünglich ins Auge gefaßte und auf den Kupfern Guernieros berücksichtigte Ausdehnung doch noch als ein Objekt nicht unmöglicher Ausführung bestehen konnte. Er berichtet auch, daß Guerniero sich verpflichtet habe, den Bau binnen fünf Jahren zu vollenden und jährlich 3000 Reichstaler »nebst anderen Douceurs als freier Jagd und Fischerei«, beziehe.

1710.

Seit diesem Jahr rief eine eigens vom Stückgießer Köhler neu gegossene 25pfündige Glocke die Leute auf dem Karlsberg von und zu der Arbeit.

Ausgesetzt wurden für 1710 vorläufig 24 000 Reichstaler; davon entfielen aus den Einkünften des Richelsdorfer Bergwerks 4500 R., die Inspektor Arend im Laufe des Jahres nach und nach an den Kabinettssekretär abzuführen hatte, aus den Frankenberger Bergwerksintraden 2000 R., durch den dortigen Berginspektor Wiederstein zu liefern, aus dem in Kassel einkommenden Bier- und Brühanlizent 2000 R. und aus dem bei Hofe befindlichen Vorrat alter englischer Subsidiengelder 15 500 R., einschließlich der 1500 Taler betragenden Gage für den Baumeister. Außer den vereinbarten 22 1891 R. erhielt er für geleistete Extrafuhren (aus 1709 und dem ersten Quartal von 1710) noch besonders 651 R. ausgezahlt. Jagdschreiber Wiegand erhielt, da die Bezahlung der Arbeitsleute Sache Guernieros war, nur 211 R. 3 Albus, mit denen außerhalb des Akkords liegende Ausgaben bestritten wurden, so die Monatsgehälter für den Röhrengießer J. Schreyer und dessen Handlanger, für den neu angestellten Kaskadenaufseher

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[96  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Amt Ahna, Amt Bauna, amt Neustadt. Sie lagen um die Hauptstadt herum und unterstanden dem Kasseler Landgericht.}

{**) Die Differenz um ein Jahr will nichts besagen.}

Pfaff, den Tagelohn für verschiedene Handlanger, die die Kanäle sowie die Kaskaden und Treppen gereinigt und auf den Kaskaden die »Fugen gestopfet« hatten usf.

Der Stückgießer Köhler legte die letzte Hand an die Röhrenleitungen, schraubte die mächtigen Hähne an, darunter allein drei zur Enzeladusfontäne, die mit 32 großen Schrauben an die Röhren befestigt wurden. Als die Räder und Stangen an der Winde und dem Hahn vor dem Hauptreservoir, durch den das Wasser in den Kanal lief, dreimal hintereinander zerbrachen, wurde ein Uhrmacher zur Reparatur herangezogen.

Im Mai wurden die Gemeinden der drei Kasseler Ämter{*)} zur »Arbeit am Kanal unter Weißenstein« herangezogen. Nähere Lage und Zweck dieses Kanals ist in den Belegen nicht angegeben und wird auch sonst nicht erwähnt. Einen Hinweis bietet uns vielleicht ein Extrakt aus dem Grundzinslagerbuch von Rothenditmold aus 1746, worin eine »Mauerwiese an den Weißensteiner Teichen bei dem Hagen und an den herrschaftlichen Wiesen, wodurch ao. 1709{**)} ein Wehr oder Mühlengraben gemacht worden«, erwähnt wird. Diese zwischen den herrschaftlichen Wilhelmshöher Wiesen und dem Burgfeld gelegene Mauerwiese wurde, wie wiederum ein Extrakt aus dem Wahlershäuser Steuerkataster ergibt, später zur Anlage des Lac mit hinzugenommen. Offenbar handelte es sich also um einen Abflußkanal der alten Fischteiche, in deren Nähe die einstige Klostermühle gelegen haben muß, oder, was noch wahrscheinlicher ist, um einen Abfluß der Kaskadenwasser. An diesem Kanal wurde ohne Unterbrechung vom 10. Mai bis zum 23. September 1710 gearbeitet, mit Ausnahme der Sonntage und der monatlichen Bettage; auch bei Regenwetter wurde die Arbeit für den ganzen oder halben Tag eingestellt. So heißt es unterm 9. September in den Lohnzetteln: »Des Regenwetters halber einen halben Tag gearbeitet, einer aber den ganzen Tag.« Die Leute erhielten täglich 4 Albus, der die Aufsicht führende und in Wahlershausen einquartierte Wallmeister wöchentlich 1 Taler. Es arbeiteten in der ersten Woche 11 Gemeinden aus dem Amte Ahna, in der zweiten 12 Gemeinden aus dem Amte Neustadt, in der dritten 13 Gemeinden aus dem Amte Bauna usf. Die

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[97  Landgraf Karl. 1677–1730]

Verteilung in der ersten Woche war z.B. folgende: Am 12. Mai erschienen aus Simmershausen 44 und aus Harleshausen 46 Mann, am 13. Mai aus Wolfsanger 63 und aus Ihringshausen 38 Mann, am 14. Mai aus Frommershausen 11, aus Niedervellmar 33, aus Obervellmar 37 Mann, am 15. Mai aus Heckershausen 21 und aus Dörnberg 61 Mann, am 16. Mai aus Weimar 74 und aus Fürstenwald 27 Mann. Zum 17. Mai waren aus Ehlen 43, aus Burghasungen 28 und aus Wenigenhasungen 19 Mann befohlen, in den Lohnzetteln heißt es aber: »Diese 3 Gemeinden seindt ungehorsamb und halßstarrig geweßen, auch nicht arbeiten wollen, deßwegen ihnen nichts gezahlt worden.« Am 17. Juni war Waldau nicht erschienen und trat erst am 30. Juni mit 35 Mann an, dann wieder am 21. August mit 38 und am 13. September mit 43 Mann. Es wird manchem willkommen sein, einen genauen Überblick über diese Handdienste zu bekommen; ich habe deshalb die nachfolgende Tabelle aufgestellt, nach der in der angeführten Zeit von 46 Ortschaften insgesamt 7838 Mann herangezogen wurden. Die stärkste Anzahl stellte Weimar, die geringste Dittershausen.

Es stellte        an Tagen  Personen

  1. Oberzwehren  13  137
  2. Wolfsanger  6  367
  3. Ihringshausen  6  191
  4. Ölshausen  6  173
  5. Heckershausen  6  117
  6. Weimar  6  341
  7. Niederkaufungen  5  318
  8. Oberkaufungen  5  308
  9. Dörnberg  5  306
  10. Großenritte  5  300
  11. Vollmarshausen  5  282
  12. Elgershausen  5  273
  13. Wahlershausen  5  268
  14. Heiligenrode  5  260
  15. Harleshausen  5  228
  16. Wehlheiden  5  221
  17. Waldau  5  209
  18. Bettenhausen  5  198
  19. Simmershausen  5  191
  20. Sandershausen  5  184
  21. Kirchditmold  5  176
  22. Ehlen  5  176
  23. Obervelmar  5  174
  24. Niedervelmar  5  160
  25. Dörnhagen  5  159
  26. Krumbach  5  157
  27. Martinhagen  5  148
  28. Burghasungen  5  126
  29. Altenbauna  5  119
  30. Wenigenhasungen  5  107
  31. Nordshausen  5  104
  32. Kirchbauna  5  103
  33. Eiterhagen  5  101
  34. Dennhausen  5  84
  35. Altenritte  5  83
  36. Rotenditmold  5  81
  37. Bergshausen  5  74
  38. Hertingshausen  5  60
  39. Guntershausen  5  55
  40. Frommershausen  5  50
  41. Niederzwehren  4  259
  42. Fürstenwald  4  103
  43. Ochshausen  4  79
  44. Wattenbach (!)  4  76
  45. Rengershausen  4  72
  46. Dittershausen  4  22
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[98  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Nach Landau (Malerische Ansichten von Hessen, 1842, Seite 148, betrugen die Kosten des ganzen Baues 700 000 Taler.}

Ausgezahlt wurden 970 R. 24 Albus, überhaupt für den Kanal verausgabt 1107 R. 6 Hlr., wozu »die von Schwerin anhero übermachten 2000 R.« (?) verwandt wurden.

Außerordentlich bemerkenswert ist, daß Karl sich auch um diese Zeit noch mit dem Gedanken eines Schloßneubaus trug. Er befahl dem Modellschreiner Matthias Müller die Anfertigung eines Modells »von dem zu Weißenstein zu bauen gewillten neuen Schloß«. Müller erhielt vom 1. Juni 1710 an bis zu der Zeit, wo das Modell fertig sein würde, wöchentlich drei Taler Lohn zugesagt. Eine Reihe von sauber gezeichneten, im Staatsarchiv zu Marburg aufbewahrten Entwürfen aus dem Übergang des Barocks zum Rokoko dürften wohl mit diesem Plane des Landgrafen zusammenhängen.

Ende dieses Jahres betrug die bis jetzt für das Bauwesen auf dem Winterkasten aus den Kabinetsintraden verausgabte Summe rund eine Fünftelmillion Taler. Wir besitzen aus Ende 1710 zum erstenmal eine genaue Zusammenstellung der Ausgaben in den einzelnen Jahren, durch die die früheren Rechnungsablagen ergänzt und berichtigt werden. Hiernach wurden vermöge abgelegter Rechnung verausgabt:

Im Jahre  Rtlr.  Albus  Heller

1696        705   16  10
1697        627    24  –
1698        2743   21  –
1699        3300  2  6
1700        1532  31  6 ⅔
1701        2515   1  9 ⅓
1702        8786  31  1 ⅓
1703        12551  17  4 ⅔
1704        21588  5  6
1705        22912  30  11
1706        21333  17  11
1707        18222  26  10
1708        30878  –  10
1709        26013  14  10
1710        26295   6  10

Gesamtsumme 200 007  21  4{*)}

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[99  Landgraf Karl. 1677–1730]

1711–1712.

1711 war das vierte und letzte Jahr, für das zur Vollendung des Oktogons 22 891 Taler ausgesetzt worden waren. Wir hören nur von zwei Einnahmequellen, die zur Beschaffung dieser Summen herangezogen wurden, 4500 R. aus der Ausbeute des Richelsdorfer Bergwerks, und 2000 R. aus den Bierlizentgeldern, die Simon zunächst vorschußweise gegen Zinsen aufzubringen und an v. Lindern auszuzahlen hatte. Die übrigen Belege mögen verloren gegangen sein. Über den Fortschritt der Arbeiten erfahren wir nichts; es scheint jedoch, daß das Oktogon zu dem vereinbarten Termin nicht fertig wurde.

Entweder Ende 1710 oder Anfang 1711 ließ der Landgraf eine aus zwanzig Speziesdukaten angefertigte goldene Medaille durch Guerniero nach Rom senden; jedenfalls wurde sie dem Empfänger durch den Architekten persönlich überbracht.

1712 wurde von der Füllentränke aus mit der Anlage eines neuen Zuflußkanals nach der Sichelbach begonnen. Auch wurde der in der Nähe des Schlosses gelegene und zum großen Teil verfallene Muschelstollen, dessen Spur nicht mehr aufzufinden zu sein scheint, einer größeren Reparatur unterzogen, bei welcher Gelegenheit eine große Zahl von Muscheln gesammelt und in das landgräf‌liche Mineralienkabinett abgeliefert wurden.

Seit dem 1. November 1712 war Thile Miller als Aufseher über die Kaskaden und Treppen bestellt.

1713–1714.

In diesen beiden Jahren nahm die Arbeit am Wasserkanal von der Füllentränke zur Sichelbach ihren Fortgang. Die Ausschachtungen fanden unter Aufsicht des Miniermeisters Jung statt. 1714 erforderte dieser Kanal allein einen Kostenaufwand von 1331 R. 22 Alb. 7 Hlrn., der aufging in Arbeitslohn für die Bergleute, Maurer, Holzschnitter, Kalksteinbrecher, Kalkbrenner – für die der Inspektor Holzhausen im Berghaus auf dem Habichtswald die Kohlen lieferte –, Artillerieknechte, Marställer, Schmiede, Wagner und Zimmerer. Als ein Teil der das Wasser zuführenden Röhren schadhaft geworden war, mußte der Graben wieder aufgeworfen werden. Der Wasserkanal wurde zum Teil ausgemauert und überwölbt, der Triebsand verzimmert. \

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[100  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Nicht Malpini, wie Rommel X, S. 144 und Hoffmeister in seinen »Gesammelten Nachrichten über Künstler und Kunsthandwerker in Hessen«, S. 72 angeben.}

Ein betrüblicher Fall ereignete sich 1713 am Oktogon. Ein mittelloser französischer Handlanger, Michel Dijout, der erst zehn Monate auf dem Karlsberg beschäftigt war, stürzte durch Umkippen eines Brettes 80 Fuß in die Tiefe und brach beide Schenkel. Karl steuerte ihm 8 Taler; Dijout quittierte hierüber am 5. Januar 1714 bat aber, da er durch den Sturz zeitlebens zum Krüppel und arbeitsunfähig geworden war, in einer flehentlichen Eingabe um eine kleine Pension, worauf ihm »zu seiner benötigten Subsistenz auf 2 jahr lang monatlich 2 rheinische Gulden aus gnaden verordnet und eingewilliget« wurden. Daß ihm dieses »gnaden-Tractament« dann verlängert wurde, zeigen die Belege zur Kabinetsrechnung von 1718, unter denen sich eine Quittung Dijouts über die für dieses Jahr bezogene Pension von 24 rhein. Gulden (18 R. 21 Alb. 4 H.) befindet. Im selben Jahr quittiert der 1709 auf dem Winterkasten abgebrannte Handlanger Paul Mordt als Vormund der Kinder seiner Tochter, die ein Gnadengehalt von wöchentlich 26 Albus bezogen, über 42 R. 8 Albus. Offenbar war sein Schwiegersohn umgekommen und vielleicht identisch mit dem tödlich verunglückten Zimmermann Schäfer, dessen Witwe seit 1715 ein Gnadengehalt bezog.

Seit Juni 1713 fanden bereits die Kupferlieferungen für die Herkulesstatue statt, deren Herstellung wir unten im Zusammenhang betrachten wollen. Die erste Auf‌lage der »Delineatio Montis«, des Guernieroschen Kupferwerkes, zeigte als obersten Abschluß der Anlage das Oktogon mit einer, von zwei kleinen, fahnengeschmückten Türmchen bestandenen Plattform. Die Brüstung trägt eine Reihe von Statuen. Erst in den letzten Ausgaben sehen wir auf der Vorderseite des Oktogon, dessen Balustrade hier übrigens andere Figuren zeigt, die aus vier Stockwerken bestehende Pyramide mit der Herkulesstatue. Auch die Pyramide trägt auf der Vorderseite reichen Figurenschmuck und am Fuß die Porträtbüste des Landgrafen. Zur Rechten und Linken des Oktogon erheben sich auf Hügeln zwei mit den Statuen des Herkules und der Venus gekrönte Tempel, die auch im Innern figürlichen Schmuck aufweisen. Es ist – auch nach dem örtlichen Befund – möglich, daß diese beiden Nebenbauten einmal wirklich ausgeführt waren; merkwürdig ist jedenfalls, daß eine vom italienischen Bildhauer Maldini{*)} noch im Jahre 1726 angefertigte

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[101  Landgraf Karl. 1677–1730]

Relieftafel in Karraramarmor – sie hängt jetzt im Unterstock der Kasseler Gemäldegalerie – und ebenso die noch zu erwähnenden Gemälde Nickoles diese Tempelbauten mit darstellen.

Als der Entschluß, das Ganze mit der Herkulesstatue zu krönen, feststand, war die weitere Folge die Erbauung einer Pyramide, die zwischen Karl und Guerniero in folgendem, vom 30. September 1713 datierten Kontrakt vereinbart wurde:

»Wir Karl von Gottes Gnaden Landgraf von Hessen x x, tun kund und zu wissen, daß wir in dem Wunsche, daß unser Architekt Fr. Guarniero in Unsren Diensten weiter arbeitet, ihm den Auftrag geben und mit ihm übereingekommen sind, wie in folgenden Artikeln enthalten ist:

1. Er wird eine Pyramide errichten auf dem Oktagonwerk bei Weißenstein, die erbaut sein soll gemäß der Zeichnung AO; wie an dem Modell, das gemacht werden wird, ersichtlich ist, soll sie ganz aus Quadersteinen sowohl nach innen wie nach außen hergestellt sein und eine Treppe in der Mitte enthalten, die Verzierungen, Fenster, Altanen und das Piedestal; sie soll mit eisernen Ketten aufgerichtet und gehalten werden, um jeglicher Gefahr vorzubeugen. Im Postament der Pyramide soll es einen kleinen Saal mit Fenstern und vier Nischen geben, wie an der Zeichnung ersichtlich ist.

2. Das ganze oben genannte Werk soll erbaut und vollendet werden auf Kosten und Gefahr des genannten Architekten, dergestalt, daß, wenn irgend eine Beschädigung vorkommen oder das Werk nicht der Zeichnung entsprechen sollte, genannter Architekt es auf seine Kosten wieder neu machen soll, ebenso wenn das Oktagon durch die große Belastung leiden sollte oder irgend ein Schaden entstehen sollte durch die schweren Steine, wenn diese etwa heruntergeworfen werden sollten.

3. Da genannter Architekt 6000 Steine von der Dicke und Länge, wie er sie nötig haben wird, erbeten hat, ist man beiderseits übereingekommen, daß ihm nur Wagen für die besagten Steine geliefert werden, die seiner Zeit an ihrem Ort in den nächsten guten Steinbrüchen genommen werden sollen, damit die Karren keine Zeit verlieren, um sie fortzuführen, wenn sie zu diesem Behuf bestellt werden. Falls besagte Wagen fehlen sollten, soll102

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[102  Landgraf Karl. 1677–1730]

die Zeit, die die Steinhauer verlieren werden, durch diejenigen Bauern vergütet werden, deren Wagen gefehlt haben. Wenn aber die besagten Steine innerhalb der bezeichneten Zeit nicht gebrochen sind, sodaß die Pferde leer zurückkehren müssen oder mit Warten Zeit verlieren, so soll der genannte Architekt verhältnismäßig Zahlung leisten.

4. Alle übrigen Lieferungen, welcher Art sie immer sein mögen, Wagen für die Arbeit der Handwerker, Gerüste, Maschinen und andere Handwerkszeuge für die Arbeiter, das wird alles auf Kosten des genannten Architekten hergestellt werden, ohne daß er etwas anderes fordern kann als die nachfolgende, im einzelnen angegebene Summe.

5. Das ganze vorgenannte Werk soll gemacht und vollendet sein in der Zeit des Monats Oktober 1714, und zwar nach allen Regeln, gemäß der mit H. bezeichneten und diesem Kontrakt beigefügten Zeichnung.

6. Es sollen 150 Klaftern Holz zur Herstellung von Kalk und Kohlen geliefert werden unter der Bedingung, daß davon nichts zu anderen Zwecken benutzt wird, sondern lediglich zu dem, was zur Erbauung der Pyramide erforderlich ist.

7. Für seinen eigenen Haushalt oder andren Bedarf werden ihm 30 Klaftern Holz gestellt, wie man ihm schon vorher geliefert hat.

8. Es soll ihm für das ganze oben bezeichnete Werk die Summe von 14 000 Talern gezahlt werden. Nämlich ein Viertel, d.i. 3500 R. am nächsten ersten Oktober und der Rest in drei aufeinanderfolgenden Terminen, deren erster festgesetzt ist auf den 1. Januar, der zweite auf den 1. April, der dritte auf den 1. Juli 1714, was pünktlich eingehalten werden wird, und es wird ihm hierzu ein Kapital angewiesen werden, und wenn besagte Bezahlung eine Verzögerung erleiden sollte, so soll der Architekt nicht gehalten sein, das Werk in der bezeichneten Zeit fertig zu stellen.

9. Außer der genannten Summe wird ihm seine Gage von 1500 Talern fortgezahlt werden, 40 Taler für Hausmiete und die Naturallieferung zum Unterhalt zweier Pferde.

10. Er wird dafür sorgen, daß alle Handwerker, die er bei seinem Bau beschäftigen wird, zufrieden gestellt werden auf Grund des Akkords, den er mit ihnen schließen wird, sodaß keinerlei Beschwerde

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[103  Landgraf Karl. 1677–1730]

{9) Der Schluß dieses Satzes ist möglicherweise nicht wörtlich, sondern nur dem Sinne nach wiedergegeben; es war mir nicht möglich, das Original daraufhin noch einmal einzusehen.}

vorkommt und der Bau nicht durch unnütze Streitigkeiten vernachlässigt wird; und falls berechtigte Beschwerden vorkommen sollten, wird man ihnen volle Gerechtigkeit und Beistand zu teil werden lassen, wie andrerseits auch ihm, dem Architekten, wenn er sich über die Handwerker zu beschweren haben sollte, Gerechtigkeit werden soll.«{9)}


Abb. 7. Siegel und Unterschrift Guernieros unter den Pyramidenvertrag 1713. (Das Siegel zeigt den aus der Asche erstehenden Phönix und, sich hierauf beziehend, die Umschrift: »Rinasce piu gloriosa«.) Kgl. Staatsarchiv zu Marburg.

Ein gleichzeitiger Überschlag zeigt, daß für den Bau der Pyramide drei Maschinen nötig waren, »um die Steine in die Höhe zu ziehen, und auch viel Gerüste und Balken, auch wohl außgestaffirt mit Eisen, wegen der Höhe, damit kein Unglück geschieht,damit, wenn die starken Winde kommen, die Gerüste wegbrechen, wie sonst schon vielmal geschehen, auch ein großer Hasard vor den Baumeister zu antreprenniren eine solche Arbeit.« Unter andrem erforderte jeder Stein zwei mit Blei eingegossene Klammern. Ein Kostenüberschlag, der sich auf 19 851 Taler belief, war wohl viel zu hoch gegriffen, wenn auch die darin verzeichneten Unkosten für Maschinen, Gerüste und Brücken mit 1300 Rtlr., der Fuhrlohn für 6000 Steine mit 2418 und die Steine selbst mit 200 Rtlr. wohlberechtigt erscheinen. Die Belastung des Oktogons durch die aufzusetzende Pyramide muß doch eine zu hohe gewesen sein; in der ganzen zweiten Hälfte des Jahres waren Bergleute mit Arbeiten an dessen Fundament beschäftigt und von August bis Dezember wurde das Oktogon untermauert. Für diese Arbeiten einschließlich der Ausgrabung des neuen Bassins und der Reparaturen an den Kaskaden gingen 1714 über 2164 Taler auf. Für Verfertigung einiger Fundamente vom 6. November 1713 bis zum 19. Februar 1714 erhielt Guerniero außerhalb seines Akkords 447 Rtlr.; es wurden dabei 5 Bergleute beschäftigt, und die Stein-,

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[104  Landgraf Karl. 1677–1730]

Kalk, und Sandfuhren lassen erkennen, daß diese Arbeiten nicht unbedeutend waren. Im März 1714 erhielt Guerniero eine weitere außerordentliche Summe von 166 Rtlr. zur Befestigung des Fundaments der Pyramide; besondere Auslagen von 251 Rtlr. während des Pyramidenbaus vom 1. März bis 31. November 1714 erhielt er gleichfalls zurück; dafür war das große Bassin (am Fuße der Kaskaden) mit Platten belegt worden, die Fugen in den Kaskaden verbessert, der durch die Kälte verdorbene marmorne (!) Boden repariert, der Boden in der Grotte verändert und schließlich das ganze Bauwerk einer gründlichen Reinigung unterzogen worden.

Die Aufstellung von sechs Plantagenschildern »zur Warnung der Frevler« weist darauf hin, daß die Hauptarbeiten im Jahre 1714 ihrem Abschluß entgegengingen; auch ein den Arbeitern gegebenes kleines Fest läßt dies vermuten. Emilie Wepler schildert in ihrem hübschen kleinen Buche über Wilhelmshöhe eingehend jenen Tag, an dem der Sturz der Wasser zum erstenmal vor den Bewohnern der Residenz und den umliegenden Orten vor sich ging. Es sei dies der erste Sonntag im Juni 1714 gewesen. Auf der Pyramide sei eine riesige rotweiße Fahne mit dem hessischen Löwen aufgepflanzt, vor der Neptunsgrotte ein reichgeschmücktes Zelt für den landgräf‌lichen Hof aufgeschlagen gewesen; der Fürst selbst habe sich in der heitersten Laune unter die frohbewegte Menge gemischt; Trompetenstöße hätten das Signal zum Beginn gegeben und die Menge habe zunächst wie geblendet und betäubt dagestanden, bis endlich ein allgemeiner Jubelschrei die Erstarrung gelöst habe. Leider verschweigt die Verfasserin ihre Quelle und weckt so in uns die Vermutung, daß ihre poetische Schilderung mehr ein Produkt ihrer schöpferischen Phantasie als der Niederschlag wirklicher Geschehnisse ist, die sich immerhin in ähnlicher Weise abgespielt haben mögen. Wer sich darauf beschränkt, ein Bild dieser vergangenen Zeit lediglich aus dem Staub der Akten als der einzig übrigen Zeugen erstehen zu lassen, muß sich mit einem recht kleinen, fast niederländisch anmutenden Bildchen begnügen; es spiegelt sich in folgender Rechnung wieder, die uns wenigstens ein bescheidenes »Fest der Handwerker« verbürgt:

»Specification Waß zu der von Gnädigster Herrschaft vor die arbeiths Leute ufm Winter Kasten Gnädigst verordneten mahlzeit noch ufgangen, wie folget, alß

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[105  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Gebund.}

{**) Schon im 22. Teil von J. D. Köhlers Histor. Münzbelustigung, Nürnberg, 1758 abgebildet.}

                                                                                            r.  alb.  hlr.
18 Schaub{*)} Gläßer th                                               –  18  –
Denen Spielleuthen                                                       1  –  –
Ein faß bier hohlen laßen                                         –  21  –
Vor Wecke zu suppe verbraucht                              –  16  –
Vor Teller, Näppe, und Schüßel, so zerschlagen  –  8  –
Vor vier maaß brantewein, das maaß à 13 alb.   1  21  –
Summa                                                                            4  19  4
                                                                                Paul Mordt.«

Emilie Wepler erzählt auch die bekannte Tradition, der Landgraf habe bei dieser Gelegenheit den Erbprinzen Friedrich gefragt, womit man den Bau am geeignetsten krönen könne. »Am besten scheint mir ein Galgen dort oben hin zu passen«, habe dieser erwidert, »an dem der Erbauer es büßen könnte, daß er Werke ins Dasein gerufen hat, an denen so viele Tränen des Volkes hängen.« Eine derbe, dem Sohn in Gegenwart der Hof‌leute versetzte Ohrfeige sei die Antwort des Vaters gewesen. Es bedarf keiner Begründung dafür, daß dieses Geschehnis ebenso unmöglich wie die Entstehung der Tradition erklärlich ist. Zudem ist es zweifelhaft, ob der Erbprinz damals überhaupt noch in Kassel weilte.

Zur Erinnerung an die Vollendung des Baues ließ der Landgraf 1714 durch den Graveur Kohler eine silberne Medaille{**)} von 6 ½ cm Durchmesser und 165 g Gewicht prägen. Diese Medaille zeigt im Avers das Kopfbild des Fürsten von der rechten Seite und unterhalb des Halsabschnitts den Namen des Medailleurs Kohler. Die Umschrift lautet: CAROLUS ∙ HASSIAR ∙ LANDGR ∙ PR ∙ H ∙ C ∙ D ∙ Z ∙ N ∙ ET ∙ S. Der Revers zeigt die Ansicht des Karlsberges mit den Kaskaden von der mit der Statue des Herkules gekrönten Pyramide, bis herab zum Weißensteiner Schloß, das in dieser Gestalt nur geplant, aber nicht ausgeführt wurde. Im Vordergrund sitzt Saturn und ist im Begriff, auf Anweisung der neben ihm stehenden, auf den Berg hindeutenden Minerva eine mit dem Worte »Posteritati« beginnende Inschrift auf eine Tafel einzutragen, während

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[106  Landgraf Karl. 1677–1730]


Abb. 8. Schaumünze des Landgrafen Karl auf den Kaskadenbau 1714. Geprägt von Pomponius Kohler. Kgl. Museum zu Kassel.

der sich auf eine Keule stützende Herkules diesem Beginnen zuschaut. Im Fußboden rechts findet sich wieder der Name Kohler, und im Abschnitt die Inschrift: ÆDES CAROLINÆ IN MONTE HERCULIS DEO AVSPICE ET PACE IN FOEDERATORUM GLORIAM PARTA EXTRUCTÆ ET CONFECTÆ MDIIXIV. Diese Medaille wurde (nach Hoffmeister) auch nach alten Stempeln im Jahre 1864 in Silber (135 g) und Kupfer neu geprägt.

Schminke berichtet in seiner Beschreibung der Residenzstadt Kassel (1767), daß Kohler 1714 eine große und eine kleine Schaumünze geprägt habe. Es findet sich im Kgl. Staatsarchiv zu Marburg folgende, am 13. September 1714 ausgestellte Rechnung Kohlers: »Auf Ew. Hoch Fürstl. Durchl. Gnädigsten Befehl habe zwey Medaillen Stempels, einen mit Ew. Hochfürstl. Durchl. Porträt, auf dem Revers den Carlsberg Presentirend verfertiget. Woran auf das Geringste vor meine arbeit verdienet 150 Thlr.« Die Rückseite trägt die von Karl unterschriebene, vom 17. September 1714 datierte Anweisung an den Kabinettsekretär Jungkurt, dem Graveur E. Pomponius Kohler die genannten zwei Medaillenstempel »moderirter Maßen« mit 130 Rtlr. zu bezahlen.

Von gleichem Revers wie die kleine Kohlersche Medaille in Silber, die ein Gewicht von 60 g gehabt haben soll, sind zwei weitere

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[107  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Ein alter Reichstaler entspricht dem heutigen Wertverhältnis von 4 Mk. 66 ⅔ Pfg.}

silberne Medaillen, nur fehlt auf ihnen die Jahreszahl. Auf der einen sehen wir im Avers das Brustbild Karls von der rechten Seite mit einfach herabwallendem Haar, in römischem Schuppenharnisch und einem über die linke Schulter geschlagenen Fürstenmantel. Am Armdurchschnitt liest man: Schepp F. Umschrift: CAR. D. G. HASS LANDG. PRINC. Gewicht 30 g. Die zweite, wiederum mit demselben Revers, zeigt im Avers den Kopf des Landgrafen mit gelocktem wallenden Haar, ohne Harnisch; sie bildet nach Hoffmeister mit der obengenannten ersten wohl eine Zwittermedaille und dürfte ebenfalls von Schepp herrühren. Die Scheppsche Medaille kommt auch in Zinn vor, und so gehen wir wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Kohlerschen Medaillen die offiziellen waren, während diejenigen von Schepp als Volksmedaillen für den Handel gedacht waren; dieser Annahme neigt auch der Numismatiker Theodor Meyer-Kassel zu. Diese Scheppschen Medaillen werden wohl bald nach den Kohlerschen geprägt worden sein. Wir hätten also 5 Medaillen auf den Karlsberg aus der Zeit des Landgrafen Karl, außerdem die Kupferabschläge aus 1864, die als Altschlag nicht in Betracht kommen. Alle tragen sie denselben Revers. Weiter läßt sich urkundlich nachweisen, daß Landgraf Karl im Jahre 1720 den Rat und Medikus von Brun mit einer goldenen Medaille vom Winterkasten beschenkte. Zu diesem Zwecke empfing der Münzmeister Gabriel le Clerc vom Schatullenmeister Gundelach 50 Speziesdukaten im Werte von 137 Talern 16 Albus, tat dazu einen halben Dukaten (= 1 Tlr. 12 Alb.) und berechnete für Prägelohn 3 Taler; am 20. November 1720 erhielt Gundelach die Anweisung, diese Medaille zu 50 ½ Dukaten mit 141 Talern 28 Albus in Ausgabe zu berechnen. Im folgenden Jahr, 1721, erhielt G. le Clerk vom Schatullenmeister 10 ¼ Stück Speziesdukaten, um zwei goldene Medaillen, das fürstliche Porträt und auf der andern Seite den Winterkasten, anzufertigen; sie wogen nebst dem Abgang 101 ¼ Dukaten; als »Macherlohn« erhielt le Clerc 6 Taler, über die er am 25. Juli 1721 quittierte. Die beiden Medaillen repräsentierten einschließlich des Prägerlohnes einen Wert von 284 Talern 30 Albus 8 Hellern.{*)} Somit wäre also auch eine mindestens dreimalige Prägung der großen Kohlerschen Medaille in Gold zu

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[108  Landgraf Karl. 1677–1730]

belegen. Sie werden wohl alle dem Schmelztiegel verfallen sein und so ihren beabsichtigten Zweck, als vornehme Einkleidung eines Geldgeschenkes zu dienen, erfüllt haben. Diese Art von Geschenken hörte mit Stiftung von Orden auf.

Vierzehn Jahre war der römische Architekt nunmehr im Dienste des Landgrafen tätig. Im steten Verkehr mit Deutschen wird er sich schon bald einen ausreichenden Gebrauch der deutschen Sprache angeeignet haben. Daß ihm deren schriftliche Anwendung jedoch nach langer Zeit noch große Schwierigkeiten machte, erweist ein kleiner Brief, den er an Jungkurt, den Nachfolger des 1711 verstorbenen Kabinettsekretärs v. Lindern, richtete. Der Brief, der Guernieros damalige finanzielle Lage kennzeichnet, ist nur zum Teil zu entziffern:

»Monsieur Jungkurt.
Si werden mir nicht zum öbel ausdeutet das Si So fil in Comidire bin geschwungen Mr. zu berichtet das briffe bekomen von H. bar [baron?] De Hattenbach berichtet das di steinbreichgers haben zedul mit supliken geben und ser ungenedig genomen habe 3 wochgen bezalet bitte Mr. Si bezalen mir nur jetzo 100 [Taler?] da mit ich di leute kan ach was geben keiner vil mer arbeiten er varte kleine andwort der ich bin mit schöldister obligatchon An
Monsieur   votre tres   subs ... [?] se ... [?]   Guerniero   m. p.«


Die Schöpfung der Herkulesstatue 1713–1717.

Wenn am 30. November 1917 zweihundert Jahre verflossen sein werden – gewöhnlich wird das nicht ganz zutreffende, aber leicht zu behaltende Datum 7.7.1717 als Geburtstag bezeichnet – daß der farnesische Riese von seinem Postament auf das mit seiner Stärke vollendete Werk auf die hessischen Lande herabschaut, soll, wie schon jetzt geplant wurde, ein großes Volksfest auf dem Karlsberg diesen Tag festlich begehen. Arminius im Teutoburger Wald, die Bavaria, die Germania auf dem Niederwald und unser Herkules, sie alle erfreuen sich einer ungeheuren Popularität im deutschen Volke, und der große »Christoffel« gilt noch dazu den Talbewohnern zu

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[109  Landgraf Karl. 1677–1730]

seinen Füßen als besonderes Wahrzeichen ihrer Heimat, wie das auch der hessische Dichter Wilhelm Bennecke in seinem schönen Sang vom »Winterkasten« zum Ausdruck brachte:

      Teuer ist er unserm Volke.
      Mancher, welcher ausgewandert,
      Kehrt vor’m Tode wieder heim,
      Um noch einmal ihn zu sehen.

Ehe wir uns der Entstehungsgeschichte dieser Kolossalstatue und der Frage nach ihrem Schöpfer zuwenden, mag es gestattet sein, der Zeitfolge um etwa sechs Jahrzehnte vorzugreifen.

Durch irgendwelche Umstände oder Personen wurde Landgraf Friedrich II., der Enkel Karls, auf einen merkwürdigen, zwischen Martinhagen, Balhorn und Sand liegenden Stein aufmerksam. Er plante damals, 1770, die Errichtung einer Statue seines Vorgängers, des Schwedenkönigs Friedrich I., auch sollte die Insel des großen Bassins in der Aue mit einer Kolossalstatue des Apollo geschmückt werden. Er forderte vom Bauamt einen Bericht darüber ein, wie der Stein nach Kassel geschafft werden könne; dieses schlug vor, den Stein abzuräumen, an Ort und Stelle so viel als möglich zu bossieren und dann auf einem eigens gebauten Weg auf Walzen den Berg hinaufzuschaffen, um ihn dann im Winter auf einem besonders verfertigten Schlitten nach Kassel zu bringen. Bildhauer Professor Johann August Nahl, der um einen Kostenanschlag angegangen war, äußerte sich sehr kritisch; dem 61jährigen schien die Anfertigung einer Statue draußen im freien Felde keine sonderliche Freude zu machen. Auch das Bauamt äußerte sich dahin, daß, abgesehen von den bedeutenden Transportkosten, der Weg zuvor erweitert und mit Faschinen bearbeitet werden müsse, wozu Hecken und einige Stücke Landes aufgehen würden. Friedrich II. befahl 1771 den Transport bei gefallenem Schnee auf einer Schleife zu veranstalten. Wenn nun auch in diesem Jahre die Arbeit noch nicht in Angriff genommen wurde, so mußte sich doch der Plan des Fürsten und vor allem der beabsichtigte Transport eines so außergewöhnlich großen Steines im Lande herumgesprochen haben. Zwei unternehmende Einwohner von Kerstenhausen, Theiß und Hofmeister, begaben sich an Ort und Stelle, stellten fest, daß der Stein 18 ½ Schuh lang war und 7 Schuh weniger 3 Zoll im Quadrat maß. Sie erboten sich darauf in einer Eingabe an den Landgrafen, den

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{*) Bei den Steinbrüchen.}

Stein nach Kassel zu transportieren; sie verlangten 24 Handarbeiter, 500 Taler zu deren täglichen Auszahlung, für sich, einen collaborator und eine Frau, die ihnen koche, täglich 12 Pfund Brot, ferner ein Zelt zum Obdach und Holz zum Kochen und Heizen, schließlich zur Anfertigung des Transportmittels Holz und Eisen aus den nächsten Forsten und Eisenhämmern. Sie beabsichtigten den Stein durch dreißig Tagelöhner auf einer auf Walzen und Bohlen gehenden, einem Schneidemüllerwagen ähnlichen Maschine zu transportieren, wozu rund 1300 Taler erforderlich seien. Das Bauamt erhielt nun den Befehl, festzustellen, was der Transport des Steines von seinem ersten Lager bis zu dem Ort, wo er jetzt liege, gekostet habe. Es gab daher dem Steininspektor{*)} Reißmann auf, sowohl die Entfernung des Steins von seinem ersten Lager als auch die Länge des weiteren Transportes bis Kassel nach der Uhr abzureiten. Dabei zeigte sich, daß der Stein von seinem ersten Lager in 38 Minuten gebracht war, was einschließlich der noch zu fernerem Gebrauch vorhandenen starken Seile, Erdwinden, Rüstbäume und Bohlen einen Kostenbetrag von 216 R. 24 Alb. 10 Hlrn. verursacht hatte. Hiernach ließ sich der Weitertransport berechnen; er würde 2198 ½ R. betragen haben. Nach Schätzung des Bauamts konnte jedoch, da das Aufheben des Steines aus seinem Lager und das Herausbringen aus dem Steinbruch mühsamer und beschwerlicher gewesen war, von diesem Betrag noch etwas abgehen. Der Landgraf, dem die Summe zu hoch sein mochte, entschied, daß der Stein vor der Hand liegen bleiben solle. Nach wie vor aber bildete das außergewöhnliche Projekt das Gesprächsthema im Lande. Schon nach einigen Monaten machte ein ehemaliger Sergeant aus dem Wutginauischen Infanterieregiment, Anton Cyriaci von Homberg, nachdem er ein Rädertriebwerk mit Flaschenzügen erfunden hatte, ein neues Angebot. Auch dieses wurde verworfen, ohne daß aber die Einwirkung des Steins auf die Phantasie des Volkes an Stärke verloren hätte. Im folgenden und nächstfolgendein Jahr baten Anton Betz und Peter Hubenthal aus Kassel in wiederholten Vorstellungen um die nötigen Materialien, um den Stein »anhero zu bringen«; im Dezember 1780 erbot sich der Zimmermeister Reinhard zu Rosenthal zu demselben Unternehmen, im Juni 1785 wünschte Johannes Groscurth zu Germerode den Stein zu transportieren, und

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noch nach Friedrichs Tode, im April 1790, machten sich Christian Friedrich Schottmann und Konsorten aus dem Sachsenlande zu demselben Unternehmen anheischig.

Wie nun und bei welchem Anlaß, so fragen wir, kam der Stein, der von den Bewohnern vielfach für ein uraltes heidnisches Steinbild gehalten worden sein soll, aus dem Steinbruch an seine damalige Lagerstätte? Darüber haben wir keinerlei urkundlichen Beleg, wohl aber eine weitverbreitete Tradition. Danach habe Landgraf Karl die Ausführung der Herkulesstatue in Stein beabsichtigt; es sei auch in den Steinbrüchen bei Balhorn ein gewaltiger Sandsteinblock losgelöst und roh behauen worden, so daß man schon deutlich die menschliche Gestalt habe erkennen können; der Stein sei aber an der Landstraße in einem Grasgärtchen liegen geblieben, weil der Schlitten beim Transport unter ihm zusammengebrochen sei. Dieselbe Tradition legt auch Pfarrer Kleyensteuber in einem im Jahre 1900 erfolgten Eintrag in die Pfarreichronik von Martinhagen nieder, in dem noch hervorgehoben wird, daß diese »aus Sandstein roh ausgehauene Statue des Herkules« – im Gegensatz zum Wilhelmshöher Herkules, der bekanntlich »großer Christoffel« heißt – von der Landbevölkerung »Hérklôs« genannt werde.

Die Vermutung liegt nahe, daß die Erinnerung an den unter Landgraf Friedrich II. 1770 beabsichtigten Transport – um so mehr, weil dieser zu keinem Ergebnis führte und in dieser Zeit niemals der angeblichen ursprünglichen Bestimmung des Steines Erwähnung geschieht – von den Bewohnern der Umgegend fast sechs Jahrzehnte zurückdatiert und mit der Errichtung der Herkulesstatue in Verbindung gebracht worden ist. Andrerseits haben wir aber gesehen, daß der Stein tatsächlich einmal, und zwar vor 1770, eine Wegstrecke von 38 Minuten vom Bruch aus befördert wurde und daß 1772 noch die hierzu verwandten Instrumente vorhanden waren. Wenn man für diesen kurzen Transport die damals nicht unbeträchtliche Summe von über 216 Talern aufwandte, so mußte doch eine besondere Verwertung des Steines beabsichtigt gewesen sein, andernfalls hätte man ihn vor dem Transport im Steinbruch zerkleinert. So läßt sich denn die Annahme nicht ohne weiteres von der Hand weisen, daß Karl, ehe er 1713 die Herstellung der kupfernen Herkulesstatue befahl, eine solche aus Stein plante, daß aber dieses Projekt an der Unmöglichkeit des Transportes scheiterte. \

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Auf jeden Fall blieb das Grundstück, auf dem der Stein nun lag, und das sich nach Kleyensteuber ¼ Stunde westlich von Martinhagen dicht links der Korbacher Straße befand, fortab steuerfrei. In einer »Nachweisung über die in der Finanzperiode von 1855 bis 1857 zu leistenden Abgaben von den Domänen« wird als »Entschädigung wegen eines, auf einer Wiese zu Martinhagen liegenden, seit 1772 zu einer Bildsäule bestimmten Steines« ein Jahresbetrag von 7 Sgr. 6 Hlrn. aufgeführt; diese dem Besitzer der Wiese erlassene Grundsteuer hatte der Domänenfiskus der Steuerbehörde zu entrichten.

Über das spätere Schicksal des Steines gibt uns wieder die Pfarreichronik zu Martinhagen Auskunft. Es heißt da: »Die Veränderungen von 1866, die so manches Alte und Liebgewordene beseitigten, nahmen auch Martinhagen eine – oder vielmehr seine Merkwürdigkeit ... 1867 wurde der Stein versteigert und der Acker wieder besteuert. Ein hiesiger Einwohner, der den Koloß erstand, zerkleinerte ihn und verkaufte die gewonnenen Mauersteine nach Kassel, wo sie zum Bau des Traindepots verwendet wurden.«

Das ist die Geschichte des »großen Steines« bei Martinhagen. Habent sua fata lapides.

Seit dem Jahre 1713 also wurde die 9 ¼ Meter hohe kupferne Kolossalstatue des Herkules in der Edelsteinschleiferei im Schloßgraben zu Kassel, etwa der jetzigen Scheelschen Druckerei gegenüber, verfertigt.

Wer war ihr Schöpfer? Bis vor wenigen Jahren wurde der Kasseler Hofkupferschmiedemeister Otto Philipp Küper anstandslos als solcher bezeichnet. Da wollte es der Zufall, daß man im Jahre 1900 bei Reparaturen, die man an der Statue vornahm, die Schädeldecke des Riesen abheben mußte und nun im Innern des Kopfes unter den Haaren eine kupferne mit Nieten befestigte kreisrunde, 12 Zentimeter im Durchmesser betragende Platte entdeckte, die folgende Inschrift enthielt:

»Carolus Landgr. z. H. Hat Dieses Bild Machen Lassen Durch Joh. Jacob Anthoni Ein Goldschmid Gebürtig Aus Augspurg. Ist Angefangen Anno 1714 Und Verfertig. Worden Anno 1717 D. 30. Nov.: «

Man kann sich die Erregung vorstellen, die damals in der Stadt Kassel Platz griff. Seit fast zwei Jahrhunderten wußte man, daß der

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Abb. 9. Inschrift des Augsburger Goldschmieds Joh. Jakob Anthoni im Kopf der Herkulesstatue.

Kupferschmied Küper aus Kassel der Schöpfer des weltbekannten Standbildes war, und nun wollte der erste beste hergelaufene Unbekannte ihm diesen Ruhm schmälern und dem Lokalpatriotismus einen so empfindlichen Schlag ins Gesicht versetzen! Natürlich war das so eine Künstlereitelkeit, wie sie häufiger vorkommt; der Augsburger Goldschmied hatte ganz heimlich, ohne daß es jemand ahnte, die Platte im Kopfe der Statue angebracht, um sich von der Nachwelt unverdiente Lorbeeren streuen zu lassen. Hatte man doch die Autorschaft Küpers zudem urkundlich schwarz auf weiß. »Weilen Uns wegen seiner uns verfertigten arbeit Herkules Zur Genüge bekandt, daß er (gemeint ist Otto Philipp Küper) sein erlerntes Kupfer Schmidts Handwerk wohl verstehe ...« also hieß es in einer Originalurkunde des Landgrafen Karl von Hessen vom 8. Juni 1717, auf Grund deren Grotefend die Vermutung aussprach, daß Anthoni jedenfalls nur den Kopf der Statue geschaffen oder aber den Entwurf zu der ganzen Ausführung gegeben habe, die dann von Küper erfolgt sei. Diese seine Ansicht revidierte Grotefend aber alsbald wieder, als sich herausstellte, daß in dem erwähnten Bescheid des Landgrafen grade

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das entscheidende Wort »Herkules« gar nicht stand; er verzichtete nunmehr darauf, sich in dieser Frage zu entscheiden und beschränkte sich lediglich darauf, wertvolle Einzelheiten über Küpers und Anthonis Leben mitzuteilen. Inzwischen hatte sich Karl Neuber die in der Samilie des früheren Hofkupferschmiedemeisters Francke als eines Nachkommen Küpers aufbewahrten Urkunden, auf die ich noch zurückkomme, zugänglich gemacht, auf Grund deren er seine Ansicht dahin entwickelte, daß Küper unbedingt als Anfertiger des Herkules-Standbildes zu betrachten sei. Diese Ansicht wurde, von einer gegenteiligen Ausführung Louis Wolfs abgesehen, allgemein angenommen. Der ruhmvolle Anteil Kassels an der Statue blieb gerettet. Im Jahre 1902 hat dann Neuber die im Franckeschen Besitz befindlichen Urkunden mit dem im Marburger Staatsarchiv aufbewahrten Aktenmaterial in Einklang zu bringen versucht und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß Anthoni zwar die Hauptperson bei Verfertigung der Statue war, der eigentliche Verfertiger (Faiseur), daß aber auch Küper einen nicht geringen Anteil daran gehabt habe, da er sonst bei den damaligen strengen Zunftvorschriften nicht gewagt haben würde, die Entbindung von Anfertigung des vorgeschriebenen Meisterstücks mit Rücksicht auf »seine Arbeit am Herkules« nachzusuchen. Ein im Namen der Berliner Goldschmiedeinnung von dem Juwelier Wilhelm Fischer zu Berlin abgegebenes Gutachten hält es für höchst unwahrscheinlich, daß der Kasseler Kupferschmiedemeister allein das großartige Kunstwerk geschaffen, dagegen für naheliegend, daß Küper die groben Formen gebildet und sich für die feinen Treibarbeiten einen Goldschmied in Lohn und Brot genommen habe. »Dafür spreche auch, daß Anthoni, dem Drange eines Künstlers folgend, sich im Kopfe verewigte, was nicht in auf‌fälliger Weise hätte geschehen dürfen, weil Küper als der Schöpfer des Werkes habe gelten wollen, und es sei anzunehmen, daß Landgraf Karl ihm als einem Inländer die Sache übertragen habe.« Grade das Auf‌fallende, daß ein Kupferschmiedemeister die Figur gemacht, sei von Generalion zu Generation weiter erzählt worden, so daß dies noch heute alle Kasselaner mit besonderem Stolze hervorhöben.

Ehe wir uns näher mit dieser Frage befassen, sei zunächst wenigstens der Einwand entkräftet, daß Landgraf Karl die Statue Küper gerade als einem Inländer in Auftrag gegeben haben werde. DerselbeFürst ließ durch den Franzosen Lenôtre die Aue in französischem

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Geschmack anlegen, durch den Franzosen Monnot die Bildwerke des Marmorbads schaffen, rief durch die Franzosen Du Ry die Oberneustadt mit ihren öffentlichen Bauten ins Leben, stellte den Ostfriesen Quitter als Hofmaler an, ließ durch den Italiener Guerniero Kaskaden und Oktogon erbauen, – warum sollte also gerade der Schöpfer der Herkulesstatue unbedingt ein Inländer gewesen sein? Dieser Einwand ist also nicht stichhaltig.

Doch sehen wir weiter zu, welche bestimmenden Gründe sich für die Autorschaft Küpers oder Anthonis ergeben. Beider Gebeine sind längst vermodert, und wenn uns die oft so unzuverlässige Tradition nicht genügt, bleiben uns nur Urkunden, um das Dunkel in dieser Frage aufzuhellen. War Küper wirklich der Schöpfer des herrlichen und mühevollen Werkes, dann soll auch fernerhin die kupferne Kolossalstatue kommenden Geschlechtern seinen Ruhm künden, war er es aber nicht und hat jene im Kopf des Riesen versteckte Inschrift des Augsburger Goldschmiedes recht, dann, so bitter es sein mag, fort mit allen lokalpatriotischen Erwägungen und Ehre, dem Ehre gebühret.

Stellen wir also mit scharfer und sorgfältiger Prüfung die vorhandenen Urkunden einander gegenüber.

Vorausgeschickt sei, daß die im Staatsarchiv zu Marburg aufbewahrten einschlägigen Rechnungen den Namen Küpers überhaupt nicht anführen. Der Name Anthonis begegnet uns zuerst in den zu den Belegen zur Kabinettsrechnung 1713 gehörigen »Urkunden zum Winter-Kastener Grottenwerk« und zwar in einer vom Hüttenverwalter Möller zu Holzhausen ausgestellten Rechnung vom 23. Dezember 1713. Die Rechnung lautet:

»Nach Ihro hochfürstl. Durchlaucht Gnädigster Verordnung ist für den Goldschmitt Anthoni von Berlin folgendes ahn Werckstücken erschmiedet:

  1. Ein breiter Amboß (folgen die einzelnen Kosten für dessen Anfertigung);
  2. Seind für ermelten Goldschmidt gemacht worden 2 kleine breite Amboße, 2 runde Amboße, zwei Sperhaken.«

Auf der zweiten Seite (»Continuatio der Werckstücke für Anthoni den Goldschmidt«) wird noch ein Zehn Schuh langer Leg-Amboß aufgeführt, »forne gestählet undt hinten mit einem viereckichten loch, wieget 1 W 91 Pfd. [1 Waage = 120 Pfd.] 55 Thlr. 29 Alb. 1 Heller.« Am Fuße dieser zweiten Seite steht Anthonis eigenhändige Unterschrift: »disse hier bemelte sticke hab ich woll im pfangen.
                                                     Johan Jakob Anthoni Goltschmit.« \

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{*) Rumpf war ein hölzernes Gemäß.}

Auf der dritten Seite sind noch einige eiserne Werkstücke verzeichnet, die der Bauschmied Klocke »zu einem herrschaftlichen Schleifwerck« anfertigte, so daß die Gesamtsumme 66 Tlr. 11 Alb. 6 Heller betrug. Diese Rechnung besagt uns, daß Anthoni damals von Berlin nach Kassel gekommen war und daß die betreffenden Ambosse usw. für ihn in die Schleiferei (am Schloßgraben) geliefert wurden und zwar zweifellos für die Herkulesstatue. Die Rückseite trägt die Zahlungsanweisung durch den Landgrafen: »Wir befehlen Unserem Cabinets-Secretario Jungcurt hiermit gnädigst, dem Hüttenverwalter Möller zu Holtzhausen hierin spezifizierte an den Goldschmitt Antoni undt Bauschmitt Glocken zu behuf der vor Unns unter handen habenden arbeit und Schleifwerk im vorigen 1713ten Jahre verabfolgten Eysenwahre mit 66 R. 11 alb. 8 Heller in Vergleichung zu bezahlen usw.   
9. Juni 1714.                                                      (gez.) Carl.«

Die Rechnung bezieht sich auf das notwendigste Werkzeug, das Anthoni 1713 geliefert wurde, und zwar, wie wir gleich sehen werden, für die Herstellung der Statue. Die Kabinettsrechnungen für 1714 enthalten eine besondere Spezifikation für die Erdarbeiten am großen Bassin (siehe weiter unten), für die Untermauerung des Fundaments am Oktogon, »deßgleichen zur großen Statue«. Wir finden da u.a. folgende Posten:

  • März: Dem Hoforgellmacher Wenteroth für 3 Blaßebälge zur großen Statue 12 Thlr.
  • April: Dem Goldschmidt Antoni Reiße und Zehrungskosten wegen Werckstücke zur großen Statue 11 Thlr.
  • Juni: Dem Zimmermeister Reuße für Arbeit an der großen Statue 5 Thlr. 20 Alb. [ob für ein hölzernes Modell?].
  • August: Den Zimmerleuthen an der großen Statue 6 Thlr. 21 Alb.
  • Novmbr.: Dem Goldschmidt Antoni für 24 Rümpfe{*)} 1 Korb ufm Markt erkaufte Kohlen zur großen Statue 15 Thlr. 5 Alb.
  • Dezember: Dem Köhler Messing 23 ½ Rümpfe Kohlen zur großen Statue, à 20 Alb. = 14 Thlr. 22 Alb.

Weiter folgt eine vom Verwalter Otto Philipp Kleinschmidt dem Paten Küpers, ausgestellte Rechnung über das von Anthoni bereits 1713 und Anfang 1714 bezogene Metall: \

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»Anno 1713 hat der Goldschmidt H. Anthoni zu herrschaftl. Arbeit vom Kupferhammer und Messinghof abgelanget:
                                                                                      Ctr. lb  Thlr.  Alb

D. 10. Juni  Kupferne bleche                                        [–] 51½  15  19  889
    Item  Kupfern draat                                                [–] 2¼    [–] 26  8
         ”    messing draat                                                [–] ¼     [–]  2  449
         ”    alt messing                                                    [–] 2¼    [–] 16  859
D. 26. Sept.  Kupferne bleche                                       [–] 11       3  10  889
D. 20. Okt.  zwei kupferne Schalen so außgetrieben und zu
            einem Gesicht formiret werden müßen.         1   2¾     38  6  179
29. Dez.  Kupfern draat                                               [–]  2       [–]  21  4
    Item  Abfal messing                                                [–] 40       8  28  5⅛
    1714
D. 1. Febr.  nagel kupfer                                               [–] 54¼    16  2  449
Suma                                                                              2  59      84  5  449
Otto Philipp Kleinschmidt.

Bescheinige, daß ich disses oben bemelte kubfer und messing impfangen.
    Kassel, den 5. März Ao. 1714.                   Johann Jacob Anthoni.«

Im Jahr 1715 werden fortgesetzt Kohlenlieferungen »zur großen Statue« verzeichnet, wiederholt mit dem Zusatz »dem Goldschmidt Antoni«, insgesamt für 205 Thlr. 25 Albus.

Nach einer weiteren im Juni dieses Jahres ausgestellten Rechnung sind am 22. März 1714 im Richelsdorfer Kupferbergwerk »in Johann Jacob Anthonii gegenwart vier grose kupferne bleche zur Statua zue dem Kopf geschmiedet und an denselben ausgefolget worden, die haben gewogen zwey Centner Siebentzig und 28 Pfund«. Die Rechnung betrug mit dem mit Henrich Diederich verdungenen Fuhrlohn bis Kassel (4 Tlr. 16 Alb.) 89 Ilr. 10 Alb. 89 Hlr. Nach einer weiteren Rechnung empfing »der Goldschmidt Johann Jacob Anthony zur Verfertigung der großen Statue auf dem Winterkasten vom fürstlichen Kupferhammer« in der Zeit vom 19. Mai 1714 bis zum 1. April 1715 an geschmiedetem Kupfer 43 Zentner 45 ¼ Pfund nebst einem kupfernen Kessel für 1424 Tlr. 20 Alb. 9 56 Hllr., sowie ferner 57 ¼ Pfund Messing für 12 Tlr. 30 Alb. 79 Hllr. Von diesem

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Material lieferte er 12 Zentner 12 ¼ Pfund Abschnitzkupfer zurück, so daß eine Summe von 1110 Tlr. 16 Alb. 10 ⅓ Hllrn. verblieb. »Diße gemelte rechnong so von Kubfer und Messing zu Ihro Hochfirstliche Durchlaucht zu vor arbeiten im Pfangen und an Kubfer abschnitz witer gegen gelifert befinted sich aleß Richtig seliches wirt hier mit bescheiniget Cassel d. 10 Aberil Ao 1715. Johan Jacob Anthoni.« Der Kasseler Kaufmann Christoph Rausch lieferte von Januar bis Dezember 1715 »nachfolgende wenige Waaren u. Materialien zu herrschaftlicher arbeit an der Hercules Statue an den Kupfertreiber Anthoni«. Wir finden da u.a. verzeichnet »8 böhmische Schmelztiegell, 6 Schmelztiegell, 6 Groß Almeröder Schmeltztiegell, einen eisernen Schmeltzlöffell, 46 Pfund Venedischen Borrax, 1 Pfund Venedisch. Terpentin, 3 Pfund Bimssteine, 3 Pfd. Kreide, 8 Loth feingeschnittenen Röthel zum reissen, ½ Pfd. Calovonium, 225 ganze und 75 halbe Dielennägel, 75 halbe Schloßnägel, 1 Zentner schwartz Pech, 139 Pfd. waldeckisches Zeint-(=Stab)eisen, 10 ¾ Pfd. englisch Stangenzinn, 45 ½ Pfd. englisch Zink, 10 ½ Pfd. eisern Draht, 10 ¾ Pfd. steurisch Stahl, 19 Pfd. staabeisen, 10 ½ Pfd, staabeisen zum Brecheisen, 57 Pfd. Mollenbley, 39 st. sortierte Feilen, eine Scheere zum Blechschneiden, eine Kneippzange, ein Schraubstock, 2 Handt-Feilkloben, eine starke meß. Kratzbürste, 2 Handtgoldtschmiedsscheeren 3 grose Nürnberger Pitz- und Flachzangen, 6 steurische Feilen, eine Handtfeile 2 ½ Pfd. schwer, 2 bürsten oben mit meßern, ein Cöllnischer waagen balcken, ein einsatz meßingne gewichte, eine steurische rößell (?), eine Schmiedeform für ein blaßbalg, 24 st. kleine feilen, 14 ehle (Ellen) Passaite (Baßsaite?).« Die 153 Tlr. 7 Alb. 4 Hlr. betragende Rechnung wurde vom Oberbaudirektor, dem Brigadier von Hattenbach, auf 150 Tlr. moderiert.

Im folgenden, 1716. Jahr werden an Anthoni für die große Statue wieder für 181 Tlr. 1 Alb. 3 hllr. Kohlen geliefert; im Dezember sind noch besonders 3 Tlr. 28 Alb. Zehrungskosten und Botenlohn für die Maultierknechte notiert »so solche von Günsterode (im Kreise Melsungen) gelanget«; weiter dem Seilenhauer Freitag für Arbeit an den Goldschmied Anthoni geliefert 3 Tlr. 9 Alb. 4 Hllr., dem Goldschmied Anthoni für Zink zur großen Statue 6 Tlr. 21 Alb. 4 Hllr., dem Verwalter Möller zu Holzhausen »an geschmideten Eyßen für die große Statue an den Bauschmidt Klocken geliefert« für

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{*) Aus der Kabinettsrechnung von 1716 erfahren wir, daß der Hannoverische Amtmann Diederich Johann Trauel für das Messingwerk bei Bettenhausen jährlich 800, für den Kupfer glaubasser jahrlich 600 Taler Pachtgeld zahlte.}

{**) Nach heutigem Verhältnis umgerechnet; damals gingen 108 Pfund auf den Zentner.}

245 Tlr. Vom Pächter des Kupferhammers, dem Amtmann Trauel{*)} wurden vom 25. April bis 11. Juli 1716 noch »Vor Ihr. hochfürstl. Durchl. Carl Landgraf zu Heßen durch H. Johann Jacob Anton abfolget an geschmiedeten Kupfer«: 16 Zentner 29 ¾ Pfund und 59 ½ Pfund Messing zusammen für 552 Tlr. 27 Alb. 1 ⅔ Hllr., dagegen lieferte Antoni 7 Zentner 62 ¼ Pfund an altem und Abschnitzkupfer zurück, so daß 340 Tlr. 2 Alb. 8 49 Hllr. verblieben. Vom 11. November 1715 bis zum 29. Juli 1716 lieferte Trauel an Anthoni »zu der großen Statue« 10 Zentner 96 58 Pfund Kupfer und Messing, wogegen dieser 8 Zentner 89 ⅜ Pfund an Abschnitzkupfer zurückgab, so daß Trauel noch 95 Tlr. 27 Alb. 2 59 Hlr. gutblieben. Weitere Kupferlieferungen kommen seitdem (29. Juli 1716) nicht mehr in den Rechnungen vor. Aus 1717 haben wir noch eine unbedeutende Rechnung des Bauschmieds Klocke »wegen arbeit vor die Schmeltzer im Schloßgraben«. Im Ganzen erhielt Anthoni an Kupfer und Messing 85 Zentner 93 58 Pfund; davon lieferte er 28 Zentner 56 ¼ Pfund zurück, so daß 57 Zentner 37 ⅜ Pfund als Gewicht der Statue verbleiben.{**)}

Fassen wir zusammen, so ergibt sich, daß auf Grund der uns vorliegenden Rechnungen dem Goldschmied Anthoni in der bezeichneten Zeit für 216 Tlr. 21 Alb. 3 Hllr. Kohlen zu seiner Arbeit geliefert und ihm ferner, von den beträchtlichen Quantitäten anderer Metalle abgesehen, aus dem Kupferhammer zu Bettenhausen, sowie aus dem Richelsdorfer Kupferwerk Kupfer und Messing für 1715 Tlr. 12 Alb. 25 79 Hllr. zur Verfügung gestellt wurden. Weiter ersehen wir aus den Rechnungen, daß Anthoni sämtlichen hier namentlich aufgeführten amtlichen und privaten Lieferanten als der Verfertiger der Herkulesstatue bekannt war, daß alle Eingänge an Materialien – abgesehen von einzelnen Kohlenlieferungen, die direkt dem Köhler Messing überliefert wurden, und den für die Statue notwendigen, dem Bauschmied Klocke übermittelten Eisenteilen – auf Anthonis Namen gingen und dieser die Rechnungen zu unterzeichnen hatte, und daß auch der Landgraf selbst in seinen Zahlungsbefehlen stets Anthoni als den

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Verfertiger der Statue auf‌führt. Es braucht nach alledem wohl nicht mehr erwiesen zu werden, daß Anthoni allgemein als Schöpfer der Statue gelten mußte. Er hatte es also nicht nötig, seine in kunstvollen Majuskeln angefertigte Inschrift heimlich anzubringen; das wäre, da er vier Jahre lang als Schöpfer der Statue männiglich bekannt war, absurd und an sich schon unmöglich gewesen. Zudem hätte der Malermeister, der 1718 mit seinem Firnistopf bis in den Kopf der Statue hinein kletterte und dabei notgedrungen beim Anstreichen die Inschrift sehen mußte, zweifellos die Sache in der Stadt ins Gerede gebracht, wenn er den Inhalt eben dieser Inschrift nicht für selbstverständlich gehalten hätte.

Und weiter. Anthoni war, wie Bibliothekar Dr. Rueß im Jahre 1900 feststellte, etwa 1675 geboren, demnach also 1713, bei Beginn des Werkes, 38 Jahre alt, während Küper damals erst 21 jahre zählte und noch 4 Jahre zuvor, 1709 noch nicht einmal Lehrling war. Alle Goldschmiede der damaligen Zeit wußten mit Hammer und Punzen umzugehen, und der Sproß der alteingesessenen Augsburger Goldschmiedefamilie war zudem ein begnadeter Künstler, wie sein Meisterstück beweist, das die Alten unfehlbar den Weltwundern zugereiht haben würden. Daß aber ein Handwerker, ein 21jähriger Kupferschmiedegeselle, diese Kolossalstatue nicht in Auftrag bekommen oder überhaupt hat anfertigen können, ist so handgreif‌lich, daß ein Zweifel hieran fast unverständlich erscheinen muß.

Otto Philipp Küper wurde auf dem fürstlichen Messinghof und Kupferhammer vor Kassel als Sohn des Meisters des dortigen Messingschmelzwerks Christoph Küper 1692 geboren. Sein Taufpate, der uns schon aus den Lieferungen an Anthoni bekannte Verwalter des Messinghofs, Otto Philipp Kleinschmidt, bezeugt ihm, als er als Kupferschmiedelehrling aufgenommen werden soll, am 19. März 170 – also vier Jahre vor Beginn der Arbeiten an der Statue! – seine eheliche Geburt, die nach den damaligen Zunftvorschriften Bedingung für die Aufnahme war. Küper wurde nun Lehrling und Geselle im Kupferschmiedegewerbe. In einer undatierten Eingabe Küpers an den Landgrafen Karl heißt es: »Ew. Hochfürstl. Durchl. wird annoch in gnädigstem Andenken ruhen, wie daß mich derselbe zu dero Hofkupferschmiedt gnädigst angenommen, für welche Gnade ich unterthänigsten Dank erstatte.« Hieraus hat man gefolgert, Küper sei zum Hofkupferschmied ernannt worden. Kann dies aber nicht auch

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[121  Landgraf Karl. 1677–1730]

heißen, er sei seinerzeit zu einem Hofkupferschmied – aus 1713 steht der Hofkupferschmied Seldenschlo urkundlich fest – als Lehrling oder Geselle angenommen worden? Denn andernfalls hätten wir die merkwürdige Erscheinung, daß Küper bereits zum Hofkupferschmied ernannt wurde, ohne bis dahin Meister zu sein! In eben dieser Eingabe bittet er ja den Landgrafen ausdrücklich, er möge veranlassen, daß ihm die Anfertigung eines Meisterstücks und die damit verbundenen Kosten erlassen wurden, mit der Begründung: »Ew. Hochfürstl. Durchlaucht auch gnädigst bekanndt, daß ich an der Hercules Statue gearbeitet«. Karl befreite ihn laut dem auf der Rückseite der Eingabe erteilten Bescheid am 8. Juni 1717 vom Meisterstück, »weilen Unß wegen seiner Unß verfertigten arbeit zur Genüge bekanndt, daß er sein erlerntes Kupfer Schmidts Handwerk wohl verstehet«. Daraufhin hat sich Küper am 4. Oktober 1717 – nach Anthonis Inschrift wurde die Statue am 30. November 1717 beendet – als Meister eintragen lassen.

Die Autorschaft Küpers stützt sich also auf zwei Stellen; einmal auf seine Begründung: »daß ich an der Herkulesstatue gearbeitet« und sodann auf des Landgrafen Antwort mit dem Hinweis: »wegen seiner Unns verfertigten Arbeit«, das ist alles. In den Akten des Staatsarchivs wird Küper mit keiner Silbe erwähnt. Wer mag aber nicht alles drunten im Schloßgraben an der Herkulesstatue gearbeitet haben! Bei einem solchen Werk waren doch naturgemäß viele fleißige Helfer vonnöten. Daß Küper dabei eine besondere Geschicklichkeit bewiesen habe, soll keineswegs bestritten werden, daß er jedoch irgend einen besonders hervorragenden Anteil an der Arbeit gehabt hat, ist durch nichts bewiesen. Warum hat man auch später nichte von Werken Küpers gehört, die über das Handwerksmäßige hinausgingen? Er hat lediglich erwiesen, »daß er sein erlerntes Kupfer Schmidts Handwerk wohl verstehet«.

Dem gegenüber tritt uns Anthoni fast auf jeder Seite der einschlägigen Rechnungen als derjenige entgegen, in dessen leitenden Händen die Arbeit ruht, muß also unbedingt als der Schöpfer der Herkulesstatue in Anspruch genommen werden. Nachdem ihm durch zwei Jahrhunderte hindurch dieser wohlverdiente Ruhm vorenthalten wurde, muß es Ehrenpflicht sein, ihn, wenn auch spät, mit allem Nachdruck in seine Rechte einzusetzen. \

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[122  Landgraf Karl. 1677–1730]

Also, die Herkulesstatue wurde von dem Augsburger Goldschmied Johann Jakob Anthoni geschaffen. Daß an diesem großen Werke auch Otto Philipp Küper, der Begründer einer hochangesehenen Kasseler Kupferschmiedfamilie, als junger Mann, allerdings ohne nachweisbaren besondern Anteil, mitbeschäftigt war, wird uns Kasselanern ein erfreuliches Bewußtsein sein. Wenn aber in einigen Jahren der alte Riese auf dem Oktogon seinen 200jährigen Geburtstag feiert, wollen wir in erster Linie dankbar seines genialen Schöpfers gedenken, des Augsburger Goldschmieds Johann Jakob Anthoni.

Über sein Leben wissen wir wenig. Wie Rueß feststellte, läßt sich die Goldschmiedfamilie Anthoni schon im 16. Jahrhundert in Augsburg nachweisen. Sein gleichnamiger Vater, der 1701 starb, hatte sich 1671 in zweiter Ehe mit Emphrosine Hardterin († 1693) vermählt. Er erschien 1693 vor dem Pflegschaftsamt mit dem Briefmaler Tobias Steidlen und dem Goldschmied Christoph Trendtweth als Pflegern seiner mit weil. Euphrosine Hardter sel. ehelich erzeugten zwei Kinder Anna Marie und Hans Jakob. Dieser war also damals noch minderjährig und mag etwa 1674 oder 1675, vielleicht auch noch später geboren sein. Sonst findet sich von ihm weder in den Steuerbüchern und Hochzeitsprotokollen noch in den Meisterbüchern der Goldschmiede eine Spur. Er wird wohl schon bald nach des Vaters Tode seine Heimatstadt verlassen haben. 1713 kam er von Berlin nach Kassel, wo er sich auch nach Vollendung der Herkulesstatue noch aufhielt. So zeigt ein Schriftstück aus dem ehemaligen Fritzlarer Stiftsarchiv, daß »Herr Anthoni aus Cassel« 1718 und 1719 für das Epitaphium des Fritzlarer Kanonikus von Nehem, das in der dortigen Peterskirche angebracht werden sollte, gearbeitet und dafür 119 Taler bekommen hat.

Eine Reparatur des Standbildes wurde im Juli und August 1900 durch den Hofkupferschmiedemeister Basse vorgenommen, dem ich auch die unten mitgeteilten Größenverhältnisse verdanke. Es wurden damals eine ganze Anzahl kupferner Nieten, die sich an den Fugen losgelöst hatten, ersetzt; auch wurden einige Löcher geflickt, die – wohl im siebenjährigen Krieg – durch Kugelschuß entstanden waren. Ferner wurde die defekte Schädeldecke erneuert, bei welcher Gelegenheit man die in Kupfer getriebene Inschrift auf‌fand. Die Schädeldecke zeigte Spuren elektrischer Entladungen positiver und negativer Art aus

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[123  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Bei Herstellung einer gußeisernen Wendeltreppe in der Pyramide an Stelle der früheren hölzernen Treppe wurde eine Blitzableiteranlage moderner Ausführung für das Riesenschloß erforderlich.}

früherer Zeit.{*)} Nach Ansicht des Herrn Basse kann das von mir berechnete Gewicht der Statue recht wohl zutreffen, wenn auch mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß von dem wieder abzuliefernden Abfallkupfer einige Teile abhanden gekommen sind; denn damals, wie heute, fanden sich stets Abnehmer für Kupfer, zumal dieses doppelt so teuer war als heute. Das gelieferte geschmiedete Eisen wurde zu dem eiserenen Gestell und zu Verankerungen im Innern gebraucht, in dem sich ein vollständiges Gerüst zur Verankerung und Befestigung der Figur und zum Schutze gegen den Winddruck befindet. Der große Verbrauch an Kohlen erklärt sich dadurch, daß das Kupfer nach dem Treiben hart wird und jedesmal wieder ausgeglüht werden muß, um wieder in weichem Zustand getrieben werden zu können. Eine ganze Anzahl Stücke sind mit Schlaglot hart zusammengelötet, worauf die einzelnen Teile oben mit starken Kupfernieten aneinander befestigt wurden. Nach dem Urteil Basses ist die plastisch schöne Figur so kunstvoll und solid zusammengesetzt wie nur irgend möglich und weit vollkommener gearbeitet als die Hermannsstatue bei Detmold, bei deren Herstellung er seinerzeit zugegen war. Die 1900 vom Gerüst aus vorgenommenen Messungen ergaben:

Stärke des Kupferblechs  2 ½–3 mm
Ganze Höhe der Figur von der Sohle bis zum Scheitel  9,25 m
Durchmesser des Kopfes                                                  1,– ”
Schulterbreite, hinten gemessen                                     3,– ”
Fußlänge                                                                           1,40 ”
Große Zehe                                                                       0,35 ”
Fristhöhe, von der Sohle gemessen                                0,30 ”
Ummessung am Bein, direkt am Knöchel                     1,35 ”
      ”      an der Wade                                                       2,10 ”
      ”      oben am Oberschenkel                                      3,– ”
      ”      an der Taille                                                       5,00 ”
      ”      am Handgelenk, dicht über der Hand               1,– ”
      ”      am Oberarm                                                       1,80 ”

Sowohl die Statue als der drei Meter hohe Sockel sind hohl, so daß man auf Treppen und Leitern bis in die Keule des Riesen

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[124–125  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Höhen über normal Null (Amsterdamer Pegel): Weißensteiner (Wilhelmshöher) Schloß 287 m, Fuß des Oktogon 525 m, Scheitel des Herkules 596 m.}


Abb. 11. Oktogon mit Kaskaden. (Die 1904 gefällten Fichten wurden erst unter Wilhelm IX. gepflanzt und erreichten ein Alter von etwa 100 Jahren bei einer Höhe von etwa 40 m.)

gelangen kann, in der acht Personen Platz haben. Die sich aus einem in der Keule angebrachten Fenster darbietende Aussicht genießt man auch von der Plattform des Oktogon aus; alles Lebendige schwindet hier dem Auge, das weithin über Berge und Täler mit den Stätten der Menschen bis hin zum Horizont mit seinen charakteristischen Bergrändern schweift.{*)}

Ein Riese krönte das Riesenwerk, die Nachbildung jener Herkulesstatue, zu deren Füßen Landgraf Karl um die Wende des Jahrhunderts im Palazzo Farnese zu Rom gestanden hatte. Ragten doch auch über die herabbrausenden Kaskaden des Anio zu Tivoli noch die Trümmer eines Herkulestempels, unter dessen Kolonnaden Kaiser Augustus Gerichtssitzungen abgehalten hatte. Die berühmteste aller Herkulesstatuen, die 5,3 m hohe Statue des farnesischen Herkules, hatte man zum Vorbild genommen. Sie war ihrerseits bekanntlich wieder die von dem athenischen Bildhauer Glykon verfertigte Nachbildung eines Bronzewerks des Lysippus, wurde 1540 in den Thermen des Caracalla [125] zu Rom gefunden, war früher im Besitz der Familie Farnese zu Rom und befindet sich jetzt im Museo Nazionale zu Neapel.


Abb. 10. Ansicht des Karlsberges. Stich von W. C. von Mayr 1760.

Nun lag der gesamten Anlage eine einheitliche Idee zugrunde, die Idee der Gigantomachie, wie sie uns aus klassischer Zeit überkommen ist. Die Giganten suchen im Kampf gegen den Weltbeherrscher

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[126  Landgraf Karl. 1677–1730]

Zeus den Olympos zu erstürmen, werden aber nach einer heißen Schlacht, an der besonders auch Herkules (hier richtiger Herakles) siegreichen Anteil nimmt, bezwungen und in den Tartarus gestürzt. Auch hier sehen wir einen dieser Giganten, Enzeladus, auf den Herkules einen gewaltigen Felsblock geschleudert hat, in ohnmächtiger Wut, rücklings auf dem Boden liegend, einen über zwölf Meter hohen Wasserstrahl seinem Bezwinger entgegenspeien, der mit gesenktem Kopf auf ihn herabschaut. Auch die bis zum Fuß des Berges rings verstreut liegenden mächtigen Findlingsteine sollen an diese Gigantenschlacht gemahnen. Wenn wir diese Idee der Gigantenschlacht im Auge behalten, so muß es als ein glücklicher Gedanke bezeichnet werden, gerade den farnesischen Herkules des Glykon auf der Oktogonpyramide nachzubilden. Die alte Kunst suchte in Herkules vorzugsweise das Bild riesiger körperlicher Kraft zu versinnlichen, wie es ja auch diese Statue mit ihrem kurznackigen Hals, den hervorquellenden Muskeln und der breit gewölbten Brust verkörperte. Aber dieser farnesische Herkules steht nicht stolz und siegesfreudig da, sondern lehnt sich, den Kopf mit den düster blickenden Zügen auf die Brust gesenkt, auf seine Keule als ein unter der Anstrengung gebeugter Mann. Die auf den Rücken gelehnte Rechte umschließt die erbeuteten Äpfel der Hesperiden. Setzen wir nun diese Senkung des Hauptes und die lässige Körperhaltung, die ja die Folge einer soeben bestandenen großen Körperanstrengung ist, in Beziehung zu dem zerschmettert am Boden liegenden Enzeladus, so ist eine Deutung der ganzen Szene geschaffen, wie sie natürlicher nicht gewonnen werden konnte.

1715–1718.

Die Arbeiten an der Statue nahmen, wie wir schon sahen, ihren Fortgang. Die Pyramide war Ende 1714 im Bau fertig, im März 1715 erhielt sie bereits den ersten Anstrich. Die jährlichen Ausgaben für Leinöl gingen seit 1714 in die Tausende. Zimmerleute errichteten die hölzerne Treppe in der Pyramide. Auch der Wasserstollen auf der Sichelbach näherte sich seinem Ende; 1715 betrugen die an die Bergleute und Maurer hierfür bezahlten Löhne nur noch 646 Rtlr. 9 Alb. 8 Hllr. Im Juli arbeitete Maurermeister Bischof am Reservoir an der Füllentränke. Im September hatten die Maurer wieder einen Bruch am Kanal zu reparieren. An sonstigen Kosten gingen

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[127  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Will heißen: an besonderer Vergütung.}

in diesem Jahr noch 5209 Rtlr. 28 Alb. 8 59 Hllr. auf, die sich im wesentlichen verteilten auf die Kohlenlieferungen für die Statue, die unter dem Teichgräber Pitsch oberhalb des Weißensteiner Schlosses begonnenen Erdarbeiten am Bassin, die Arbeiten der Bergleute und Maurer am Fundament des Oktogon, die Auskittung der Fugen an den Kaskaden und Lieferung von Materialien. Außerhalb des Akkords baute Guerniero am Oktogon »oberhalb der Galerie« noch zwei Nischen (aus je 106 Steinen) und zwei Pilare (aus je 144 Steinen), und nahm gegen eine besondere Bezahlung von 200 Talern eine Veränderung der Treppen am Oktogon vor.

Ende des Jahres wurden zwei neue Aufseher, Paul Mordt und Konrad Klein, angestellt. Ein neues Aufseherhaus am Fuße der Kaskaden war bereits im Rohbau fertig.

1716 betrugen die Baukosten 4348 Rtlr. 30 Alb. 10 Hllr. Zu Beginn des Jahres wandte sich der Röhrengießer Paul Schreyer an den Landgrafen mit der Bitte, ihn und die Seinen mit einem »Soulagement« zu erfreuen; seit drei Jahren habe er bei gutem und bösem Wetter, bei Tag und bei Nacht die Aufsicht beim Kanal auf dem Winterkasten geführt, für diese Inspektion aber nicht das geringste genossen;{*)} da Oberbaudirektor v. Hattenbach bestätigte, daß er in dieser Zeit manchen sauren Gang nach dem Stollen auf der Sichelbach getan und seine Aufsicht fleißig ausgeübt hatte, bekam Schreyer ein Geschenk von 30 Talern. In diesem Jahr wurde der Steinmetz Casello wieder berufen. Vermutlich hatte der Werkmeister Giovanni Ritz, der im Oktober des Vorjahres eine größere Reisesumme erhielt, den Auftrag gehabt, sich in Italien nach Steinmetzen umzusehen möglich auch, daß seine Reise mit dem Verschwinden Guernieros zusammenhing. Am 2. August 1715 hatte dieser, wie wir sahen, noch eine Tochter in Kassel taufen lassen, bald darauf wird er – ob heimlich oder im Einverständnis mit dem Landgrafen, wissen wir nicht – die Stadt verlassen haben.

Den Beschluß der Arbeiten an diesem Riesenbau mögen uns einige Aufstellungen und Rechnungen des Kasseler Malermeisters Johann Ludwig Christian Werner zeigen, dem es vorbehalten war, die letzte Hand an das Werk zu legen.

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[128  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Wie aus dieser und der folgenden Aufstellung hervorgeht, muß die Aufrichtung der Statue nach dem 18. Oktober 1717 und vor dem 12. August 1718 erfolgt sein.}

1. Auf des Herrn Brigatier gnädigen befehl auf den winder Kasten auf der Biramitten das postament wo der Man auf zu stehen kombt außwendig und inwendig wie auch die Eißerne stäbe so drinnen ßein wie auch die stäbe Eißen so in den gantzen Man kommen, mit starcken firnis und farbe anzustreichen, daß Es nicht rosten kan, dar zu habe ich nöthig dreißig Maas lein öhl, zwölf lb Silberglüth, Ein Fas Kinrauch, Sechs lb braunroth,
      Caßell den 18 October 1717.{*)}       
      von Hattenbach.      Johann Ludewig Christian Werner.

2. Auf des Herrn Brigadier von Hattenbach befehl habe Ich auf dem winderkasten gearbeitet und verferdiget oben auf dem Schloß die gantze Pyramida außwendig mit Öhlfarbe grau und weiße steinfarbe angestrichen biß unden auf das postament, wie auch das postament wo Herculus aufsteht, auch grau und weiße steinfarbe außwendig angestrichen, und inwendige das gantze Eißenwerk, aller wegen mit starcker öhlfarbe angestrichen, das eß nicht Rosten kan, wie auch in den Herculis, alle das Eißenwerk das darinnen ist, von unden an biß an den Kop alles mit starker öhlfarbe angestrichen, das eß nicht Rosten kan, daran habe ich verdienet vor meine Müh und arbeitlohn   60 Thaler.
      Caßell den 12. Augusti 1718.      
                                    Johann Ludwieg Christian Werner.
Weil [!] eß gefährliche und Saure arbeit gewesen ist diese arbeit mit fünfzig fünf Rthlr. veraccordirt worden.    von Hattenbach.

3. Auf des Herrn Brigadier von Hattenbach befehl auf den Winderkasten unden an den großen paßeng das Gewölb inwendig wo es glat ist allerwegen zwey Mahl an etlichen orden trey Mehl mit fernis angestrichen, und dan die fugen noch zwey Mahl angestrichen, daran habe ich verdienet vor meine Mü und arbeit lohn und vor die zwey Handtlanger thud zußamm      35 Thaler.

      Caßell den 5 november 1718.      
                                    Johann Ludwig Christian Werner.

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[129–131  Landgraf Karl. 1677–1730]


[129] Abb. 12. Prospekt des Karlsberges. Nach einem Gemälde des Johannes van Nikole. Kgl. Museum zu Kassel.


[131] Abb. 13. Prospekt des Karlsberges. Nach einem Gemälde des Johannes van Nikole. Kgl. Museum zu Kassel.

[130] Seit dem Jahre 1718 standen auf dem Karlsberg noch in fester Besoldung der Maurermeister Giovanni Ritz, der Steinhauer Bernardo Casello, die Aufseher Hemmerich, Mordt und Klein, der Röhrengießer Schreyer und dessen Handlanger, der Bergschmied Welcker und der Kalkbrenner Wigand Hofmeister.

Nur vermuten können wir, daß Karl auch das jetzige Fontänenbassin, wenn auch nicht in seiner heutigen Gestalt, anlegen ließ. Am 12. Juni 1713 begann der Teichgräber Hans Günther mit achtzehn Leuten ein großes Bassin »beim Weißenstein« auszugraben. Als am 16. September sein Akkord abgelaufen war, fand der Landgraf bei Besichtigung der Arbeit, daß Günther, der über den Akkord hinaus Leute angenommen hatte, mit seinem Geding zu kurz komme und ließ ihm auch alle weiterhin noch entstehenden Kosten auszahlen. Mitte November trat der neu in den landgräf‌lichen Dienst genommene Teichgräber Johannes Pitsch an seine Stelle. Er erhielt – gleich dem Röhrengießer Schreyer auf der Sichelbach – einen Monatslohn von acht Talern und, damit er desto fleißiger die Aufsicht ausübe und auf des Landgrafen Vorteil sehen möge, durch den Generalfruchtschreiber jährlich noch 6 Viertel Korn und 6 Virtel Gerste. Am 31. Dezember 1716 waren diese Arbeiten am Bassin, zu denen seit 1714 auch Günther wieder hinzugezogen war, noch nicht beendet, auch im Sommer 1718 scheint man noch daran tätig gewesen zu sein. Der erst im Winter 1785 unter Landgraf Wilhelm IX. begonnene Lac kann nicht in Frage kommen; an seiner Stelle befanden sich zur Zeit Landgraf Friedrichs II. nachweislich noch einige alte Fischteiche. Es ist daher mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß das unter Karl neu ausgegrabene Bassin, von den späteren Änderungen seiner Gestalt abgesehen, identisch mit dem jetzigen Fontänenbassin ist. Diese Hypothese findet noch eine weitere Stütze. Durch den Kunstmaler Johannes van Nickole aus Harlem, der um 1690 von Düsseldorf nach Kassel berufen wurde und auf Kosten Landgraf Karls eine Studienreise nach Italien unternahm, ließ dieser (wie Rommel mitteilt, seit 1715) acht große Prospekte vom Weißenstein und Karlsberg malen, die in den verschiedensten Variationen diese Anlagen so, wie sie zum größten Teil nicht zur Ausführung gelangten, darstellen und auch wieder die Annahme nicht ohne weiteres von der Hand weisen lassen, daß Karl den Plan, die Anlagen bis zum Fuße des Berges herunterzuführen, noch nicht [131] ganz aufgegeben hatte. Auf einem dieser Prospekte nun sehen wir zu beiden Seiten des von einer Rasentreppe umgebenen (jetzigen) Fontänenbassins je einen großen Triumphbogen, der tatsächlich einmal

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[132–134  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Vgl. die Abbildungen 14, 18, 26.}

{**) Rommel (X, S. 141) und Hofmeister (Künstler und Kunsthandwerker. S. 85) nennen ihn van Nickelen. Im Kgl. Staatsarchiv zu Marburg befindet sich eine Quittung auf der Joannes van Nikole am 15. August 1720 den Empfang von 300 Talern für das fünfte Gemälde vom Winterkasten bestätigt.}

{***) »Der Kammerdiener Gundelach hat bey gehaltenem Fürstenlager zu Weisenstein vom 27. Mai bis 7. Juni zu Ihro Durchlaucht täglichem Behuf empfangen 147 R. 17 alb. 4 hlr.« Monatliche Kabinettsrechnung 1710, 23. Mai.}

{10) Diese Episode bringe ich in getreuer Anlehnung an den Artikel »Orffyreus« in Strieders Grundlage zu e. Hess. Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Seinen eigentlichen Namen Beßler modelte er dadurch um, daß er die 24 Buchstaben des Alphabets mit Ausnahme des v oder u in zwei Zeilen untereinander setzte und so statt Beßler Orffyre herausbrachte (Lichtenberg, verm. Schriften VII. S. 306, Anm.).}


[133] Abb. 14. Prospekt des Karlsberges. Nach einem Gemälde des Johannes van Nikole. Kgl. Museum zu Kassel.

bestanden hat{*)} und wenige Monate nach dem Tode Landgraf Friedrichs II. (1785) abgebrochen und zum Teil wieder in der Karlsaue aufgestellt wurde. Es ist nicht anzunehmen, daß Friedrich II. einen Entwurf seines Großvaters zur Ausführung gebracht haben sollte, so daß wir sowohl das Bassin in seiner ersten Gestalt als auch die auf dem Prospekt Nickoles{**)} dargestellten Triumphbogen noch dem Landgrafen Karl zuschreiben können.

Diese acht Prospekte hingen früher im sog. »roten Stein«, dem Ordenssaal des 1811 abgebrannten alten Landgrafenschlosses zu Kassel; jetzt befinden sie sich im Kasseler Naturalienmuseum. Acht kleinere Prospekte mit denselben Entwürfen hängen im Wilhelmstaler Schloß.

Christoph v. Rommel kannte noch ein undatiertes Schreiben Karls an eine Königin, worin er die Hoffnung ausspricht, doch noch ein zu Weißenstein notwendiges Lust- und Jagdschloß ermöglichen zu können. Diese Hoffnung wurde ihm nicht erfüllt, bis zu seinem Tod diente ihm das alte Weißensteiner Jagdschloß des Landgrafen Moritz, namentlich im Sommer, zum vorübergehenden Aufenthalt.{***)}

Eine für die damalige Zeit mit ihrem erwachten starken Interesse für die Naturwissenschaften und physikalische Experimente bezeichnende Episode soll hier um so weniger übergangen werden, als sie sich im alten Schlosse zu Weißenstein abspielte. Physik und Mechanik waren auch die Lieblingswissenschaften des Landgrafen Papin, Wolfart, Zumbach und Vogelsang wirkten in seiner Residenz, und das von ihm 1709 begründete Collegium Carolinum pflegte vornehmlich Physik, Anatomie und Mathematik. Im Jahr 1716 ließ Karl den berüchtigten und weitgereisten Johann Ernst Elias Orffyreus,{10)} den angeblichen Erfinder eines Perpetuum mobile, unter Zusicherung freier Reisekosten nach Kassel kommen. Orffyreus, mit seinem wirklichen Namen Beßler, stammte aus einem Walddorf an der böhmischen Grenze. Auf dem Gymnasium zu Zittau war er [133] ein Lieblingsschüler des bekannten Rektors Christian Weise gewesen. Er ging dann auf die Wanderschaft, schnitt Steine, blies und schliff [134] Glas, stach Kupfer, bossierte Wachs und fabrizierte Pulver. Aus einem Kloster wegen seiner Ausschweifungen ausgewiesen, wurde er Soldat, desertierte, lernte von einem Chemiker, dem er das Leben gerettet, die Herstellung von Medikamenten und trieb sich als Quacksalber in Italien, Holland und England herum; später war er auch als Orgelbauer tätig und beschäftigte sich daneben eingehend mit der Erfindung eines Perpetuum mobile. In Gera stellte er 1712 zum erstenmal unter gewaltigem Zulauf seine Maschine auf. Als Landgraf Karl von ihm hörte, berief er ihn nach Kassel, räumte ihm im Weißensteiner Schloß ein Zimmer zur Aufrichtung seines Perpetuums ein, ernannte ihn zum Kommerzienrat und stellte ihm auch ein sehr günstiges Zeugnis aus, das wir unter vielen andern in dem 1718 zu Leipzig erschienenen Werk »Neue Nachricht von der curiosen und wohlbestellten Laufprobe des Orffyreischen auf dem Schlosse Weissenstein bey Cassel aufs neue erbaueten Perpetui mobilis« abgedruckt finden. Im folgenden Jahr erschien ein weiteres Werk »das triumphirende Perpetuum mobile Orffyreanum an alle Potentaten, hohe Häußer, Regenten und Stände der Welt ..... In gebürender Submission zu etwanniger Erhandlung vorgestellet, und als ein Antrag entworffen, von dessen Inventore, Orffyreo, (folgt eine Bibelstelle). 1719 im October zu CASSEL gedruckt und verlegt von dem Inventore selbst, bey dem es auch bereits schon eingebunden zu bekommen ist auf dem Schloß Weissenstein«. In einer umständlichen Widmung an den Landgrafen spricht er die Hoffnung aus, diese Schrift werde nicht allein diesem zu unsterblichem Ruhm gereichen, sondern auch ihm selbst zu einem gesegneten Geschäft die Tür öffnen. Im Werk selbst zählt er die mannigfaltige praktische Verwendbarkeit seiner Maschine auf. Der Anhang enthält zahlreiche, meist poetische Attestate, darunter solche vom hessischen Postkommissarius Renner, von einem Major Weber, dem stud. phil. J. P. Kuchenbecker und dem Münzmeister und Miniaturmaler David le Clerc; selbst die Druckerei hing einen poetischen Glückwunsch an. Der uns schon bekannte Oberberginspektor C. Zumben widmete ihm folgende Verse:

      Man wird mit leichter Müh jetzt bringen zu dem Tage,
      Das tieff verborgne Ertz, man wird ohn sonder Plage
      Das Wasser treiben fort, und machen trockne Plätz,
      Indem man ohn Gefahr, ohn grosse Müh und Geld,
      Das lang versäuffte Guht wird aus den Tiefen bringen,
      Mich dünkt ich höre schon wie Orffyreum singen

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[135  Landgraf Karl. 1677–1730]

      Die Zechen überall, Ihn lobet Berg und Feld,
      Sie ruffen allesamt, daß man bald einig sey,
      Zu reichen Orffyre die wohl-verdiente Summen,
      Was sol ich aber tun? ich muß allhier verstummen,
      Und voll Verwunderung, dem Berggruß fallen bey,
                  Glück auf!

Orffyreus selbst verfaßte mehrere Folianten voll Lobgedichte auf den Landgrafen; ihr Wert möge durch eine Probe aus seinem »Bibel-Ball-Freuden-Hall und Jubel-Schall. 1717« illustriert werden:

      Des bekandten ORFFYRE
      Perpetuum Mobile
      Pflegt auch wiederum zu gehen,
      Zum Schloß Weisenstein zu stehen.

Vor dem Zimmer des Weißensteiner Schlosses, in dem das Werk stand, waren Wachen aufgestellt; die Türen waren verschlossen, die Fensterläden von innen verstemmt. Nachdem das Rad zwei Monate beständig gelaufen hatte, stellte der Landgraf Orffyreus am 27. Mai 1818 Attestat und Schutzbrief aus und bestätigte darin, daß besagtes Perpetuum mobile ohne Uhrwerk oder aufzuziehende Gewichte und Federn in immerwährendem Lauf ununterbrochen verharret. Nachdem Orffyreus seine Weißensteiner Maschine zerstört hatte, siedelte er 1722 nach Karlshafen über, wo ihm Karl Wohnung, Garten, Wiesen und Äcker geschenkt hatte; denn er hatte sich anheischig gemacht, dort die Maschine in noch größerem Umfang aufzubauen, woraus aber nichts wurde. Die Enthüllung brachte ein Protokoll vom 28. November 1727 über die Vernehmung seiner früheren Magd. Diese sagte aus, das Rad sei sowohl in Gera und Magdeburg wie in Weißenstein gedreht worden; wie es verschlossen gewesen, hätten Orffyreus, seine Frau, sein Bruder Gottfried und sie, die Magd, eins ums andere gedreht und einander abgelöst; er hätte ihr für jede Stunde zu drehen zwei gute Groschen versprochen, von welchem Lohn sie noch 9 Taler vor einigen Monaten bekommen, der Gottfried aber, weil er am meisten hätte drehen müssen, hatte 100 Taler bekommen. Sie hätte Tag und Nacht drehen müssen, weil er befürchtet, es möchte jemand acht haben, ob es auch des Nachts liefe. Das Drehen wäre in Orffyrei Schlafkammer, so nahe daran gewesen, geschehen, und zwar auf einer Stellage hinter dem Bett. Wenn man sie an den Ort und in die Kammer nach Weißenstein führte, könnte sie noch alles zeigen, wie es gewesen. Orffyreus

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[136  Landgraf Karl. 1677–1730]


Abb. 15. J. E. Orffyreus. Kupferstich von C. Fritzsch. (Das Gesichtsfeld dieses Kupfers ist ausgeschnitten, das Gesicht wird ergänzt durch einen zweiten, darunter liegenden Kupferstich, der Orffyreus in wallendem Mantel darstellt. Beide Kupfer sind vorgesetzt dem »Triumphierenden Perpetuum mobile« 1719.) [Auf dem Bild: »des Werck Zeugs Würde wird vollendet / wen man ihm weder lobt noch schändet:NB.«]

habe ihr unter Androhung des Todes einen furchtbaren Eid abgenommen, von dem Drehen nichts zu sagen. Wie das Rad acht Wochen zu Weißenstein Tag und Nacht gelaufen und hätte gedreht werden müssen, hätte sie sich beschwert, daß sie, zumal im Winter, die stete Arbeit des Drehens nicht aushalten könne, er aber hätte sie mit Versprechungen auf eine gute Bezahlung beschwichtigt. Orffyreus trug übrigens stets Gift bei sich, um sich, wenn er sich nicht anders mehr vor Entdeckung retten könnte, umzubringen. Daß man seinen Schwindel nicht ahndete, lag nahe genug. In Karlshafen gedachte er ein großes »Tugendhaus und wahre Weisheitsschule« zu stiften. 1738 hielt er sich noch in Karlshafen auf, wo er nach einer Notiz in den »Hamburger Berichten von Gelehrten Sachen« eine Maschine erfunden haben wollte, durch die bei Strandung von Schiffen Güter und Menschen gerettet werden könnten. 1743 versuchte der Erzschwindler, der sich unter der Maske der Religion das Vertrauen fürstlicher und gelehrter Personen zu verschaffen wußte, sein Heil im Braunschweigischen. Am 30. November 1745 starb er zu Fürstenberg und wurde in dem von ihm errichteten Erbbegräbnis zu Karlshafen begraben.

1723.

In seinem »Beitrag zur allerältesten und natürlichsten Historie von Hessen 1774« bedauerte der hessische Professor J. E. Raspe, daß

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[137  Landgraf Karl. 1677–1730]

Guerniero zur äußeren Bekleidung des Oktogons und der Kaskaden keine dauerhafte Steinart verwandt habe, da aller vulkanischer Tuffstein zwar leicht zu bearbeiten sei, sich in großen Stücken brechen lasse und fast nie rissig werde, aber von Luft, Frost und Regen angegriffen, mit der Zeit klüftig und locker werde und zerfalle. Die Bestimmung des Materials lag aber schwerlich in des Künstlers Hand; dazu muß man sich vergegenwärtigen, daß eben dieser im Habichtswald selbst gewonnene Tuffstein allein einen solchen riesigen Bau ermöglichte. Dagegen ist der geniale »architetto Romano« vom Vorwurf der Leichtfertigkeit, der ihm und seiner Bauart im Lauf der Zeit oft gemacht wurde, nicht freizusprechen. Schon im Jahre 1723 war eine größere Reparatur unterhalb der Pyramide notwendig, die einen Kostenaufwand von über 1895 Talern verursachte. Allein für 357 Taler neue Steine mußten im Steinbruch gebrochen werden, deren Transport 664 Taler kostete; für 123 Rtlr. wurden Eisen und andere Materialien beschafft, und die Maurer, Steinhauer und Zimmerleute erhielten über 851 Taler Arbeitslohn, der Schaden war also ein recht erheblicher. Geleitet wurden die Arbeiten von dem italienischen Baumeister Rossini. Wir werden sehen, daß sich auch in späteren Jahren bis in die Gegenwart hinein bedenkliche Risse, Senkungen und Ausweichungen an dem Bau zeigten und dessen Verfall nur durch bedeutende Verstärkungen und Nachbauten abgewandt werden konnte.

Die Ursache der so frühzeitigen Schadhaftigkeit des Oktogons und der Kaskaden lag also einmal in der Beschaffenheit des Materials und sodann in Konstruktionsfehlern, die lediglich Guerniero zur Last fallen.

Der Boden, auf dem Oktogon und Kaskaden stehen, ist ein vulkanisches Konglomerat. Der dichtere Teil ist dem gewöhnlichen römischen Baustein, dem Peperino, sehr ähnlich, der andere ist der vulkanischen Asche verwandt. Guerniero nun hielt das dichtere Gestein eben wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Peperino zweifellos für einen guten Baustein und wandte es deshalb fast ausschließlich an. In der italienischen Vorrede zu seiner »Delineatio« nennt er den Stein geradezu »Travertin«, einen der besten Bausteine des alten und neuen Italiens, der aber ganz andere Bestandteile hat. Auch fehlte es in der Nähe des Karlsberges an einem guten Bausand, während der Kalk wohl zwischen Kassel und dem Weißenstein aus einem ziemlich

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[138  Landgraf Karl. 1677–1730]

{11) Nach einem Aufsatz des Oberbaumeister Engelhard über die Herstellung des Oktogon in Trelles Journal f. d. Baukunst. Bd. 21. Berlin 1845.}

viel Ton enthaltenden tertiären Kalkstein gebrannt wurde.{11)} Aus Sparsamkeitsrücksichten verwandte Guerniero, wo es nur irgend anging, Gußmauerwerk, was für den Bestand des Oktogons überaus verhängnisvoll war. Während zu den Quadersteinen eben jenes vulkanische Konglomerat in seiner dichteren Beschaffenheit – wir bezeichnen es gewöhnlich als Tuffstein – genommen wurde, verwandte man es in den kleinen bröcklichen Partikeln, in denen es eine Art vulkanischer Asche bildet, als Bausand; hier rechnete Guerniero vielleicht auf eine Ähnlichkeit mit der Puzzolane, von der dieser Kies aber sehr verschieden ist. Die Folge war, daß das Gußmauerwerk keine feste Bindung bekam und schließlich zu einer erdigen, zusammenhangslosen Masse wurde. Die eindringende Feuchtigkeit ließ sie wie Erde auseinanderfallen; dazu kam, daß das feuchtgewordene Material im Winter heftigem Frost ausgesetzt war und dadurch allen Rest von Bindekraft verlieren mußte. Eben diese Zerstörungen von Feuchtigkeit und Frost wirkten auch auf die Quadern und Platten ein, und, was das schlimmste war, es zeigte sich bald, daß diesen die zum Tragen größerer Massen notwendige Widerstandskraft fehlte. Der Überlieferung nach soll sich das noch während des Bauens geltend gemacht haben; an dem Abend, wo das erste Hauptgebrechen entstand, und in der darauf folgenden Nacht soll Guerniero, um diesem Schaden abzuhelfen, ein Projekt entworfen, dieses aber auf seinem Arbeitstisch zurückgelassen haben und am andern Morgen verschwunden gewesen sein.

Neben dieser unvollkommenen Beschaffenheit des Materials ließ aber auch die Konstruktion manches zu wünschen übrig. Das untere Stockwerk zeigte eine Inkrustierung mit aufrechten Steinplatten, die nur sparsam von wagerechten Lagen durchzogen waren. Der Mauerverband war also sehr unvollkommen; denn die hochkantig stehenden Steine, die die Basaltformation nachahmen sollen, haben weder feste Stützpunkte auf den wenig Raum einnehmenden Lagerfugen, noch genügende Fugenverwechslung in der Höhe. Eine ähnliche Inkrustierung findet sich im innern Hof des Gebäudes, und der Raum zwischen der innern und äußern Inkrustierung war mit Gußmauerwerk ausgefüllt, in dem allerdings Lagen von horizontalen Quadern vorkommen, ohne die das Gebäude zweifellos schon während der Erbauung eingestürzt wäre. Da nun der Mörtel lediglich aus jener vulkanischen, mit Kalk ziemlich mager angemengten Erde bestand,

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war das Bindemittel des Gußmauerwerks ohne alle Festigkeit; wenn auch die größeren Steinbrocken dazwischen einigermaßen lagenhaft gelegt waren, so war doch ein eigentlicher Verband nicht vorhanden. Daß sich so der Mangel eines guten Quarzsandes früher oder später rächen mußte, war unausbleiblich.

Im mittleren Stockwerk war die Inkrustierung mehr lang als hoch, aber immer nur Inkrustierung. Vielleicht hatte man sich bereits durch die nachteiligen Erscheinungen am unteren Stockwerk warnen lassen und eine dauerhaftere Zusammensetzung gewählt. Einen bedenklichen Fehler aber hatte man bei den Bogensteinen der Wölbungen begangen. Sie waren so dünn, unregelmäßig und schlecht behauen, daß sie nicht einmal sich selbst, geschweige denn eine Last tragen konnten. Auch bei diesen Bogen hatte Guerniero auf die Festigkeit des Gußmauerwerks über ihnen gerechnet und die Bogensteine nur zur inneren Auskleidung dienen lassen. Dieselbe Konstruktion zeigten auch die Bogen des oberen Stockwerks und sogar die Wölbungen, die dessen Hallen bedecken. Die aus Platten zusammengesetzten Wölbungen über den Hallen mußten, weil sie dem Einsturz nahe waren, schon frühzeitig durch Quadern von größerer Dicke ersetzt werden; zu diesen Gewölben konnte die Feuchtigkeit der Plattform durchdringen und mußte so das noch dazu dem Frost ausgesetzte Gußmauerwerk vernichten.

Das dritte Stockwerk enthielt nur an den Pilastern und dem Karnies wirkliche Quadern, alles übrige waren lediglich zur Inkrustierung dienende Platten. Dieses Stockwerk war von Anfang an am meisten gefährdet. Denn da die stärkeren äußeren Flächen der beiden unteren Stockwerke nach außen über die des oberen Stockwerks vortreten, während sie nach innen diesem gleichstehen, so ruhen dessen Außenmauern auf Gußmauerwerk von großer Höhe, während die inneren, ein achteckiges Prisma bildenden Mauern auf der ziemlich starken Inkrustierung der Innenmauern der unteren Stockwerke stehen.

Auch die Kaskaden wiesen eine durchaus unvollkommene Untermauerung der Platten auf; diese ruhten nämlich nur auf den beiden Mauern, die die Wangen der Wasserstufen bildeten, und auf einer zwischen den Wangen befindlichen schmalen Mittelmauer oder Zunge. Um Mauerwerk zu sparen, hatte man den Raum zwischen der Zunge und den Wangen hohl gelassen, was bei der kleinsten Undichtigkeit

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{12) Die Grundwasserhypothese inbezug auf das Plateau des Winterkastens (vgl. auch die Lahnquelle, die heilige Quelle auf der nackten Kalksteinkuppe der Akropolis, die Santa Maria di tre fontane bei Rom) vertritt besonders H. Haedicke-Siegen.}

einer Plattenfuge vielen Wasserverlust zur Folge haben mußte und, wie wir noch sehen werden, auch gehabt hat.

Die Folge der verschiedenartigen, dem Oktogon anhaftenden Mängel war, daß das Gebäude schon bald durch die notwendig gewordenen Nachbauten seine zierliche italienische Architektur verlor und ein schwerfälliges Aussehen erhielt. Schon bald zogen sich die oberen Stockwerke der vier Risalite und der Außenmauern des Achtecks aus dem Lot, weil sie auf Gußmauerwerk gegründet waren, während die inneren Mauern durch die geschlossene Form des Achtecks und die starke Inkrustierung von innen gegen Senkungen und Ausweichungen mehr geschützt waren. Naturgemäß hatten solche Ausweichungen mannigfache Risse und Störungen des Mauerverbands zur Folge. Zunächst mauerte man wohl die Zwischenräume der Pilaster aus. Um die Ausweichungen im Grundbau zu vermindern, wurden dann die Bogenöffnungen des zweiten Stockwerks mit Quadern vollgemauert, wodurch dieses zu einer plumpen Steinmasse wurde. Das alles aber genügte nicht. Wie am zweiten Stockwerk, so mußte man auch am obersten die weiten großartigen Bogenöffnungen der Pilasterpfeiler mit kleineren Bogen und gewölbten Kreisen verstärken. Eingemeißelte Jahreszahlen (1755 und 1756) geben uns auch die Möglichkeit der Datierung. Auch ein Netz von Verankerungen erwies sich als notwendig. Im Sommer 1908 wurde auch der letzte, noch nicht verstärkte Flügel in dieser Weise unterbaut.

Die Symmetrie der ganzen Anlage auf dem Karlsberg entsprach dem durch Lenôtre damals über ganz Europa verbreiteten durchaus geometrischen Gartenstil. Regelmäßige Gartenanlagen konzentrierten sich um einen bedeutenden Gegenstand oder leiteten zu diesem Gegensstand hin, der dem Ganzen erst seinen eigentlichen Sinn gab. Daß die einige Jahrzehnte früher geschaffenen Anlagen zu Versailles auch hier anregend gewirkt haben, unterliegt keinem Zweifel. Trotzdem kann von einer Abhängigkeit keine Rede sein. Hier senkt sich die ganze Anlage von der Höhe des Berges zum Schlosse herab, während in Versailles die Wasser vom Schlosse abwärts in die Ebene strömen, also zwei grundverschiedene Motive, die auch sonst durchgehende Unterschiede zur Folge haben (v. Oettingen). Der Gedanke, vom Rande des auf seinem Plateau einen ausreichenden Wasservorrat bergenden Karlsberges eine Kaskade hinabschießen zu lassen, lag nahe.{12)} Diese Kaskade war bedeutend genug, um den Mittelpunkt der ganzen

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[141  Landgraf Karl. 1677–1730]

{13) In dieser bautechnischen Beschreibung gebe ich vorwiegend Dehn-Rotfelser (Festschrift d. 51. Vers. deutscher Naturforscher u. Ärzte, Cassel 1878, S. 201) das Wort.}

{*) Nach Rommel X, S. 144 hatte Guiseppe Mogia als Gehülfe Guernieros in der Stukkatur die Statuen für die Grotten des Karlsberges übernommen.}

Gartenanlage und andrerseits ein Gegengewicht gegen das am Fuße liegende Schloß zu bilden. Da sich jedoch der obere Rand der Kaskade nicht über die Umgebung erhob, ergab sich der weitere Gedanke, über ihr ein Hallengebäude zu errichten, das, um nicht von der Umgebung erdrückt zu werden, diese beherrschen mußte. So erwies sich die Notwendigkeit eines Riesengebäudes. Daß damit zugleich ein weiterer Zweck, die Möglichkeit, eine ausgedehnte Aussicht zu genießen, beabsichtigt war, zeigt die geräumige Plattform. Die ursprünglich nicht in Guernieros Projekt enthaltene Pyramide erhöhte den monumentalen Charakter. »Es stand auf ihr die kolossale Statue des Herkules als ein Symbol großer, in eine kleine Masse gedrängter intensiver Kraft, die man einem kleinen, aber vortrefflich regierten Lande wohl zuschreiben konnte, ganz an ihrem Platze.« – –

Für die eigentliche Bauperiode ergibt sich in der Hauptsache folgende Datierung:

  • 1701–1704  Beginn der Arbeit am Oktogon und den Grotten.
  • 1704–1708  Grotten und Kaskaden; seit 1705 Wasserlaufstollen auf der Sichelbach.
  • 1708–1711  Oktogon; 1710 Kanal unterhalb Weißenstein.
  • (1711–1712  Restarbeiten; 1712 Beginn der Arbeiten am Kanal von der Füllentränke zur Sichelbach.)
  • 1713–1714  Pyramide.
  • 1713–1717  Herkulesstatue.
  • 1715–1718  Abschlußarbeiten.

Überblicken wir noch einmal das fertige Werk, dessen Standpunkt so genial gewählt ist, daß es nicht nur den gesamten Park beherrscht, sondern daß die scharf umschnittene Silhouette seiner von der Riesenstatue gekrönten Spitze viele Meilen weit rings im Lande, gleichsam als dessen Wahrzeichen, sichtbar ist.

Wir stehen am Fuße der 250 m langen, 11 ½ m breiten Riesentreppe der Kaskaden, über deren etwa tischhohe, oben abgeschrägte Stufen sich das Wasser, zu einer dünnen spiegelnden Fläche ausgebreitet, von der Höhe in das vor uns liegende Neptunbassin ergießt.{13)} An diesem Bassin liegt unter der letzten Kaskade die Neptungrotte mit der Statue des Meergottes,{*)} über die hinaus

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[142  Landgraf Karl. 1677–1730]

sich noch ein letzter, wesentlich höherer Absturz bildet und in der man durch die Bogentore die Wasserfläche von innen sehen kann. Drei kleinere Bassins teilen die Kaskaden in vier gleiche Abschnitte. Auf beiden Seiten sind die Kaskaden mit Treppen für die Besucher gesäumt. Am oberen Ende der großen Kaskade liegt wieder ein etwas größeres Bassin, nach der Bergseite hin von hohen Felsenwänden umschlossen, über denen sich zu beiden Seiten im Bogen schmale Kaskaden aufwärts fortsetzen. Unter dem mittleren Teil dieser Felsenwand erblickt man im Bassin Kopf und Brust eines von Felsen erdrückten steinernen Riesen, dessen Mund einen 12,3 m hohen Wasserstrahl ausspeit, während sich über die Felsenwand Wasserstürze in das Bassin ergießen.

Zu beiden Seiten dieses Felsens stehen in Nischen die Statuen eines Zentauren und eines Tritonen, die auf mächtigen kupfernen Hörnern blasen. Der durch den Druck des Wassers erzeugte Luftdruck bringt in diesen Hörnern dumpfe Töne hervor, die man bei ruhiger Luft meilenweit hören kann. Auf der Höhe des Felsens bildet sich eine seitlich von zwei geschlossenen Felsengrotten begrenzte Fläche, in deren Mitte nochmals ein Bassin liegt; in diesem entspringt aus einer Felsenbildung in Gestalt einer Artischocke ein Strauß von kleinen Fontänen. Hinter diesem Bassin öffnen sich die drei mächtigen Felsentore der Pansgrotte, in der sich die Vexierwasser befinden, vielfache Reihen feiner Wasserstrahlen, die von allen Seiten jeden Punkt der Grotte mit Ausnahme einer trocken bleibenden Stelle bespritzen.

über dieser Pansgrotte endlich erhebt sich das mächtige Oktogon, zu dem je 842 Stufen zu beiden Seiten der Kaskaden emporführen; seine Grundform bildet ein regelmäßiges Achteck von etwa 270 Fuß diagonalem Durchmesser, mit innerem Hof von gleicher Grundform.

In der Mitte dieses düsteren Hofes liegt das tiefe Reservoir für die Vexierwasserleitung, das ursprünglich überwölbt war, jetzt aber offen ist. Die beiden unteren Stockwerke des Oktogons sind zusammen etwa 50 Fuß hoch; sie sind in Felsblöcken nachgeahmten Tuffsteinen aufgeführt und von außen mit Freitreppen umzogen, die bis zum Oberstockwerk führen und mehrfach Terrassen bilden. Das untere Stockwerk ist in gewölbte Tordurchgänge und Grotten geteilt, das zweite bildet einen mit Kreuzgewölben überdeckten Umgang. Einen zweiten Umgang mit Risaliten vor den schrägen Seiten gewährt das 45 Fuß hohe Oberstockwerk, das eine von gekuppelten Pfeilern in der

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[143  Landgraf Karl. 1677–1730]

{*) Die Pyramide ist also etwa 30 m, das Oktogon 28 ½ m hoch. Gesamthöhe der Kaskaden mit Oktogon und Pyramide bis zum Fuß des Standbildes etwa 120 m. Die Riesentreppe der Kaskaden ist 250 m lang und 11 ½ m breit.}

{**) Goethe war 1779, 1783, 1792 und 1801 in Kassel. »Fritze plagt mich so sehr, Cassel und besonders den Riesen auf dem Winterkasten zu sehen, daß ich ihm die Freude nicht versagen kann,« schreibt er 1783 von Göttingen aus Frau von Stein, der Mutter seines jungen Zöglings.}

Form toskanischer Pilaster getragene Bogenstellung bildet und mit Tonnengewölben überdeckt ist, die eine Plattform tragen. Auf der Mitte der Vorderseite erhebt sich die etwa 100 Fuß hohe steinerne Pyramide und auf deren Gipfel die aus Kupfer getriebene Kolossalstatue des farnesischen Herkules.{*)}

Die Inschrift der im Jahre 1714 von Pomponius Köhler geprägten Schaumünze weist darauf hin, daß Landgraf Karl diesen Bau, der auf dem Kontinent nicht seinesgleichen fand, in Beziehung zu dem Ruhm seiner hessischen Truppen bringen, ja, daß er in ihm der sprichwörtlich gewordenen Tapferkeit seiner Soldaten, deren siegreiche Fahnen auf zahlreichen europäischen Schlachtfeldern flatterten, ein bleibendes Denkmal setzen wollte. Damit fällt auch das einseitige Urteil eines mehr nach der industriellen Seite hin veranlagten Besuchers aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, der den Karlsberg als ein großes Nürnberger Spielzeug bezeichnet. Eben darum können wir auch Goethe{**)} nicht beipflichten, wenn er in seiner »Italienischen Reise« beim Anblick der gewaltigen Wasserleitung von Spoleto den »Winterkasten auf dem Weißenstein« ein »Nichts um Nichts, einen ungeheuren Konfektaufsatz« nennt, der keine wahre innere Existenz habe. Damit fiele die Existenzberechtigung eines jeden Denkmals.

Die Stimmung, in der man im allgemeinen dem Werk, auch in der folgenden Zeit, gegenübertrat, entsprach doch nicht derjenigen des abgesetzten Schulmeisters aus Böttiger. Ein Reisender, der 1785 Deutschland von der westfälischen Grenze bis nach Leipzig hin durchreiste, schrieb bei Erwähnung der Oktogonanlagen in sein Tagebuch: »Unsäglich kann die Summe genannt werden, die dazu verwendet worden; allein mancher teutsche Fürst verschwendete auch unzählige Summen an Parforce-Jagd, Operisten, Mätressen u.d.gl: war das Geld besser angewandt? Hier steht doch wenigstens ein Denkmahl der Prachtliebe des Fürsten, und wieviel Hände hat nicht schon diese Anlage beschäftiget und wird sie noch ferner beschfäftigen?« \

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[144  Landgraf Karl. 1677–1730]

Gewiß, es klebt das Blut manches beim Bau Verunglückten an diesen mächtigen Quadern und auch der Schweiß zahlreicher Untertanen, die im Hand- und Spanndienste an diesem Riesenwerk mithalfen. Am hartnäckigsten bewahrt sich der oft gehörte Einwand, an dem wir an dieser Stelle nicht vorübergehen dürfen, der gerade den hessischen Fürsten, dem Landgrafen Karl und noch mehr Landgraf Friedrich II. immer wieder gemachte Vorwurf des Soldatenhandels, durch den diese Bauten ermöglicht seien. Es scheint erfolglos zu sein, diesem besonders durch Seume veranlaßten literarischen Unfug mit seinen Entstellungen und einseitigen Übertreibungen entgegenzutreten. Seitdem Karl Preser in einer Monographie den Subsidienhandel auf archivalischer Grundlage dargestellt hat, kann nur noch Unwissenheit oder Absicht an jener einseitigen Kritik festhalten. Wir in Hessen verlangen nicht, daß der Subsidienhandel irgendwie beschönigt werde; was wir aber verlangen, ist, daß man diese leidige Angelegenheit historisch, aus den Zuständen und Anschauungen der Zeit heraus, zu verstehen sucht, und daß jeder, der über den Soldatenhandel zu urteilen sich berufen fühlt, die historische Tatsache nicht unterdrückt, daß in damaliger Zeit außer Hessen fast alle deutschen Staaten und zum Teil in noch größerem Umfang als Hessen Subsidienverträge abgeschlossen haben. Das 18. Jahrhundert kann geradezu als das Jahrhundert der Subsidienverträge bezeichnet werden, die so häufig waren wie der Krieg selbst. Und während in vielen andern Ländern die Subsidienüberschüsse, wie sie gewonnen waren, so auch wieder zerrannen, wurde, wie Preser nachweist, in Hessen durch sie der Grund gelegt zu einem Staatsschatz, der als Eigentum des Landes das Stammkapital unseres Kommunalfonds bildet und als solcher heute noch dem Regierungsbezirk zugute kommt. Man urteile über diese Subsidienverträge wie man will, nur erkenne man gleiches Recht für alle an und sehe die hessischen Landesfürsten nicht ungünstiger an als andere Fürsten Deutschlands für ihr Tun unter ganz ähnlichen Verhältnissen.

Und schmälere uns nicht den Genuß an jener einzigartigen Schöpfung des Landgrafen Karl, von der Cornelius Gurlitt bekennt: »Man braucht den Geist dieser Anlage nur mit modernen Denkmalen zu vergleichen, um zu erkennen, welch’ gewaltiges Gestaltungsvermögen der autokratischen Herrschaft und welch’ weitschauende Planung den Künstlern jener Zeit eigen war. Die ganze Anlage steht

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[145  Landgraf Karl. 1677–1730]

unzweifelhaft über jener der französischen und italienischen Gärten. Versailles und Caserta sind allein mit ihr in Vergleichung zu ziehen. Aber sowohl hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung, wie namentlich in bezug auf die dem Gedanken inne wohnende Kraft, steht Wilhelmshöhe über jenen beiden.« Und Wolfgang von Oettingen faßt sein Urteil über das Oktogon dahin zusammen, daß dergleichen eigentlich erst Bruno Schmitz wieder mit seinen grandiosen Bergdenkmälern geleistet habe.

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[146  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) Am 30. Juli 1730 war die gesamte hessische Armee, 12 000 Mann, Georg II. von England, der sie unter Zusage von Subsidien in seine Dienste genommen hatte, auf dem Forst bei Kassel vorgeführt worden.}

Landgraf Friedrich I.
1730–1751.

Landgraf Karl starb 75jährig am 25. März 1730. Ihm folgte sein Sohn Friedrich, der seit 1715 in zweiter Ehe mit Ulrike Eleonore, der Schwester Karls XII. von Schweden, vermählt und seit 1720 König von Schweden war. Nur einmal kam er auf wenige Monate in seine hessischen Erblande, die sein Bruder Wilhelm, mit dem er auch durch eine hessische Kanzlei in Stockholm in Verbindung blieb, als Statthalter verwaltete. Neues hat Friedrich I. der Schöpfung seines Vaters nicht hinzugefügt, wohl aber erhebliche Reparaturen auf dem Karlsberg vornehmen lassen. Landgraf Karl hatte in den letzten Jahren für das Zivilbauwesen jährlich 10 000 Taler, darunter 3000 zur »Reparatur des Karlsberges«, ausgesetzt. 1730 betrugen jedoch die Kosten des Zivilbauwesens 12 798 Taler, da man sowohl in Erwartung der Anwesenheit Friedrichs, als auch wegen des Besuchs des Königs von Großbritannien im Vorjahre{*)} besondere Vorkehrungen getroffen hatte.

In dem 1730 nach Schweden abgesandten Bauetat hielt sich das Bauamt für verpflichtet, dem König besonders den schlechten Zustand der Bauten auf dem Karlsberg vorzustellen. Dann erstlich, heißt es darin, sind daselbst die Gewölbe vom Oktogon oder Hauptgebäude auf dem Berg nicht architektonisch, sondern gar schlecht angelegt, worauf hernach der Boden von der Altane auch mit vielen untüchtigen Steinen, so nicht durabel, sondern sich vom Wetter verzehren, belegt und das Fundament von selbiger über den Gewölben nicht gehörig solide ausgemauert, sondern nur schlechtweg, ohne mit Kalk zu verbinden, mit anderen schlechten Steinen angefüllet worden, durch

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[147  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) Im Kasseler Idiom wird »Kanal« heute noch neben »Markt« sächlich gebraucht.}

welche hernach der Regen gedrungen und der Frost selbige zur Winterszeit vollends ruiniert, also daß ein gänzlicher Einfall zu besorgen ist, wenn nicht zeitig vorgebeugt, die ganze Altane aufgenommen, durchgehends mit besseren Steinen belegt und mit tüchtigem Kitt verwahrt wird.

Zweitens ist der linke Flügel vom Hauptgebäude neben der Pyramide vorn nach den Kaskaden hin wegen schlechter Anlage der Fundamente ganz auseinandergewichen und gesunken, also daß er repariert und mit starken eisernen Schlüsseln, um die Gewölbe unter der Altane zusammenzuhalten und vor dem Einfall zu bewahren, versehen werden muß. Dies nebst der Reparation des vorigen kostet zum allerwenigsten 3339 ⅛ R.

Drittens ist die Hauptkonserve oder das große Reserve mitten im Hof des Oktogon, welches das springende Wasser in die große Grotte und beide Kabinette oben am Berge bringt, anfänglich nur mit schlechten Backsteinen, die kein Wasser halten, sondern es häufig durchlassen und verzehren, aufgemauert, auch mit keinem gehörigen Gewölbe, sondern nur mit zugeschütteten Balken versehen und gedeckt worden; weshalb solche, da sie einzufallen begonnen, um Unglück zu verhüten, weil die Passage durchs Gebäude darübergegangen, aufgenommen worden, und sieht also, weil dies große Reservoir ledig und offen steht, sehr übel und gefährlich aus. Dieses ist im Grunde mit tüchtigen Platten zu belegen, mit nötigen Quadern aufzuführen, oben offen zu lassen und mit einer steinernen Balustrade zu versehen, ebenso von außen rings um den Hof oder inwendigen Platz vom Oktogon, weil das Regenwasser so häufig durchdringt und diese Fundamente ruiniert, ebenfalls mit großen starken Platten zu belegen; das erheischet ca. 2025 R. 13 Alb. 1 Hlr.

Viertens müssen die beiden Nebenreservoirs oben auf dem Berg außerhalb dem Oktogon, die das Wasser auf die kleinen Kaskaden, zu beiden Seiten zwischen die große Grotte und beide Kabinette auf die dazwischen liegende große und kleine Fontäne und auf die breiten Treppen liefern, von neuem mit tüchtigen Mauersteinen aufgeführt werden.

Fünftens ist das{*)} Kanal, wodurch das Wasser von den Nebenreservoirs am Berge sowohl auf dem hohen Felsen und dasigen kleinen

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[148  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) Zur Bedeckung der Röhrengänge während des Winters wurde, wenigstens seit 1742, Pferdemist verwandt.}

{**) Im Hof des Oktogon.}

{***) Es war dies wohl das letzte Jahr der Tätigkeit von Hattenbachs als Oberbaudirektor. Nach den Akten des Kgl. St.-A. zu Marburg wurde Carl v. Hattenbach 1698 Hofjunker und Kapitän bei der Garde zu Fuß, Direktor und Oberinspektor über das landgräf‌liche Zivil- und Militärbauwesen in der Residenz und Festung Kassel, 1703 Oberstleutnant in der Artillerie, 1709 Oberst in Regiment Garde, 2. Bataillon, 1710 Bataillonskommandeur, 1714 Brigadier, 1718 Generalmajor, 1722 Kommandant von Kassel, 1727 Generalleutnant, 1730 Gouverneur von Ziegenhain, wo er am 13. April 1739 starb.}

Kaskaden, als auch nach dem Riesenkopf und den großen Kaskaden geleitet wird, ebenfalls ganz baufällig und muß repariert werden.

Sechstens sind viele Treppentritte und Pritschen zu beiden Seiten der großen Kaskaden wegen schlechter Anlage zerbrochen, auch die Kaskaden und Bassins selbst sehr schadhaft, sodaß sie gleichfalls repariert und hier und da mit neuen Tritten und Platten versehen werden müssen.

Siebentens fehlt der Felsen rechter Hand von der Kaskade über dem untersten großen Bassin noch aufzuführen, welches, weil es der Anfang des ganzen Gebäudes und gleichsam die erste Entree von diesem renommierten Grottenwerk ist, dem Auge ein großes Absehen und unangenehmen Prospekt macht. Diesen und die drei vorhergehenden Posten zu reparieren erfordert nach genauem Überschlag wenigstens 1279 R. 24 Alb. 6 Hlr.

Achtens müssen die Fugen an den Bassins und Kaskaden sowohl als auch die bleiernen Röhren,{*)} wie es jährlich zu geschehen pflegt, weil der Frost sie des Winters ruiniert, durchaus visitiert und gehörig repariert werden, so für dasmal mit 196 R. 6 Alb. geschehen kann.

Erfordert also die Reparatur des Karlsberges oder sämtlicher Grottengebäude auf dem Winterkasten – wovon kein einziger Posten außer dem großen Reservoir{**)} einigen Aufschub erleidet – dem allergenausten Calculo nach überhaupt 6840 R. 15 Alb. 7 Hlr. Nur dann kann das ganze Werk sowohl zu Allerhöchst Deroselben als auch des Herrn Vaters Hochfürstlicher Durchlaucht höchstseligen Andenkens Ruhm und Gloire noch lange Zeit bestehen. Doch erfordert dasselbe hiernächst oder zu künftiger Unterhaltung aller Grottengebäude, Kaskaden, Reservoirs und Röhren (ohne die seither in 1045 R. bestehende Besoldung der Bedienten) an Erhaltungskosten jährlich 6–700 R.

Unterzeichnet ist der Bericht vom Oberbaudirektor C. v. Hattenbach,{***)} Kammerrat M. Prizier, Baumeister Aless. Rossini, Carl

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[149–150  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) Abb. 16. In einer Münzauktion zu Frankfurt a.M. kam vor einigen Jahren eine solche Klippe in Kupfer auf 450 Mark.}


Abb. 16. Klippe Friedrichs I. auf den Besuch des Winterkastens am 17. August 1731. Kgl. Museum zu Kassel.

Du Ry, Gio. Ghezzo und dem Bauschreiber I. M. Renner. Aus einer beiliegenden Spezifikation ist zu ersehen, daß die Angestellten auf dem Karlsberg teils aus den Kabinetsrevenüen (Werkmeister Ritz, Steinmetzmeister Bernhardo Cassella (identisch mit dem früher genannten Casello), Schmied Welcker, Teichgräbermeister Pitsch, Röhrengießer Schöck, Brunnenknecht G. Mordt, Aufseher Hemmerich, P. Mordt, N. Klein), teils aus den Baufuhrgeldern (Bauschreiber Kersting, Oberknecht Prock auf der Sichelbach) besoldet wurden. Baumeister Rossini zu dessen Departement der Karlsberg gehörte, erhielt, wie besonders bemerkt wird, sein »Traktement« aus der Kriegskasse und desgleichen eine »Bestallung« von der Rentkammer.

Der König bewilligte die veranschlagte Summe, jedoch unter dem Vorbehalt, daß die Unternehmer für tüchtige und dauerhafte Arbeit eine Kaution stellen und, falls »die Reparation nicht hinlänglich sei, noch das Gebäude davon bestehe, sondern dasselbe die Dauer nicht halte und in weniger Zeit über’n Haufen fallen würde, sie oder die ihrigen auf eigne Kosten die Wiederaufbauung bewerkstelligen oder wenigstens die angewandten Reparaturkosten zurückerstatten sollten«.

Am 11. August des nächsten Jahres hielt Friedrich seinen feierlichen Einzug in die festlich geschmückte Residenz, in der er sich aber nur wenige Tage aufhielt; er bereiste drei Monate lang das Land, dann kehrte er nach Schweden zurück, um Hessen nicht wieder zu sehen. Am 17. August 1731 besuchte er den Riesenbau auf dem Winterkasten; zur Erinnerung an diesen Besuch ließ er durch den berühmten, 1739 zu Gotha verstorbenen Medailleur Christian Wermuth eine viereckige Medaille in Silber und Kupfer schlagen. Der Avers dieser ungeheuer seltenen Klippe{*)} trägt in einem aus einem Palm- und einem Zypressenzweig gebildeten Kranz Karls langgelocktes Kopfbild von der rechten Seite. Das Brustbild ist in die Diagonale der viereckigen Klippe gesetzt. Die Umschrift an den vier Seiten der Klippe lautet: »CAROLVS I. – HASSIARVM – LANDGRAVIORVM – POTENTISSIMVS«. Im Revers sehen wir eine Darstellung des Oktogons mit dem darunter liegenden Fontänenbassin. Im Abschnitt steht: ARX [150] AQVARVM MONTIS WINTERKASTEN COLLVSTRATA A REGE FILIO FRIDERICO I. SVECOR. 17. AVG. 1731.

An den beiden oberen Randseiten der Klippe ist zu lesen: LÆTITIA ET MEMORIA PRINCIPIS INVENTORIS. Daneben gibt es noch eine

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[151  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

Klippe in Kupfer mit gleichem Revers, die auf dem Avers das Kopfbild Friedrichs I. zeigt mit der Umschrift: FRIDERICVS I. SVECOR. GOTHOR. ET VANDALORVM REX, HASSIÆ LANDGRAVIVS.

Entscheidungen über kleinere Veränderungen unterlagen dem Statthalter. 1735 bat der Kalkbrenner Wigand Hofmeister, der auf der »Ahne« im Habichtswalde wohnte, ihm das leerstehende Füllenhaus zur Wohnung zu geben; da sein Haus auch der Wildbahn schädlich war, bestimmte Wilhelm, daß es abgebrochen und bei das Füllenhaus gesetzt oder dort ein neues gebaut werden solle.

Der Weißenstein stellte in dieser Zeit wohl vorwiegend ein praktischen Zwecken dienendes Landgut vor. Auch befanden sich dort große Böden zum Abliefern der Früchte. Als der Kammerrat Grimmel im Oktober 1741 bei Gelegenheit der Fischerei die dortigen Fruchtböden maß, fand er, daß sowohl derjenige, den der Rentschreiber bei der Renterei, als der, den der Konduktor zur Meierei inne hatte, vergrößert werden mußte.

Ein rühriger Hofgärtner befand sich zu jener Zeit in der Person Johann Dettloph Fischers auf dem Weißenstein, und seinen Eingaben an die Rentkammer verdanken wir einige Nachrichten über den damaligen Zustand des Schlosses und seiner Umgebung. Im Jahre 1736 hatte ihm das Jagdforstamt das ihm zum Deputat geordnete Brennholz um acht Klaftern verkürzt; nachdem er jahrelang das zur Heizung des Orange- und Glashauses sowie zum Trocknen des großen Obstbestandes notwendige Holz aus eigenen Mitteln zugesetzt hatte, bat er 1742, ihm die entzogenen acht Klaftern wieder zuzulegen, was ihm, allerdings erst 1751, bewilligt wurde, zumal sich die Orangerie mit jedem Jahre vergrößerte. Zur Bewachung des für die herrschaftliche Hofhaltung »als Küche und Conditorey« gezogenen Obstes erhielt der Hofgärtner im Herbst wöchentlich 1 Taler, wofür er sich einen Einwohner aus Wahlershausen bestellte. Im selben Jahre 1742 wies er die Rentkammer auf verschiedene Partien des herrschaftlichen Lustgartens zu Weißenstein hin, die verfallen seien und vor völligem Ruin geschützt werden müßten. Dazu gehörte u.a.:

  • Die Mauer hinter dem Lustgarten, so einfallen will.
  • Das Tor bei der Mühlen, wodurch der Mist zu den Beeten gefahren wird.
  • Der sog. Neptunus im Lustgarten, wodurch das Wasser in den Brunnen läuft.
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[152  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) Wohl das nach Süden gelegene 1777 abgebrannte Glashaus.}

{**) Also nach der Kasseler Seite hin. Wir sehen auch hier wieder, daß der an den Südflügel angrenzende Lustgarten mit einer Steinmauer umgeben war, während der neben dem Nordflügel gelegene Baumgarten nur eingezäunt war.}

{***) Er lag an Stelle des jetzigen Apolloberges.}

  • Am Glashaus{*)} das Dach und der Fußboden.
  • Am Schneckenberg müssen hin und wieder Planken gesetzt werden, damit die Hirsche nicht einbrechen und die Tannen verderben.
  • An den Teichen müssen hin und wieder neue Pfähle geschlagen werden.
  • Im Lustgarten müssen die Durchgänge mit Grand befahren werden, damit bei Regenwetter nicht nötig ist, die erweichten Wege öfters zu planieren.

Am Rand der Eingabe steht von der Hand des Kammerrats Grimmel der Vermerk: »Weilen die unterhaltung dieses bereits viel gekosteten herrsch. Garttens zumahlen gnädigste Herrschaft dan undt wan dahin gehet, nötig seyn will, so wären obbemelte puncte von Königl. Bau Amt fordersamst zu examiniren.« Im Mai des folgenden Jahres fand dann im Auftrag des Bauamts durch I. H. Prizier und Carl Du Ry eine Besichtigung der gerügten Mißstände statt, wobei folgende Reparaturen als notwendig erachtet wurden. An der Mauer am Lustgarten müsse das auswendig sehr verfallene Stück vom Schloß an{**)} mit Steinen repariert werden; die darauf befindliche Brustmauer müsse abgebrochen, wieder aufgemauert und mit Platten gedeckt werden; das andere Stück Mauer, worin die ovalen Fenster seien, müsse oben etwas abgenommen und mit Platten gedeckt werden. Die ganze Reparatur werde 200 R. betragen, diejenige des Neptunus 12 R. Das auf dem Glashaus befindliche Dach aus Schindelbrettern werde am besten mit Ziegeln gedeckt; einschließlich der Maurerarbeiten werde sich die Reparatur des Glashauses auf 250 R. belaufen; 60 R. seien nötig, um den Plankenzaun auf dem Schneckenberg{***)} mit Ständern zu befestigen und die Hälfte mit neuen Planken zu besetzen. Auch müsse die Dielenwand an den Teichen her wieder befestigt und mit Ständern verwahrt werden. Um die sieben Alleen im Garten mit Grand zu erhöhen, seien 900 Bauernfuder Grand erforderlich, die bei der nahen Schneckengrube geladen und, das Fuder zu 2 Groschen, hergeschafft werden könnten. Das Gutachten des Bauamts lag sieben Jahre bei der Rentkammer und erhielt 1750 den Vermerk, daß die

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[153  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) Nach einem Anschlag des älteren Jussow erforderten beide Mauern (4 Fuß hoch, 430 Fuß eine jede lang und 2 Fuß dick) zehn Ruten neue Mauersteine.}

{**) Hofmarschall von Lindau an. I. F. Jussow 18. März 1751. Die Forderung des Uhrmachers Stietz wurde auf 185 Taler moderiert.}

erwähnten Reparaturen vermutlich geschehen seien, allenfalls könne Rat Grimmel oder Oberrentmeister Köhler nähere Auskunft darüber erteilen. Als der Hofgärtner 1744 150 Gebund Rockenstroh erbat, um beim Nahen des Winters die Spaliere und Bäume zu verbinden und Matten vor die Glashäuser zu legen, verfügte die Rentkammer in weiser Sparsamkeit, daß mit 120 Gebund »zuzulangen« sein werde. 1749 zeigte Fischer an, daß der Wall hinter dem Schloß durch das beständige »weiche« Wetter eingefallen sei, zu dessen Reparatur die vor dem Tor daselbst liegende Erde gebraucht sei; ferner müßten bei der Verfertigung der neuen Mauer die vorliegenden zwei Teiche aufgeräumt und repariert werden; sehr nützlich wäre es, an der neuen Mauer ein Spalier von guten Obstbäumen anzulegen und »vor verhütung des Wildprets« zu verzäunen. Ferner sei der Plankenzaun um den Baum- und Küchengarten sehr schadhaft und im vorigen Winter durch die Hirsche ganz und gar niedergetreten; man solle durch den Hofzimmermeister eine Besichtigung vornehmen lassen. Im Februar 1751 berichtete der Hofgärtner den Verfall der beiden Fußmauern am Baumgarten längs dem Wege vor oder nach dem herrschaftlichen Hof Weißenstein, sodaß das Vieh an verschiedenen Stellen darüber hinweg durch die entblößten Hecken in die Gärten komme und Schaden anrichte; beide Mauern müßten abgebrochen und neu aufgeführt werden.{*)} Im Jahre 1751 erhielt das Schloß eine neue Uhr.{**)} 1757 hören wir von einer Steinpflasterarbeit im Marstall und einer Steinhauerarbeit des Maurermeisters auf dem Karlsberg Andreas Feist zu dem Brunnen zu Weißenstein.

Wilhelm VIII. folgte seinem Bruder am 5. April 1751 nach. Er, der Gründer der berühmten Kasseler Galerie und der Erbauer des reizenden, im reinsten Rokoko erbauten Schlosses Wilhelmstal, hat für den Weißenstein nichts getan. Allzuviel scheint er sich dort auch nicht aufgehalten zu haben. Jedoch wurden unter ihm mehrere Bogen am Oktogon ausgemauert, was durch die an ihnen eingemeißelten Jahreszahlen 1755 und 1756 belegt wird. Als am Abend des 11. Juli 1759 ein heftiges Gewitter die Fenster im Schloß und Garten zu

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[154  Landgraf Friedrich I. 1730–1751]

{*) So noch am 18. Dezember J. F. Jussow, Du Ry und Diede in Abwesenheit des Oberbaudirektors Rosen.}

Weißenstein zertrümmert hatte, mußte das Bauamt wiederholt{*)} vorstellen, daß der Schlagregen durch die zerbrochenen Fenster an den Wänden und Fußböden der Zimmer großen Schaden anrichtete. Man hatte allerdings wenig Zeit, sich um zerschlagene Fensterscheiben zu kümmern, denn der Landgraf weilte auswärts und die Franzosen hielten die Stadt besetzt. Der 78jährige Greis kam nicht lebend wieder in seine Residenz zurück; er starb am 1. Februar 1760 zu Rinteln.

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[155  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) 1756 war er vom König von Preußen zum Generalleutnant und Untergouverneur von Wesel ernannt worden, 1758 zum General der Infanterie. Beim Tode des Vaters war er Vizegouverneur von Magdeburg. Kassel mußte er bald vor den anrückenden Franzosen verlassen, blieb aber England und Preußen treu und wurde von Friedrich dem Großen durch Ernennung zum Generalfeldmarschall ausgezeichnet.}

Landgraf Friedrich II.
1760–1785.

Wilhelms VIII. Sohn und Nachfolger, Friedrich II., ein Zeit- und Bundesgenosse Friedrichs des Großen,{*)} war der erste hessische Regent, der die Schöpfung Karls am Habichtswald, wenn auch im Stile seiner Zeit, erweiterte. Mag auch seine Leistung gegenüber dem Gigantenwerk des Großvaters manchem fast als Maulwurfsarbeit erscheinen, so hat sie doch in ihrer Art das Beste nicht nur gewollt, sondern auch mit erheblichen Geldopfern erreicht. Er zuerst hat eigentlich in weitem Umfang aus Wildnis und Sumpf wirkliche Parkanlagen geschaffen. Aber es war verhängnisvoll, daß die Weiterentwicklung der Anlagen in eine Zeit fiel, die ihrem ganzen Geschmack nach nicht in die Fußtapfen des Landgrafen Karl treten konnte. Hätte Karl das Vermögen seiner Nachfolger zur Verfügung gestanden, so würde er seine Schöpfung bis zum Fuße des Berges hinab einheitlich vollendet haben in strenger Anlehnung an die klassische Mythologie. Die Fortsetzung dieses Werkes aber durch Friedrich II. zeigt nichts weniger als Einheitlichkeit.

Noch zur Regierungszeit Wilhelms VIII. begann der Siebenjährige Krieg, der an den Weißensteiner Anlagen nicht spurlos vorüberging. Der Karlsberg war mehrfach Zeuge erbitterter Kämpfe gewesen, und besonders in den Jahren 1758 und 1759 wurden Winterkasten, Rammelsberg, Struthküppel und Kratzenberg wiederholt von Freund und Feind besetzt gehalten. Die aus dem Kirchditmolder

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[156  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 17. Landgraf Friedrich II.

Pfarrarchiv von Hugo Brunner veröffentlichten Briefkonzepte des damaligen Pfarrers Joh. Christoph Cuntz geben uns ein lebendiges Bild dieser Kämpfe. Ende Juli 1760 eröffneten die Franzosen eine Kanonade vom Winterkasten aus und fielen dann im nahen Kirchditmold ein, wobei der Pfarrer in einer einzigen Nacht durch die Plünderung einen Schaden von 1400 Reichstalern erlitt.

Am 12. Februar 1761 hatte Herzog Ferdinand von Braunschweig, der Befehlshaber der preußischen Bundesarmee, nicht nur das Oktogon, sondern auch das Weißensteiner Schloß durch Stockhausensche Jäger besetzen lassen, die durch ihre Auf‌führung im Schloß ihren bösen Ruf vollauf bestätigten; 1200 französische Volontärs, berichtet Cuntz, die vierzehn Wochen dort einquartiert gewesen wären, hätten in dieser ganzen Zeit nicht so gehäust, wie es diese hannoverschen Jäger in einer einzigen Nacht getan hätten; die Überzüge seien von den Stühlen, die Decken von den Tischen gerissen worden und die Gemächer im Schloß

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[157  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Plänkler.}

aus Bequemlichkeit der Leute aufs schmutzigste verunreinigt worden. Dagegen bewiesen sie, trotzdem sie bei der elendesten Witterung am Winterkasten bis an die Knie im Schnee waten mußten, eine bewundernswerte Tapferkeit, wie Cuntz selbst vom Boden seines Pfarrhauses aus beobachten konnte. »Mehr als 800 Feinde, Cavallerie und Infanterie, marschierten geradeswegs durch Wahlershausen auf Weißenstein .... Als nun die mehresten Truppen dem Schloß auf einen Flintenschuß sich genähert hatten, so erwartete ich das hannoverische Musketenfeuer aus allen Fenstern und Ecken des Schlosses, aber zu meiner äußersten Verwunderung hatten sich die Alliirten aus dem Schloß in den Wald unter dem Winterkasten versteckt. Die Franzosen, welche nun vermeineten, daß die Alliirten in voller Flucht nach dem Winterkasten sich gewendet hätten, näherten sich mit mehrerer Geschwindigkeit als vorher dem dasigen Walde und setzten die ganzen Truppen in einen mutigen Marsch. Aber zum äußersten Schröcken der Franzosen brelleten sie vor etliche kleine in den Büschen versteckte Kanonen, worauf die hannöverische Stockhausische wenige Jäger an Cavallerie und Infanterie von allen Seiten mit Gewalt unter einem starken Feuer auf die Franzosen losdrangen. Die Franzosen thaten einige Gegenschüsse und retirten sich in einer Art von einer Flucht. Die sogenannten Blänker{*)} kamen also in dem tiefen Schnee unter dem Schloß Weißenstein mit großer Courage an einander.« Die Infanterie der Verbündeten rückte nun in geschlossenen Reihen aus dem Walde hervor, aber die viermal stärkeren Franzosen wagten sie nicht anzugreifen. Sobald 10–20 Mann vorrückten, retirierten jedesmal 50–100 Franzosen, und 1–3 Plänkler trieben »mit erschröcklichen Rufen« 5–8 zurück; einige Wagehälse rückten bis zwölf Schritt gegeneinander, taten mehr als sechs Schüsse ohne Erfolg, alsdann fragte einer den andern, ob er sich ergeben wollte. Dies »Scharmutzieren« währte 1 ½ Stunden; allmählich zogen sich die Franzosen auf Kirchditmold zurück, so daß der Pfarrer das Kampfgetümmel dicht unter sich hatte. Verzweifelt warf er sich hinter seinem Bodenloch auf die Knie, um für den Sieg der Seinen zu flehen. Endlich ergriffen die Franzosen die Flucht und die Verbündeten drangen in das Dorf ein, wobei der wackere Pfarrer, wie schon oft in diesen Kriegsjahren, die trübe Erfahrung machen mußte, daß er mit seinen Feinden

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[158  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Die Kugelschußverletzungen in dem 1900 reparierten Kopf der Herkulesstatue mögen wohl auch aus diesen Kämpfen des 7jährigen Krieges stammen. Wenn Schminke 1767 vom Amphitheater sagt: »Daselbst stunden vordem ein Zentaurus und ein Faunus, welche in kupferne Hörner bliesen«, so läßt das darauf schließen, daß auch diese zum Opfer gefallen waren und erst später wieder ersetzt wurden.}

{**) Auch sonst war manches geraubt worden bis herab zu den Heuseilern deren Verlust Henrich Claus, der Verwalter des Weißensteiner Vorwerkes, an 20. Juni 1763 anzeigte.}

schon selbst fertig werden könne, wenn Gott ihn nur vor seinen Freunden schützen wolle. Auch im folgenden Jahr, nach dem Sieg des Herzogs Ferdinand bei Wilhelmstal, lagerten beträchtliche, auf dem Rückzug über Dörnberg begriffene französische Truppenmassen am Oktogon, wo sie große Verwüstungen anrichteten. Sie zerstörten die Anlagen um das Oktogon, brachen die Bleiröhren aus den Kaskaden, um Kugeln daraus zu gießen, und stürzten die in den Nischen angebrachten Statuen in die Tiefe.{*)}

Schon neun Monate zuvor, am 22. September 1761, war das Oktogon der Schauplatz eines blutigen Scharmützels gewesen. Die Verbündeten hatten auf dem Winterkasten einen Posten von 120 Bergschotten aufgestellt, der von den Franzosen durch 400 Freiwillige von der Reserve Steinvilles angegriffen wurde. In vier Abteilungen erstiegen die Franzosen mit aufgepflanztem Bajonett die Kaskadentreppen unter lebhaftem Feuer der im Oktogon aufgestellten Schotten. Diese mußten weichen, flüchteten auf die Plattform, faßten hier, durch die steinerne Balustrade geschützt, von neuem Fuß und eröffneten nochmals ein heftiges Feuer, wobei sie auch die Steine aus der Brüstung brachen und auf die Anklimmenden herabschleuderten. Endlich unterlagen sie der jetzt fast vierfachen Übermacht; der kommandierende Hauptmann und einige zwanzig Soldaten blieben tot auf dem Platze, der Rest wurde gefangen. Aber auch die Franzosen hatten einen Verlust von 12–15 Toten und Verwundeten.

Durch die Kriegsunruhen war das Bauwesen zur Unterhaltung der herrschaftlichen Gebäude und Gärten mehrere Jahre unterbrochen worden. Die Anzahl der zum Teil von den Franzosen gewaltsam mitgenommenen Baupferde war von 22 auf 5 gesunken und mußte ergänzt werden.{**)} Vor allem waren Oktogon und Kaskaden, die in kurzer Zeit viermal zum Tummelplatz von Freund und Feind geworden waren, stark in Mitleidenschaft gezogen. Schon am 26. April 1760,

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[159–160  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Die noch jetzt übliche Bezeichnung für dieses Reservoir am Ausgang des Wasserlaufkanals ist also schon recht alt. Ob auch bei der Anlage dieses Reservoirs gleichwie bei derjenigen des Wasserlaufkanals Unglücksfälle vorkamen oder aber ob später Personen in ihm ertranken, läßt sich nicht mehr mit Bestimmtheit feststellen.}

{14) Friedrichs Nachfolger, Wilhelm IX., verzichtete bei seinem Regierungsantritt auf dieses übliche Geschenk des Landes.}


Abb. 18. Das alte Weißensteiner Schloß. Gemälde eines unbekannten Meisters. (Im Besitz des Herrn Regierungs- und Medizinalrates Dr. Rockwitz in Kassel.)

{*) Das alte, 1909 dem Abbruch verfallene Hoftheater in Kassel. Maximilian, der dieses Palais von seinem Vater, dem Landgrafen Karl, erhalten hatte, zeichnete sich besonders im kaiserlichen Feldzug gegen die Türken und bei der Belagerung von Belgrad aus, empfing 1720 vom Kaiser das Patent eines Feldmarschall-Leutnants, 1740 das eines kaiserlichen, 1750 eines Reichs-General-Feldmarschalls und starb 1753.}

also noch ehe die eigentlichen Kämpfe auf dem Karlsberg stattgefunden hatten, stellte J. F. Jussow folgenden Kostenanschlag zur »Wiederherstellung des von den Frantzösischen Völkern geschehenen Schadens, theilweise aber auch von sich selbsten schadhaft gewordener Stücke« auf.

»Damit die Hauptwasser wieder spielen können, dürfte erforderlich sein

  1. den großen Vorrats- oder sog. Unglücksbrunnen{*)} nebst dem daneben und etwas höher liegenden kleinen Vorratsbrunnen wieder in wasserhaltenden Zustand zu setzen;
  2. die zerschlagenen Steine an den Kaskaden auszunehmen, andere zu hauen und wieder einzulegen;
  3. das untere oder letztere Bassin zwischen den Kaskaden wieder in guten haltbaren Zustand zu bringen;
  4. die sämtlichen Kaskaden wieder mit Blei zu belegen und sie, wie auch alle Bassins, zu verkitten;
  5. die umgeworfenen und zum Teil zerschmissenen Felsen neben den Treppen wieder zu reparieren
  6. die abgeworfenen und zum Teil zerschlagenen Vasen und Kugeln wieder zu reparieren und aufzustellen;
  7. Kalk zu all dieser Maurerarbeit;
  8. ferner wird erfordert anstatt der weggenommenen Stücke 7 Stück Messingkronen zu den Wasserhähnen, 3 große Messinghähne, 28 messinge Mundstücke und Aufsätze auf die Fontänen, 179 fußlange bleierne Röhren.«

Die Gesamtkosten der Reparatur sollten 3224 R. 1 Alb. 10 Hlr. betragen. Für 1760 wurde zunächst nur die Ausmauerung der beiden Reservoire und die Reparatur der zerschlagenen Felsen neben den Treppen bewilligt und der Kammerschreiber Wittich zur Auszahlung der hierzu erforderlichen Summe von 971 R. 16 Alb. angewiesen; anfang Juni machte sich Maurermeister Feist mit sechs Gesellen und achtzehn Tagelöhnern an die Arbeit. Daß daneben auch andre Reparaturen nötig waren, geht aus einer 1761 überreichten Rechnung des Hofzimmermeisters Ludwig Riehl hervor.

Landgraf Friedrich, der Anfang 1760 nur vorübergehend zur Beisetzung seines Vaters in Kassel geweilt, sich dann aber in Rinteln und Braunschweig aufgehalten hatte, hielt am 2. Januar 1763 seinen [160] Einzug in die Hauptstadt und trat nunmehr erst die Regierung über die Hessen-Kasselschen Lande an. Auf dem Landtage des Jahres 1764 hatten die Landstände dem Fürsten 100 000 Taler Dongratuitgelder überreicht.{14)}

Von diesem freiwilligen Geschenk bestimmte Friedrich 25 000 Taler für den Umbau des ehemals Prinz Maximilianschen Hauses zu einem Opernhaus{*)} und 75 000 Taler zum Weißensteiner Bauwesen. Diese letztere Summe wurde in Raten von zweimal 15 000, dreimal 10 000 und je einmal 8000 und 7000 Talern in der Zeit vom 10. Februar 1766 bis zum 8. Mai 1769 angewiesen und einstweilen

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[161  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Kriegs-Pfennigamts-Direktor war der Geheime Rat Althaus.}

{**) Für 1765 waren außerdem auch wieder Reparaturen auf dem Karlsberg in Aussicht genommen worden.}

{***) Dieses Blatt, das gleich dem Aquarell von 1796 bereits den Südflügel des jetzigen Schlosses zeigt, ist auch dadurch instruktiv, daß es nicht nur das unter Wilhelm IX. umgeschaffene Bowlingreen mit Fontänenbassin, sondern auch Moschee, Windmühle, Tiergarten usw. vorführt.}

vom Kriegs-Pfennigamt{*)} gegen Zinsen vorgeschossen. Von März 1766 an erhielt der das Bauwesen auf dem Weißenstein leitende Obrist von Gohr monatlich 1200 Taler ausgezahlt; von dieser Zeit an würde also der höhepunkt der eingreifenden Umgestaltung auf dem Weißenstein und namentlich der Umbau des Schlosses, über den die Akten verloren gegangen zu sein scheinen, zu datieren sein. Allerdings erfahren wir auch schon 1764 von dem »gegenwärtigen Bauwesen am Schlosse zu Weißenstein«,{**) das Bauamt bestimmte, die hierzu nötigen Steine baldigst anzuschaffen und zu diesem Zweck vorläufig mindestens zwanzig Mann zum Aufräumen in den Hoofer Steinbruch zu schicken.


Abb. 19. Das alte Weißensteiner Schloß. Skizze von Ernst Happel nach dem in Abb. 18 wiedergegebenen Gemälde.

Im Jahre 1769 muß der Umbau des um ein Stockwerk erhöhten Schlosses vollendet gewesen sein. Bildliche Darstellungen dieses Schlosses sind höchst selten. Einen Teil mit der Kapelle sieht man auf der Tischbeinschen Aquarellzeichnung aus 1779 (Abb. 26), den Mittelbau sowohl auf einem Aquarell J. H. Tischbeins aus 1796 (Abb. 34) als auch auf dem sehr seltenen Stich Weises aus 1787{***)} nach einem Tischbeinschen Gemälde (Abb. 35); die alte Kapelle mit Glashaus und Fischteichen gleichfalls auf einem (undatierten) Tischbeinschen Aquarell

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[162  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

(Abb. 27). Eine Tuschzeichnung des Schlosses wurde vor einigen Jahren in Köln versteigert, ist aber in einer genauen Nachzeichnung Hugo Brunners erhalten. Sonst kenne ich nur noch das Ölgemälde eines unbekannten Künstlers, das sich zu Kassel in Privatbesitz befindet und eine vorzügliche Wiedergabe des alten Weißenstein bietet (Abb. 18, 19). Es zeigt uns, daß die ganze Fassade im Geschmack des Barock entworfen war. In der Mitte dieser, durch zwei ausspringende Spitzgiebel eingeschlossenen symmetrischen Fassade erhob sich aus dem Dach ein oben gerundeter Erkeraufbau; in der Vierung saß ein Dachreiter, – derselbe, der früher das Dach des Marstalls neben der Hofgärtnerwohnung schmückte. Vor diesem mittleren Dachaufbau sprang aus der Fassade ein rechteckiges Bauwerk vor, dessen obere flache Eindeckung den Raum für einen Balkon mit Ausblick auf die Residenzstadt abgab. Unter den Spitzgiebeln sprangen zwei Vorbauten erkerartig vor. In der südlichen Umfassungsmauer befand sich die Kapelle, die bei allen Veränderungen, die sie im Laufe der Zeit erfuhr, in ihrem gesamten Aufriß noch den gotischen Ursprung zeigt, das letzte Überbleibsel aus der Zeit des Klosters.

Ein Inventarium des Schlosses aus 1765 erhielt noch im selben Jahr und weiter dann 1766, 1767 und 1768 Nachträge. Nach vollendetem Umbau nahm man im Juni 1769 ein völlig neues Inventar auf, das in der Tat zeigt, zu welchem massigen Bau sich die Schöpfung Moritz des Gelehrten ausgewachsen hatte. Das Inventar weist eine große Zahl von Räumen mit fast vierhundert Fenstern auf. Der Mittelbau enthielt Rez de Chaussée mit allein 21 Räumen, Bel-Etage, zweite Etage und Mansarde mit Boden. Im Erdgeschoß trat man in einen mit zwei gemalten Tierstücken und einer dreieckigen Laterne ausgestatteten Vorgang, zu dessen Rechten sich die Zimmer der Prinzessin Charlotte befanden. Außer andern Gemächern, so dem Oberkammerherrnzimmer, dem des Obristen von Jungken, des Generals Schlieffen, dem Marschalls-Tafelzimmer lag hier noch der »unterste Saal« mit zehn doppelten Glastüren. Die hier 1765 noch untergebrachten beiden Küchen sind jetzt nach dem Kuchenflügel verlegt. In der Bel-Etage bildete den Hauptaum der große Speisesaal, der zwölf Fenster nach der Stadt und zwei Fenster, sowie vier, auf den Balkon gehende doppelte Glastüren nach dem Schloßhof schickte. Auch waren hier das Audienzzimmer, in dessen mit gemalten Tierstücken geschmücktem Vorraum auf einem Tisch ein blechernes Sprachrohr zum

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[163  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

Gebrauch des Fürsten lag, und die andern Gemächer des Landgrafen und seiner Gemahlin; ferner u.a. das Geheime Ratsgemach, die Zimmer des Obristen von Stiernberg und der Prinzessin Soubise. Im zweiten Stock lagen u.a. die Zimmer des Generals von Wackenitz, des Generals von Bardeleben, hinter der Altane diejenigen der Obristen von Schoenfeld und von Donop. 1765 lag in dieser Etage auch noch das Zimmer des Ober-Falkenmeisters. In der Mansarde lag die Pagenstube. Über der Altane logierte der Konzertmeister. Nach dem Hofe zu lag die Uhrkammer, in der sich die Uhr nebst einer Glocke zum Stundenschlagen und einer für die Viertelstunden befand. Unter dem Dach wohnten die Lakaien.

Im (südlichen) Gartenflügel, der zwei Etagen mit Mansarde faßte, befand sich das Theater mit den zugehörigen Dekorationen, acht Bänken mit Lehnen, deren Sitze mit rotem Tuch bezogen waren, Kronleuchter »nebst 6 Bras, jeder mit 2 Armen, Emaillearbeit, ist von Paris kommen«; hinter dem Theatersaal mit seiner geräumigen, wenn auch niedrigen Bühne befand sich ein Saal mit einer langen schmalen Tafel und verschiedenen Bänken und nach dem Garten hin die Komödianten-Ankleidestube. In diesem Flügel, der ein Fahrtor nach dem Garten hin besaß, war auch das Zimmer des Hofmarschalls, des Rats Gschwind und in der Mansarde das des Regierungsrats Robert. Vor allem aber befand sich hier auch das Billardzimmer mit je drei Fenstern nach Hof und Garten hin. Die mit feinem grünen Tuch bezogene Billardtafel trug einen grünen Wachstuchüberzug; in einem Wandschrank befanden sich die Queues und Elfenbeinkugeln usw.; auch stand hier ein weiß angestrichenes, inwendig mit grünem Tuch bezogenes Kegelspiel und ein »Trou Madame Spiel grün angestrichen mit 12 Messingkugeln und verguldeten Stäbchen, oben mit grünem Tuch bezogen«. Vom Billardsaal führte ein langer Gang nach dem Turm.

Dem Gartenflügel gegenüber lag nach Norden der Küchenflügel. In seinen Unterstock waren aus dem Hauptflügel die Küchen mit Fleischgewölbe, Konditorei und Bäckerei, Silberkammer usw. verlegt; auch befand sich hier das Offiziantenspeisezimmer. In der Bel-Etage war ein Tafelsaal, noch verschiedene Küchen, sodann zahlreiche Stuben und Kammern für den Mundkoch, den Küchenmeister und die Lakaien; auch logierten hier der Obrist von Gohr, Capitän Du Mont und in der Mansarde Herr von Wreech; schließlich lag in der Bel-Etage des

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[164  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

Küchenflügels die Burggrafenstube mit dem Blick nach der Allee hin. Durch das nach dem Hofe zu gelegene Einfahrtstor dieses Flügels gelangte man in die beiden Wachtstuben und die Schlosserei.

Die Kapelle im Garten enthielt im Vorgang noch die eiserne Pfanne zum Erwärmen des Bades, wurde aber wohl nicht mehr als Bad benutzt; dafür war eine Stube darin eingerichtet und aus dem ehemaligen Badezimmer dadurch, daß man das Bad mit Dielen überdeckte, ein Garderoberaum geschaffen worden. Der eigentliche Saal diente als Kapelle. Er war mit zehn großen und kleinen geistlichen Gemälden und einem besonderen Altarstück geschmückt; u.a. stand in ihm der fürstliche, mit neuem roten Kasseler Tuch bezogene Betstuhl mit einer ebenfalls bezogenen und ausgestopften Kniebank, der »Kavalier-Bätstuhl« und zwei ordinäre weiß angestrichene Betstühle; auf dem Boden lag ein türkischer Teppich. Die kleine Orgel stammte aus der ehemaligen Kasseler Kapelle.

Man möge die trockene Aufzählung all dieser einzelnen Gegenstände verzeihen; in ihrer Gesamtheit lassen sie schließlich doch ein Kulturbildchen entschwundener Zeit vor uns erstehen. Deshalb mögen auch der sonstigen Ausstattung der Schloßräume noch einige Zeilen vergönnt sein.

Der unterste Saal, dessen Fußboden mit Marmorplatten belegt war, war mit einer gemalten Wachstuchtapete auf bleumourantem Grund ausgeschlagen; er enthielt zwei in weißer Ölfarbe gestrichene Büffets, zwei eiserne Öfen mit Aufsatz, 30 Stühle, und zwar rote Plüschstühle und andere, für die Marschalltafel gebrauchte mit rotem Leder bezogene Stühle, zwei weißgestrichene Postamente mit zwei bronzierten Vasen, eine Pendule, unter der Tafel einen türkischen Teppich; außer zwei Tischbeinschen Bildern noch zwei größere und zwei kleinere in das Wandgetäfel eingelassene Gemälde desselben Künstlers, die die Historie von Antonius und Kleopatra darstellten. Aus dem Audienzzimmer seien erwähnt: vier Stück gewirkte Tapeten mit Figuren, »das Brabandische Landleben aus dem Gallerie Hauße von der Ober Neustadt, 6 Ellen hoch«, ein Kanapee von rotem Damast, ein großer Spiegel mit gläsernem Rahmen (aus der Orangerie), Kamin mit zugehöriger Zange und Blasebalg; auf einer Kommode sechs Paar feine Dresdener Schokoladetassen mit Henkel, sechs Kaffeetassen ohne Henkel, sechs alte japanische Teekannen, zwei blau gemalte große Untertassen, sechs Paar japanische kleine Teetassen; ferner zwei vergoldete

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[165  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Vgl. Seite 132.}

alte Gueridons, drei Schreibtische, acht gemalte Prospekte vom Karlsberg{*)} – wohl die kleineren – in geschnitzten vergoldeten Rahmen (aus dem Kunsthaus), sieben Perspektivstücke von italienischen Gebäuden, 20 große und kleine Kupferstiche in vergoldeten Rahmen hinter Glas, zwei Modelle von Gips mit Figuren zu dem großen Bassin, fünf Tischbeinsche Gemälde nach Ovid. Im anstoßenden Kabinet: Tapeten von rotem Damast; Kanapee und zwei weiß gestrichene Armstühle, mit rotem Damast bezogen; 80 große und kleine Kupferstiche in vergoldetem Rahmen hinter Glas; zwei gewundene weiß gestrichene und früher vergoldet gewesene Gueridons. In Serenissimi Schlafkammer: meergrüne Damasttapete mit roten Schnüren doppelt besetzt (aus Wilhelmstal); eine Bettstelle mit schwebendem Himmel, woran die Vorhänge von meergrünem Damast auswendig mit gleicher Besetzung, inwendig mit weißem Atlas bezogen sind, das Kopfstück bildet das hessische Wappen; Spiegel mit einem gläsernen Rahmen (aus der Orangerie); ein Porträt Landgraf Wilhelms VI., über den Türen drei Landschaften von Kassel; schließlich eine Anzahl großer Kupferstiche; auch ein »Speykästchen« sei noch besonders hervorgehoben. In den Garderoben an der Schlafkammer hing eine große Zahl von Ölgemälden, die teils aus Kassel stammten, teils auch schon zur Zeit Landgraf Karls zu Weißenstein hingen. Im »Geheimen Rathsgemach« stand u.a. eine große englische Uhr in Mahagonigehäuse, »gehet 8 Tage, zeiget den Monath und Tag, schlägt Stunden und zeigt Minuten, von Ellicolt«. Erwähnt sei auch noch ein mit Linnen bezogener und mit ausgeschnittenen Kupfern belegter alter Kaminschirm. An Tapeten werden aus den übrigen Zimmern noch erwähnt: eine auf Segeltuch gemalte Tapete (»das Salomonische Gericht«), desgleichen eine solche mit Jagdstücken, im Speisesaal der Bel-Etage 14 Stück gewirkte Tapeten (»Historie von Cyro und der Tomyride«), sieben Stück meist stahlgrüne gewirkte Tapeten von Blumen und Laubwerk, der »Tiergarten« genannt, eine Tapete »von flammigtem Carpettenzeug«, eine alte gewirkte Tapete mit Laubwerk und Tieren, acht Stück gemaltes Wachstuch (chinesische Figuren auf blauem Grund vom Goldsticker Müller); neun Stück gewirkte Tapeten, »Das menschliche Alter«, waren 1767 wieder nach Kassel gekommen. Eine ganze Menge von Möbelstücken wurden in den Jahren 1766–1769 neu aufgestellt;

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[166 (Anfang)  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{15) Hessenland 1898, S. 265.}

sie kamen teils aus den andern Schlössern, teils waren sie neu angeschafft; so werden Schreibkommoden erwähnt, die vom Kriegsrat Uckermann aus England mitgebracht, gläserne und emaillierte Kronleuchter, die aus Paris bezogen waren, ein gläserner englischer Kronleuchter mit 24 Armen. 1768 wurden auf der Kasseler Herbstmesse zwei gläserne Kronleuchter für die Landgräfin gekauft, 1766 wird gleichfalls auf der Herbstmesse vom Kaufmann Heym ein Tafelservice von Straßburger Fayence erstanden usw. Überaus groß war der bildnerische Schmuck, und zwar nicht nur die Zahl der Kupferstiche, sondern auch der Gemälde, die meist Porträts darstellten, aber auch Genrestücke und Landschaften sowie tierische und menschliche Abnormitäten (z.B. ein schwarzer Storch, ein weißer Hase, »der große Mensch Gigli, ein Italiener hinter Glaß in schwartzem Rahmen«, vom »kleinen Mahler Brock«).

Alle diese stummen Zeugen einer toten vergangenen Zeit können uns dadurch, daß wir sie mosaikartig zu einem Bilde zusammenfügen, eben diese Zeit wieder heraufbeschwören. Der Grundriß war derselbe geblieben wie derjenige des Mauritianischen Jagdschlosses: das Hauptgebäude schloß mit den beiden langen Seitenflügeln einen großen viereckigen Platz ein, so daß die Aussicht nach dem Karlsberg frei blieb.

Sowohl den Speisesaal wie die Wohnzimmer hatte der Landgraf mit Gemälden seines Hofmalers Johann Heinrich Tischbein ausgeschmückt. Unter den 305 Gemälden Tischbeins, die der Marburger Professor Engelschall in seiner Biographie des Künstlers aufzählt, befinden sich 34 in den Jahren 1764–1779 gemalte, meist der klassischen Mythologie entlehnte Gemälde Tischbeins, die im Weißensteiner Schloß hingen.

Den jetzt zum größten Teil verschwundenen figürlichen Schmuck des Parkes zählt uns folgende zufällig erhaltene genaue Aufzeichnung des Geheimen Rats Steinbach auf.{15)}

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[Liste 166 (Fortsetzung)–169  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Gitterwerk zu Laubengängen.}


[167]

{*) Laubengang.}

Benennung

derer zu Weissenstein dermahlen befindlichen Grotten, Temples, Statuen und vorerst auf Bretter gemahlten Tableaux.

1. Aus dem Schloßhof auf das Boulingrin gehend, daselbst befindet sich Rechter Hand bis an das Portal von treillage{*)} zunächst dem Schloßhof die [167]
          1. Venus und Adonis.
          2. Perseus und Andromede.
          3. Pluto und Proserpine.
          4. Pan und Syrinx.
          5. Vertumne und Pomone.
       Die nächste am portal
          6. Le repos de Diane.

2. linker Hand des Boulingrins zunächst dem Schloß die
          1. Sephir und Flora.
          2. Jupiter in einen Ochsen verwandelt.
          3. Orphée et Euridice.
          4. Apollon und Daphne.
          5. Bachus und Ariadne.
       Die nächste beym portal
          6. Meleagre und Athalante.

3. In dem Berceau{*)} und zwar von der Seite des Schnecken-Berges an:
          1. Pluto.
          2. Diane.
          3. Apollo.
          4. Minerva.           Die Mahlerey zwischen denen Göttern
          5. Jupiter.              stellet die attributen vor,
          6. Juno.                 so ihnen zugehören.
          7. Mercure.
          8. Venus.
          9. Neptunus.
       Auf denen beyden portalen befindet sich:
          Minerva und Pallas.

4. Über dem großen Bassin befindet sich von denen travaux d’Hercule:
          1. Die Erlegung des Nimaeischen Löwen.
          2. Die Erlegung des ungeheuren wilden Schweins.
          3. Die Einfangung des Hirsches der Diane
              mit goldenen Gehörne und ehernen Füßen.
          4. Die Überwindung der Antiopae, Königin der Amazonen.
          5. Die Einfangung des großen Ochsens in Creta,
              so Feuer aus der Nase bließ.
          6. Die Erlegung der wilden Pferde des Königs Diomedes
              in Tracien.
          7. Die Bezwingung von Antaeo, eines Riesen,
              so über 50 Ellen hoch, welchen er in freyer Luft erdrückt.

5. Über dem Gemüß-Garten:
           Pomona.

6. Auf dem Schneckenberg:
           Der Tempel des Apollon und um den Berg die 9 Musen
           nebst dem Pegasus. [168]

7. Am Fuß des Schneckenbergs an dem Kleinen Fluß:
           Apollo und Daphne nebst dem Fluß Penée.

8. Nicht weit hiervon:
          Orphéus mit der Leyer mit verschiedenen wilden Thieren.

9. Nahe hierbey:
          Heraclit in einem Häußgen.

10. Hinter selbigem:
          Der Garten der Armide.

11. Etwas höher über diesem Garten:
          Der Mars in Stein gehauen.

12. Eben auf dieser Seite zunächst der großen allée:
          Das Tombeau vom Virgil von Mauerwerk
           nebst noch 11 anderen Tombeaux.

13. Mitten in der Haupt-allée, wo vorhin die Moritz-Grotte gestanden:
          Die neue Grotte worin das Plutonische Reich.

14. Dieser im Hinauf-gehen zur Rechten siehet man
          Plato in einem Hauße
      und nahe dabey
          Diogenes im Faß.

15. Über diesen, weiter den Berg hinauf:
          Solon in einem Hauß.

16. Und noch höher im Walde neben der Cascade
      bey einem Gewölbe und Quelle:
          Hercules auf einem Scheiter-Haufen.

17. Ferner befindet sich, wenn man aus dem Schloß-Hof gehet,
     Linker Hand:
          Eine Venus nebst Cupido in Stein gehauen.

18. So denn in einer Kleinern Grotte unter dem Thurm
      neben der Garten-Treppe:
          Pythagoras.

19. Vor demselben auf dem Felsen, der Weisse Stein genannt:
          Ein Satyr.

20. Unter diesem Felsen:
          Das Bad des Apollons mit seinen Nymphen und Pferden.

21. Hieran schließen die
          Elisaeischen Felder nebst dem Flusse Stycks.

22. Über diesen stehet auf einer Insul:
          Calypso in einem Tempel.

23. Derselben zur Seite:
          Das Dianen Bad nebst dem Acteon.

24. So denn folgt:
          Das Labyrinth mit dem Minotaurus.

25. Neben demselben:
          Orphéus wie er von denen Tragischen Weibern erschlagen wird

26. So denn nahe dabey:
          Das Jugement de Paris.

27. Über demselben:
          Der Fluß Arethuse. [169 (Anfang)]

28. Auf dieser Seite am Fuß des Weges,
      so nach der Eremitage führet:
          Der Garten der Circe.

29. Nicht weit davon am Fuß des Berges:
          Democrit in einem Hauß.

30. In dem Thal hinauf zur Rechten Hand:
          Narcissus.

31. Besser höher bey dem Kleinen Sammel-Teich:
          Paul, hermite.

32. So denn zwischen diesen und der Neuen Grotte:
          Socrates in einem Hauß.

33. Weiter über demselben:
          Aristippe in einem Hauß.

34. Und bey dem so genannten Silber-Brunnen:
          Jupiter und Ammon in dem Wald d’Odonne.

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[169 (Fortsetzung)  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

Die Skulpturen werden die Regierungszeit Friedrichs nicht lange überdauert haben, dagegen stehen einige kleinere Monumente noch heute. Das meiste freilich schwand schon unter Friedrichs Nachfolger. Während der von dem Kapitän beim Kadettenkorps, A. F. Duncker, 1797 ausgenommene Plan vom Weißenstein noch die Eremitagen Pauls, Peters, des Heraklit, Archimedes und Demokrit sowie den Palast der Sibylle auf‌führt, sind diese drei Jahre später auf dem von Schäffer gezeichneten und von Weise gestochenen Plan von Wilhelmshöhe (1800) bereits verschwunden.

Es wurde schon angedeutet, daß die Fortsetzung der Schöpfung Karls durch Landgraf Friedrich II. nichts weniger als Einheitlichkeit zeigt. Er legte das chinesische Dorf mit Pagode und Windmühle und der noch stehenden Bagatelle (Abb. 24) an; in unmittelbarer Nähe erstand eine türkische Moschee, dann, in verschiedenen Teilen des Parkes zerstreut erhob sich eine ägyptische Pyramide (Abb. 23), das römische Grabmal Vergils (Abb. 22), das griechische Homers, das Felseneck (Abb. 25), der Tempel Merkurs (Abb. 20), die Halle des Plato (Abb. 20); neben den altklassischen (Abb. 21), mittelalterliche Einsiedeleien, neben den elysäischen Feldern die finstere Grotte des Pluto (Abb. 43), neben Statuen von Göttern und Halbgöttern der antiken Welt der Zaubergarten der Armide, der hervorragendsten Frauengestalt aus Tassos »befreitem Jerusalem«. Das Stilwidrige eines solchen Anachronismus drängte sich um so mehr auf, als die einzelnen, ihrem Stil nach verschiedenen Epochen und Völkern angehörenden Monumente oft zu gleicher Zeit ins Auge fielen. Dem von stilistischen Bedenken freien Lustwandler mochte gerade diese Fülle verschiedenartiger Darbietungen

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[170–171  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 20. Wohnung des Plato und Tempel des Merkur. Stich von F. Schröder nach einer Zeichnung von G. Kobold jun. 1800.

{*) Sowohl dieser Obrist Wilhelm von Gohr, als auch dessen Bruder Heinrich wurden im siebenjährigen Krieg vom hessischen General von Wutginau wie vom Herzog Ferdinand von Braunschweig als Generalstabsoffiziere verwandt; überhaupt verlangte man damals von den Artillerieoffizieren Ingenieurdienste und Leistungen im Baufach}


Abb. 21. Eremitage des Sokrates auf dem Weißenstein. Kupferstich von J. H. Tischbein jun.

eine ergötzliche Augenweide bedeuten, ihn, wie die Zeitgenossen sich auszudrücken pflegten, »in ein rührendes Erstaunen setzen«; der Ästhetiker empfand schon damals, daß dadurch im Betrachter ein Gemisch von Vorstellungen geweckt wurde, die das Auge zerstreuten und sich überhaupt nicht miteinander verbinden ließen. Heute, wo ein Teil dieser Schöpfungen längst wieder geschwunden ist, der andre, durch dichtes Buschwerk gedeckt, gleichsam eine Welt für sich bildet, drängt sich der phantastisch-spielerische Charakter dieser Friedericianischen Neuanlagen weniger unangenehm auf.

Bei aller Kritik dürfen wir nicht vergessen, daß Friedrich II., wie für seine Residenzstadt Kassel, so auch für die Anlagen auf dem Karlsberg doch Hervorragendes geleistet hat. Es bleibt ein dauerndes Verdienst dieses Landgrafen, daß er durch seinen Baudirektor von Gohr{*)} vor allen Dingen die Terrainschwierigkeiten auf dem Karlsberg beseitigte; er [171] ließ verschiedene Hügel mühsam abtragen, Täler ausfüllen und hinter dem Schloß einen neuen Lustgarten mit Alleen, kleinen Wasserfällen und den schon erwähnten zahlreichen architektonischen Schöpfungen aus dem Boden erstehen. Manches ist uns nur noch dem Namen nach und seine Lage aus alten Plänen bekannt; anderes ist in alten Kupfern und in Beschreibungen der Zeitgenossen erhalten. Eine ganze Reihe mythologischer Szenen wurde vorläufig nur auf Bretter gemalt, dann aber nicht plastisch ausgeführt, so Orpheus mit den bezähmten Tieren, Phaeton, das Bad der Diana und des Apollo, die Musen im Tempel des Apollo, der Minotaurus.

Besonders zahlreich waren die abgesonderten Einsiedeleien. Öffnete man die Tür eines solchen Häuschens, so sah man bald diesen, bald jenen griechischen Weisen, in Lebensgröße abgebildet, in einer ihn charakterisierenden Beschäftigung dasitzen. Plato unterrichtete seine Schüler, Sokrates las im Gefängnis. Pythagoras, Heraklit, Anaxagoras, Demokrit, jeder hatte sein besonderes Haus und selbst Diogenes seine Tonne. Der feinsinnige Theoretiker der Gartenkunst, der uns diese Einzelheiten überliefert, Christian Cajus Hirschfeld (1742–1792), bemängelt allerdings, daß die Bauart der einzelnen Häuschen zu wenig den Stil des Altertums trage und ihre innere Ausschmückung zu sehr den zeitgenössischen

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[172  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 22. Grabmal des Vergil. Aufnahme von F. Coester.

Geschmack betone. Das Haus der Armide, hinter dem sich dichtes Gebüsch ausdehnte, bestand aus einem Saal, der mit der Geschichte der Zauberin ausgemalt war. Vor dem Eingang des rings umschlossenen Reviers zog sich der blumengeschmückte Garten der Armide bis zu einem kleinen See herab. In einem angrenzenden Wäldchen saß der Einsiedler Peter in seiner, in echtem Stil erbauten Hütte; er schien in einer Karte, auf der die Wege seines Wäldchens verzeichnet waren, zu suchen, um den Rittern den Pfad zum Hause der Armide zu weisen. Neben dem neuen Geschmack machte sich hier und da auch noch der alte in einem grünen Theater, einem Labyrinth und geschorenen Hecken geltend. Ganz antik war der heute noch stehende Tempel des Merkur gehalten, in dessen Nähe früher eine Halle des Plato stand (Abb. 20). Der Tempel des Apollo lag auf einer Anhöhe neben dem jetzigen großen Treibhaus und bot eine entzückende Fernsicht. Er war von Holz gebaut, hatte ein rundes Dach und vier große Öffnungen, zwischen denen die Statue des Gottes in »colossalischer Größe« sichtbar war. Der von Tannenhecken gesäumte Weg hinauf war in der alten

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[173  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Das war auch der ursprüngliche Name dieser Anhöhe.}

Manier der Schneckenberge{*)} angelegt. Der Tempel der Minerva, gleichfalls mit rundem Dach und großen Öffnungen, stellte einen französischen Pavillon mit Gitterwerk dar. Ähnlich war auch der Tempel der Kalypso. Ein unheimlich feierliches Gepräge, dem Charakter ihrer in der Nacht der Zukunft forschenden Bewohnerin entsprechend, trug die genau östlich, unterhalb der heute noch erhaltenen reizvollen »Eremitage des Sokrates« (Abb. 21) und in der Nähe der »ägyptischen Pyramide« (Abb. 23) gelegene Sibyllenhöhle. »Ein großer Prinz, der eine Akademie der schönen Künste in seiner Residenz nährt und jährlich so beträchtliche Summen auf Gebäude und alle Arten von Verschönerungen verwendet, kann leichte Werke der Bildhauerkunst anstatt bemalter Bretter schaffen lassen oder sie ganz entbehren.« Dieser Tadel Hirschfelds wurde von Wilhelm IX. gleich bei seinem Regierungsantritt beherzigt.

Die Einrichtung der gärtnerischen Neuanlagen geschah vornehmlich durch den damaligen Hofgärtner Schwarzkopf, einen Schüler des berühmten englischen Gärtners Miller. Schwarzkopf hatte auch große Verdienste um die damals angelegte Baumschule; er brachte es bald soweit, daß man zahlreiche Exemplare von jungen Bäumen und Rosen – besonders begehrt waren die vielbewunderten Rosen ohne Dornen – käuf‌lich ablassen oder eintauschen konnte. Wir besitzen noch zwei wissenschaftlich angelegte Kataloge des damaligen Bestandes; der eine, aus dem Jahr 1777, stammt von Böttger, der Arznei- und Kräuterwissenschaft Doktor, der seit 1764 am Collegium Carolinum zu Kassel Professor der Botanik war; hier werden vorwiegend amerikanische Gehölze aufgezählt, deren Besitz durch die vielfachen Beziehungen des Landgrafen zu Nordamerika begründet war. Der zweite Katalog ist betitelt »Verzeichniß ausländischer Bäume und Stauden des Lustschlosses Weissenstein bey Cassel. Von Conrad Münch, Doctor und Professor am Carolinum. 1785.« Hier ist noch manches nachgetragen, was Böttger übersehen hatte, so daß mit den Neuanschaffungen bereits weit über 400 Arten aufgeführt werden können.

Wir finden darunter zwölf Ahorn-, sieben Ulmen-, acht Pappel- und elf Eichenarten, ohne die Abarten, ferner 15 Kiefernarten, darunter elf Eichenarten, ohne die Abarten, ferner 15 Kiefernarten, darunter seit 1767 die prächtige Weymouthskiefer, von der man 20 000 Exemplare besaß, sieben Tannenarten, 150 verschiedene Rosen mit den

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[174  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 23. Pyramide. Aufnahme von F. Coester.

Abarten, Granatbäume, Jucca, eßbare Kastanien, Maulbeerbäume, Zedern vom Libanon, abendländische und orientalische Platanen, von denen man schon 1757 20jährige Exemplare in Wilhelmstal gepflanzt hatte, den japanischen Ginko, die alle, bis auf die Zedern, im Freien überwinterten. Friedrich selbst hatte lebhaftes Interesse an den Versuchen, diese fremdländischen Arten einzuführen; so hat er auf der großen Rasenbahn hinter dem Schloß eine Gruppe von amerikanischen Eichen eigenhändig aus Eicheln herangezogen, die letzte dieser Gruppe steht meines Wissens heute noch. Die gewöhnliche Angabe, daß auch Europas größte und schönste Pyramideneiche, die einzig erhaltene Tochter der zu Harreshausen bei Hanau gefundenen Muttereiche, unter Friedrichs Regierung angepflanzt sei, trifft nicht zu; sie wurde erst um das Jahr 1795, also unter Wilhelm IX., wahrscheinlich durch den Hofgärtner Mohr gepflanzt. Nach einer Messung, die Hofgärtner

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[175  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Vgl. Seite 159 über solche Reparaturen.}

Vetter im Jahre 1875 vornahm, betrug ihre Höhe 92 Fuß. Sie stand in der südwestlichen Ecke des Bowlingreens, der großen Fontäne gegenüber; als sie 1902 einging, hatte sie also ein Alter von etwa 107 Jahren erreicht. Aber auch aus der Friedericianischen Zeit mag noch manch herrlicher Baum stammen, nur muß man das Alter dieser Baumriesen nicht, wie es bisher selbst von tüchtigen Dendrologen geschah, allzuhoch einschätzen. Der jetzige Gartendirektor Virchow wies nach, daß nicht nur die nun auch dem Sturm zum Opfer gefallene sogenannte tausendjährige Eiche am Weißenstein bloß 350 Jahresringe zeigte, sondern überhaupt die ältesten Bäume hier oben höchstens 150 Jahre alt sind. Bedingt ist diese üppige Vegetation einmal durch die einem raschen Wachstum sehr förderlichen Bodenverhältnisse und dann durch den ungewöhnlich günstigen Temperaturausgleich am Ostabhang des Habichtswaldes. So ist es auch zu erklären, daß eine Anzahl recht empfindlicher Gehölze aus fremden Zonen auch im Freien kräftig gedeiht und beispielsweise die zahme Kastanie selbst in dieser Höhe bei einigermaßen günstigem Sommer Früchte zeitigt.

Neben diesen gärtnerischen Neuanlagen und der architektonischen Ausschmückung des Parks ließ es sich Friedrich vor allem auch angelegen sein, die Kaskaden vor dem Verfall zu bewahren. Dafür jedoch, daß er zur Ergänzung der von den Franzosen abgerissenen Bleiröhren allein 30 000 Taler aufgewandt habe, wie das schon Günderode 1781 in seinen »Briefen eines Reisenden« und nach ihm Martin (1799) und Rommel mitteilen, habe ich keine Belege gefunden.{*)} Weiter wird berichtet, daß er 1778 durch den Hoforgelbauer George Peter Wilhelmi eine Wasserorgel hinter der Polyphemgrotte anbringen ließ, die eine Anzahl Melodien hervorbrachte. Die Stücke wurden durch den Organisten Joh. Becker zu Kassel, der zwei davon selbst komponiert hatte, auf die Walze besorgt. Ob es sich hier bei um eine neu erbaute Wasserorgel oder aber um die Reparatur derjenigen handelte, die Landgraf Karl schon 1705 hier aufstellen ließ, muß der Entscheidung des Fachmanns überlassen bleiben. Zu vermuten ist, daß die unterhalb der Polyphemgrotte in Nischen stehenden überlebensgroßen Figuren eines Faunus und eines Zentauren dem Krieg zum Opfer fielen und durch Friedrich wieder ergänzt wurden. Sie geben auf ihren Hörnern dumpfe, bei ruhigem Wetter meilenweit vernehmbare Töne von sich, deren Entstehung die denkbar

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[176  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 24. Die Bagetelle. Stich von F. Schröder nach G. Kobold jun. 1800.

einfachste ist: der vom Herabfallen des Wassers bewirkte Luftdruck wird durch Röhren aufgefangen und so in die Hörner geleitet.

Als Ersatz für die verfallene Moritzgrotte, deren Grundmauern beim Regierungsantritt Friedrichs noch zu sehen waren, ließ er eine neue Grotte errichten, die die »Hölle«, das unterirdische Reich des Pluto, darstellen sollte. Vor der Grotte, etwas tiefer gelegen, wurden zwei Bassins mit Springbrunnen geschaffen. Ob diese Plutogrotte (Abb. 43), wie allgemein angenommen wird, genau an der Stelle der alten Moritzgrotte erbaut wurde, erscheint mir zweifelhaft. Akten aus den Jahren 1791 und 1792 unterscheiden ausdrücklich zwischen einem Reservoir über der Plutogrotte und einem solchen über der Moritzgrotte. Das läßt darauf schließen, daß die ehemalige Moritzgrotte zwar auch im Zuge der jetzigen Kaskadenschneise, aber etwas tiefer als die neue Plutogrotte lag. Diese war durch feuergelbe Glastüren verschlossen, die das Innere, soweit es aus dem grausigen Halbdunkel hervortrat, gleichsam wie in einem schauerlichen Feuerpfuhl erscheinen ließen. Das Ganze muß nach der Schilderung verschiedener Besucher auf den unvorbereitet herantretenden, beim ersten Anblick unwillkürlich erschreckten Beschauer einen schauerlich-schönen Eindruck gemacht

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[177  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 25. Felseneck. Stich von F. Schröder nach einer Zeichnung von G. Kobold jun. 1800.

haben; den gleichen Eindruck bewirkte ein Blick durch die feuerfarbenen Fenster vom Innern der Grotte aus: »Alle Gegenstände schienen zu glühen und Himmel und Erde in Feuer zusammenschmelzen zu wollen. Auf der rechten Seite des Einganges standen die aus Gips in Lebensgröße geformten Statuen des Herkules und der Alkeste, die jener aus der Unterwelt zurückbringt, während ihm die Furien seinen Raub wieder zu entreißen suchen. Auf der andern Seite sah man den Sänger Orpheus mit Eurydike, deren sich gleichfalls die Rachegöttinnen bemächtigten, während ein weinender Amor das Geschick der Unglücklichen bejammert. Daneben waren die drei Parzen, Klotho, Lachesis und die den Lebensfaden abschneidende Atropos, dargestellt. Beim Eintritt in die Grotte sah man abermals den Herkules, wie er sich dem dreiköpfigen Cerberus gegenüber mit einer Keule den Eingang erzwingt. In der Mitte der Grotte saßen Plato und Proserpina auf ihrem Krötenthron und ihnen zur Rechten die drei Richter der Unterwelt, Minos, Rhadamantus und Aeakus. Schließlich stellten noch verschiedene Gruppen die nach der klassischen Mythologie über besonders große Verbrecher verhängten Strafen dar. Hier litt der unglückliche Tantulus im Angesicht des erquickenden Wassers und der

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[178–179  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


[179] Abb.26. Südflügel des alten Schlosses mit Kapelle, Bowlinggreen und großer Fontäne. Aquarell v. H. Tischbein sen. 1779. Landesbibliothek zu Kassel.

herrlichsten Früchte seine ewigen Qualen des Hungers und Durstes, dort mühte sich Sisyphus zur Strafe für seine Räubereien auf der Oberwelt zweck- und ruhelos ab, einen gewaltigen Stein bergan zu wälzen, während Ixion, mit Schlangen auf ein sich ewig drehendes Rad geflochten, seine sinnliche Begehrlichkeit büßte, die selbst vor der Gattin des höchsten der Götter nicht halt zu machen gewußt hatte. Weiter sah man den an einen Felsen geschmiedeten König Tityus, dem ein Geier die stets wieder wachsende Leber zerfleischte, und schließlich die Danaiden, die ihre Geliebten in der Hochzeitsnacht ermordet hatten und nun zur Strafe zu dem müßigen Geschäft verurteilt waren, ein durchlöchertes Faß mit Wasser zu füllen. Man kann sich vorstellen, wie lebhaft diese Grotte mit ihren mannigfachen Darstellungen des Schreckens und Grausens auf das Publikum wirken mußte. Noch mehr gewann diese Partie des Parkes an Anziehungskraft, als zu Ende des Jahrhunderts unter Wilhelm IX. durch den Wasserinspektor Steinhofer dicht neben der Grotte die Teufelsbrücke angelegt wurde, unter der sich zwischen wildem Buschwerk hindurch über die 10 Meter hohe Tuffsteinwand die Wassermassen brausend in den Höllenteich herabwälzten. Aber während die hier gleichfalls geschaffene einzigartige Baumgruppierung mit jedem Jahre an Schönheit und Wirkung zunahm, ging die Grotte abermals einem langsamen, aber unaufhaltsamen Verfall entgegen. Alle diese Gipsstatuen scheinen der vernichtenden Feuchtigkeit der Grotte, in der zweifellos auch kleinere Wasserkünste spielten, nicht widerstanden zu haben. Während sie noch 1796, 1797 und 1799 in Beschreibungen und Reiseberichten vollzählig aufgeführt werden, berichtet eine Beschreibung der Wilhelmshöhe aus dem Jahre 1821, daß die etwa 1800 umgeschaffene Grotte unter der französischen Fremdherrschaft (1806 bis 1813) dem Mutwillen preisgegeben und verfallen sei. »Türen und Fenster wurden zuerst erstürmt, und Pluto mit seinen Höllenrichtern war zu schwach, den oft wiederholten Angriffen des Pöbels zu widerstehen – er mußte sein Reich verlassen und denen, die darin zum Büßen verdammt waren, ihre Strafe verkürzt sehen. Nur einige an den Eingängen der Grotte befindliche Furien haben, außer einigen starken Verletzungen, ihren Platz behauptet.« Wenn nun auch feststeht, daß die Wilhelmshöher Schöpfung der hessischen Landgrafen unter Jérôme Napoléon keine nennenswerte Erweiterung erfuhr, vielmehr die gesamten Anlagen einer starken Vernachlässigung preisgegeben

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[180  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Schminke (1767) spricht zwar von einem »neu verfertigten großen Bassin«, es wird sich aber nur um eine Umgestaltung gehandelt haben. Vergl. Seite 130.}

waren, so darf doch höchstens der endgültige Verfall der Grotte auf das Konto der Franzosen gesetzt werden. Allerdings führt ein zu Berlin 1827 erschienenes Reisewerk noch den figürlichen Schmuck auf, aber der ganze Text verrät den Mangel an Autopsie, und der Verfasser scheint nur eine ältere Schilderung ausgeschrieben zu haben. Denn schon die Döringsche »Beschreibung des kurfürstlichen Landsitzes Wilhelmshöhe bey Cassel« vom Jahre 1804 beklagt den Verlust der meisten Statuen und führt nur noch die auf jeder Seite in den zwei Felsennischen aufgestellten Gipsgruppen als vorhanden an. Heute sind auch diese längst geschwunden; das Innere der Grotte ist kahl und nur an den Vorderseiten der Außenwände künden heute wütend um sich beißende Fabeltiere in groteskem – vermutlich aus Wilhelmstal stammenden und vom Bildhauer Heinrich Brandt in Kassel restaurierten – Steinbildwerk das schauerliche Reich der Schatten an, das hier einst seinen Sitz hatte. Aber es ist Hoffnung vorhanden, daß diese Plutogrotte in derselben Gestalt, in der sie vor drei und mehr Generationen auf unsere hessischen Vordern mit allen Schaudern der Hölle wirkte, auch uns wieder erstehen wird. Vor einer Reihe von Jahren hat die Regierung, bestimmt durch die korrekte Wiederherstellung der eben erwähnten, von J. A. Nahl stammenden und sehr zerfallenen Steinbildwerke, den Bildhauer Brandt veranlaßt, ein Modell der alten Grotte anzufertigen. Dieses Modell gibt mit seinen neu entworfenen Bildwerken ein anschauliches Gesamtbild des früheren Zustandes, und es wäre ein ästhetischer Gewinn für diese ganze düster-schöne Partie bei der Teufelsbrücke, wenn die Grotte wieder ihr altes phantastisches Aussehen erhielte.

Nicht nur die beiden Nahlschen Skulpturwerke, sondern auch das sie einzäunende Gitter aus Schmiedewerk sind Meisterstücke und seien einer eingehenden Betrachtung empfohlen (Abb. 31).

Auch die Anlage der großen Fontäne (Abb. 26) ist Friedrichs Werk. Das Bassin, dessen Ausgrabung wir wohl schon dem Landgrafen Karl zuschreiben können, erhielt die Form einer Rosette.{*)} Die Fontäne selbst verdankt ihre Steigung keinerlei maschinellen Einrichtungen, sondern lediglich dem Höhenunterschied zwischen ihrem oberen Wasserbehälter und dem Becken, aus dem sie inmitten eines

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[181  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

kleinen Felsenaufbaus hervorspringt. Sie erreichte eine Höhe von 150 Fuß und wurde unter Kurfürst Wilhelm I. noch erheblich höher geführt. Schon damals war das Emporschießen eines so gewaltigen Wasserstrahls ein Schauspiel, das weither die Fremden anlockte.

Freilich, den Zeitgenossen Friedrichs II. war dieser Anblick, dessen wir uns heute zur Sommerszeit zweimal in der Woche erfreuen können, ein seltenes Schauspiel. Nicht jeder Fremde, der damals den Weißenstein aufsuchte, hatte das Glück, auch die Wasserkünste bewundern zu können, ja es gab manchen Reisenden, der schon recht oft nach Kassel gekommen war, ohne dieses Schauspiels auf dem Weißenstein teilhaftig zu werden. Für Fremde, die sich zu diesem Zweck an den die Oberaufsicht über die herrschaftlichen Gebäude und Gärten führenden Obristen und späteren Generalleutnant von Gohr zu wenden hatten und immerhin von gewissem Range sein oder gute Empfehlungen mitbringen mußten, wurden die Wasserwerke nur gegen Erlegung einer bestimmten Summe angelassen, die, wie es hieß, einen Dukaten nicht überschreiten durfte. Daß die Erlangung dieser Begünstigung nicht ganz einfach war, zeigen die Reiseberichte jener Zeit, in denen die Verfasser mehrfach ihr »Nichtherrschaftsein« bitter beklagen.

»Vieles«, sagt einer dieser Besucher, »dem sein Ansehn, Stand, Ehre und Vermögen nicht Gelegenheit verschaffen konnte, um die Wirkung dieses Wasserwerks zu sehen, – vieles wird dem forschenden und neugierigen Auge des Mannes aus Bürgermaße geformt vorenthalten, das dem unwissenden, gefühl- und geschmacklosen Sohne des Glüks, und ich möchte sagen des Zufalls, frei steht, der es mit offnem Munde angaft und nun wieder geht, wie er kam.« Zuweilen war auch ein außergewöhnlicher Umstand Anlaß zum »Spielen« der Wasser, so wenn vornehme Gäste am Hofe weilten. Sobald sich die Kunde davon in der Stadt verbreitete, gabs dann ein Rennen und Fahren in den Straßen, »als wenn die Pflastersteine mit zum Tor hinaus wollten.« Sonst aber waren es nur vier Tage im Jahr, an denen die Wasserwerke angelassen wurden, der Himmelfahrtstag, der dritte Pfingsttag und die beiden Sonntage während der Herbstmesse. »Diese Täge« heißt es in den Briefen eines Reisenden aus dem Jahre 1781, »sind immer Freudenfeste für Cassel und für die ganze umliegende Gegend, vorzüglich aber eine Zusammenkunft unzählicher Menschen von aller Gattung und Ständen. Der ganze Weg, alle Wirths- und Brandwein-Häuser, so hin und wieder seitwärts an diesem Berg hinaufstehen, sind mit Menschen und Musik angefüllt. Keine Kutschen, keine Reitpferde bleiben müßig, und Mietpferde sind schwer zu bekommen. Alles ist bestellt; alles eilt, Pracht und Kunst und zugleich so viele Menschen versammelt zu sehen, und eben dadurch vermehrt deren Anzahl ein jeder noch mehr. Weit über hundert

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[182  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Er befand sich auf der Reise von Hamburg nach Algier, wo er dänischer Konsularsekretär wurde.}

{**) Wir wissen, daß am 10. Oktober der Geburtstag der Landgräfin Philippine zu Weißenstein durch ein großes Fest mit Illumination und Feuerwerk gefeiert wurde. Friedrich II. vermählte sich 1740 in London mit Maria, der Tochter König Georg II. von Großbritannien und nach deren Tod in zweiter Ehe 1773 in Berlin mit Philippine Auguste Amalie, Tochter des Markgrafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt. Ihren Schattenriß bringt Lavater in seinen Physiognomischen Fragmenten, Band II, Seite 117.}

von denen Göttingischen Herren Studenten eilten auf ihren Philisters-Pferden jugendlich herbey, und überzogen des Abends das Comödienhaus wie die Staaren, die im herbstlichen Zug den ausgesuchten Baum bedecken; doch ohne allen Lermen, ohne die geringste Unordnung, sondern mit allem lobenswürdigen Anstand.« Besonders in den Kaskaden, beim Springen der Wasser, kribbelte und krabbelte es, und hier war wieder das Anlassen der Vexierwasser eine nie versiegende Quelle der Belustigung, »welches denn auch meist geschieht, wenn ein solcher Ort eben stark mit Menschen besetzt ist, und allemal ein sehr räuschendes Gelächter unter dem häufig versammelten Pöbel um so mehr verursacht, weil sie vor das weibliche Geschlecht hauptsächlich beunruhigend sind, indem die verborgenen Röhren von allen Seiten, ja sogar auch von unten hinauf spielen können.«

Der Weißenstein war das Ziel aller Reisenden, die durch Hessen kamen. Im November 1774 weilte Klopstock mit Hahn, den beiden Miller und Leisewitz in Kassel; bei dieser Gelegenheit wird er mit Casparson den Karlsberg erstiegen und dabei seinen bekannten Ausspruch über dieses Wunderwerk getan haben. Johann Heinrich Voß schrieb am 17. Oktober 1773 von Göttingen aus an Brückner: »Schönborn{*)} hab’ ich mit Miller und Cramer bis Cassel begleitet, und bei Gelegenheit den Winterkasten, ein erstaunliches Werk, aber zugleich ein lächerliches für den kleinen Fürsten, die schöne Aue, und die Menagerie voll Elefanten, Büffel, Renntiere, Leoparden usw., endlich drei Auftritte von einer französischen Operette auf dem Schlosse Weißenstein (mehr konnt’ ich nicht ausdauern), und eine herrliche Illumination{**)} mit angesehen. Wie klein war mir der Hof!« Im Sommer 1778 kam auch Gottfried August Bürger von Hofgeismar aus, das damals von der feinen Gesellschaft gern als Badeort gewählt wurde, nach dem Weißenstein. »Zu Weißenstein,« schreibt er in einem Brief an Sprickmann, »curirte ich mich wieder einigermaßen durch forciertes Auf- und Absteigen des Berges und Winterkastens. Die herrliche Aussicht vom Weißenstein kann ich noch nicht aus meiner Fantasie los werden. Mag sie auch nicht los seyn.« \

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[183  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 27. »Ansicht eines Teils vom alten Schloß zu Weißenstein, aus Süden«. (Glashaus, Kapelle und Fischteiche.) Aquarell von J. H. Tischbein sen. Landesbibliothek zu Kassel.

Im Gegensatz zu dem Urteil des 22jährigen Voß über die Kleinheit des Hofes hören wir diesen sonst durchweg als einen der prunkvollsten Deutschlands bezeichnen. Daneben standen unter Friedrich, der selbst eine reiche wissenschaftliche Bildung besaß, Wissenschaft und Kunst in einer Blüte, wie nie zuvor in Kassel. Man braucht nur einige Namen aufzuzählen, um daran zu erinnern, welche bedeutenden Männer damals unter Friedrich wirkten.

Vermittler seiner wissenschaftlichen Absichten war der Staatsminister Martin Ernst v. Schlieffen, der, so oft es anging, auf dem nahen Gute Windhausen seinen Studien und sonderlichen Neigungen lebte. 1772 ernannte Friedrich den Freiherrn von Knigge, dessen »Reise nach Braunschweig« leider weniger bekannt ist als sein ungenießbarer »Umgang mit Menschen«, zum Hofjunker und Kammerassessor. 1775 kam der Marquis de Luchet mit einem Empfehlungsschreiben Voltaires nach Kassel, wo er Direktor des französischen Theaters wurde. An dem von Friedrich erweiterten Collegium Carolinum wirkten Männer wie Huber, Michaelis, Böttger,

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[184  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Ausführliches hierüber in meinem Aufsatz: »Der Bauernstreik im Amte Bauna«. Kass. Allg. Ztg. 1908, Nr. 61–71.}

Mönch, Stegmann, Baldinger, Mauvillon, Dohm, der Philosoph Tiedemann, der bekannte spätere Gießer Professor Höpfner, der Weltumsegler Georg Forster, der Anatom Thomas Sömmering, der Geschichtsschreiber Johannes von Müller; von Künstlern seien genannt Johann Heinrich Tischbein der ältere, die Kupferstecher Weise und Kobold, der Architekt S. L. Du Ry und der Bildhauer J. A. Nahl.

Ein eigenartiger Bauernstreik ereignete sich während des Schloßbaues. Zu den Dienstfuhren auf dem Weißenstein wurde in erster Linie das Amt Bauna herangezogen, dessen Dorfschaften dem Weißenstein näher lagen als diejenigen der beiden übrigen Kasseler Ämter Ahna und Neustadt, die ihrerseits mit den Holzfuhren aus dem Reinhardswald beschäftigt wurden. Der Landgraf ließ zu Anfang des Jahres 1765 ein neues Fuhrenregulativ für das Amt festsetzen. Sämtliche Greben und Vorsteher aus dem Amte Bauna wurden nach Kassel geladen und mußten die Hufen, die die Gemeinden im Feldbau hatten, und das in jedem Dorf befindliche Zugvieh angeben. Als ihnen hierauf täglich sechs Fuhren angewiesen wurden, erhoben sie Protest; sie hätten seit undenklichen Zeiten noch nie Dienste zum Weißensteiner Bauwesen, wohl aber in früherer Zeit Fuhren gegen bare Bezahlung geleistet. Nach vielen Vorstellungen und Einwendungen wurde schließlich vereinbart, daß auf 15 Hufen Landes wöchentlich eine Fuhre getan werden sollte, so daß, entsprechend der Hufenzahl, täglich drei Fuhren (mit sechs Pferden) zum Weißensteiner Bauwesen verrichtet wurden mußten.{*)} Waren außer den festgesetzten Fuhren noch weitere nötig, so wurde für jede Fuhre aus dem Steinbruche bei Hoof oder von Kassel aus 16 Albus bezahlt. Dem gleichfalls zum Amt Bauna gehörigen Kirchspiel Weißenstein, das die Dörfer Kirchditmold, Rotenditmold, Wahlershausen und Wehlheiden umfaßte und nach dem Saalbuch nach Weißenstein dienstbar war und kein Zivil-Baufuhrgeld gab, waren wöchentlich 22 Dienstbaufuhren zugeteilt.

Inzwischen hatte Obrist von Gohr dem Landgrafen den Mangel an Fuhrwerk geklagt und die Weisung erhalten, vor der Hand Fuhren für Geld zu dingen. Jedoch in der Voraussicht, daß die Untertanen ohne einen gewissen Zwang und ohne Festsetzung des Fuhrgeldes

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{*) An der Fulda, dem Orangerieschloß gegenüber.}

enorme Forderungen stellen würden, fragte er bei der Kriegs- und Domänenkammer an, ob nicht ein gewisser Preis, etwa 16 Albus oder nach Befinden geringer, für jede Fuhre vom Dielenmagazin{*)} bis zum Weißenstein reguliert werden und den Beamten befohlen werden könne, alle von ihm verlangten Fuhren von Steinen und anderen Materialien jederzeit zu stellen. Die Kammer erwiderte, sie könne hierüber nicht verfügen und müsse es ihm überlassen, möglichst günstige Akkorde abzuschließen.

Nach einer »Spezifikation der fahrenden und Handdienste, so das Amt Bauna vom 1. Jan. 1764 biß Ende December 1766 sowohl auf die Huffen alß auch auf den Anspann und nach dem Fuß der Contribution verrichtet hat«, kamen von den 10 093 Fuhren dieser Jahre (darunter 997 bezahlte) auf den einzelnen Wagen 109 Fuhren. Der Anspann des Amtes Bauna bestand 1768 in 503 Stück Zugvieh. Diese Spezifikation legte die Kammer mit anderen Belegen Anfang März 1768 dem Landgrafen vor, als sich die Verhältnisse bereits in bedenklicher Weise zuzuspitzen drohten. Schon im April 1767 hatte der mit dem sogen. Hofgut zu Nordshausen belehnte Einwohner Balthasar Emden mit seiner beim Landgrafen eingelegten Beschwerde Erfolg gehabt. Man hatte ihm auf seine dienstfreien Hufengüter zu Nordshausen, die er von der Universität Marburg als Erblehen besaß, Dienstfuhren nach Weißenstein repartiert gehabt, trotzdem er und seine Vorfahren – vom Wegebau abgesehen, dem sich niemand entziehen konnte – niemals Dienste getan hatten, und ihm, als er sich weigerte einen Exekutanten eingelegt. Im Mai 1765 wies der Landgraf den Obristen von Gohr darauf hin, daß der 1765 mit dem Amte geschlossene Akkord nicht für alle Zeiten geschlossen sei, sondern sein Ende erreicht habe; mithin habe er, da die Untertanen die Dienste nicht weiter zu leisten schuldig seien, wegen der erforderlichen Fuhren anderweitige Akkorde zu treffen. Gohr bat, es beim alten Fuhrreglement bewenden zu lassen, da das Bauwesen sonst zu sehr zurückkomme; das Amt leiste ohnehin keine gemessenen Dienste, läge nicht nur dem Weißenstein am nächsten, sondern sei auch am besten bespannt. Inzwischen waren die Gemeinden beim Landgrafen vorstellig geworden, er möge sie in ihren alten Rechten schützen, da sie in ihrer Hantierung des Ackerbaues aufs schwerste geschädigt würden und

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{*) D.h., die Leute brauchten nicht über Nacht auszubleiben.}

{**) Das Landgericht, dessen Sitzungen in dem an der Schlagd in Kassel gelegenen Amtshaus stattfanden, bestand aus dem Oberschultheiß (Lennep), Oberrentmeister (Major Faber), einigen Assessoren und einem Aktuarius.}

namentlich der Transport der Quadersteine aus dem Hoofischen Steinbruch am Berge die größte Lebensgefahr berge. Trotzdem ließen sich die Schöppengreben in einem Termin am 6. Februar 1768 zum Abschluß eines neuen Akkordes bewegen. Danach übernahm das Amt täglich sechs Fuhren mit Baumaterialien nach dem Weißenstein gegen eine Bezahlung von 18 Albus für jede Fuhre. Der Akkord durfte nicht über zwei Jahre dauern; die Fuhren sollten im Januar des laufenden Jahres beginnen und durften wie bisher nicht übernächtig sein.{*)} Eine Bereitwilligkeit der Gemeinden, nunmehr sämtliche Fuhren gegen Bezahlung zu leisten, setzte man um so mehr als selbstverständlich voraus, als sie bisher auf Grund des mit dem Präsidenten der Kriegskammer, dem Minister Freiherrn Waitz von Eschen, geschlossenen Akkords täglich drei Fuhren unentgeltlich hatten verrichten müssen. Da geschah das Unerwartete – sämtliche Dorfschaften des Amtes streikten, so daß durch das Ausbleiben der Fuhren das Bauwesen auf dem Weißenstein in völliges Stocken geriet. Das war Anfang Mai 1768. Als nach drei Wochen die Fuhren nach wie vor ausblieben, erhielt Oberschultheiß Lennep vom Landgericht über die drei Kasseler Ämter{**)} den Befehl, die Sache gründlich zu untersuchen. Es stellte sich heraus, daß die Gemeinden durch den Samtvogt Fey zu Merxhausen zu ihrem Verhalten veranlaßt worden waren. Nunmehr wurde die Sache der Regierung zur weiteren Untersuchung übergeben und Fey vor das Offizium Fisci geladen, das zu dem Ergebnis kam, daß der von Fey, der im Besitz der venia advocandi sei, den Gemeinden erteilte Rat nicht strafbar sei; auch könne ein Grebe ohne Syndikat die Gemeinde nicht vertreten oder zu etwas verbindlich machen. Wenn also in dieser Sache jemand zu bestrafen sei, so seien es allenfalls die Greben. Trotz diesem Gutachten der Regierung ließ der Landgraf dem Samtvogt Fey die Advokatur fortab untersagen. Gohr geriet inzwischen immer mehr in Bedrängnis. Ein zum neuen Wirtshaus zu Weißenstein gehöriger Stall war bereits gerichtet, und es mußten nun 25 000 Ziegeln dazu angefahren werden. Da die Baupferde zu anderen Arbeiten verwandt werden mußten, hatte der Oberrentmeister auf Gohrs Ersuchen die Fuhren gegen

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Bezahlung ausgeschrieben und auf die drei Kasseler Ämter verteilt. Die Ämter Ahna und Neustadt übernahmen sie auch, ließen aber, als das Amt Bauna fortgesetzt die Fuhren verweigerte, verlauten, daß sie künftig ebenfalls nicht mehr fahren würden. Bei einem solchen Betragen der Ämter, klagte Gohr dem Landgrafen, sei überhaupt nichts mehr auszurichten. Wenn das Amt Bauna gegen den durch die Kommission mit den Schöppengreben getroffenen Akkord etwas einzuwenden gehabt habe, so hätte es sich ohne Verzug melden müssen; nun aber müsse es diesen Akkord um so mehr einhalten, als es ihn anfänglich ohne Einwendung anerkannt und sich erst durch den Samtvogt Fey zur Widerspenstigkeit habe aufwiegeln lassen.

Schon aus Gründen der Disziplin mochte sich der Landgraf zu einem scharfen Vorgehen gegen das Amt genötigt sehen. Er ließ die Bauern durch die Landgerichtsbeamten bedeuten, daß sie mit Vorbehalt ihrer vermeinten Befugnis die Fuhren ungesäumt verrichten, widrigenfalls aber zu gewärtigen hätten, daß sie mit einem Exekutionskommando belegt und die Rädelsführer nach Kassel ins Zuchthaus abgeholt werden würden. Als der Landbereiter am folgenden Tage den Bauern diese Resolution bekannt machte, erklärten sie, sie führen ein für allemal nicht, es möge kommen, wie es wolle, und wenn einer geholt würde, gingen sie alle mit. Schließlich begab sich der Landbereiter mit einem Unteroffizier und zwölf Mann nach Großenritte, um dort ein Kommando einzulegen und die beiden Vorsteher nach Kassel zu holen. Vorgeführt, blieben diese bei ihrer Weigerung und erklärten, auch keine Rädelsführer nennen zu können, worauf sie wieder in die Haft abgeführt wurden. Nun zogen 50 bis 60 Bauern aus allen Ortschaften des Amtes nach Kassel; sie erklärten, sie wollten die beiden Vorsteher los haben und auch von den Diensten loskommen, die ihren völligen Ruin herbeiführten. Als alle Vorstellungen des Oberschultheißen vergeblich blieben, ließ dieser vier der Leute ins Gefängnis abführen. Darauf bat er den Landgrafen um weiteren Verhaltungsbefehl und erhielt die Weisung, die Fuhren von jetzt ab unmittelbar zu repartieren und diejenigen, die sich zu fahren weigern würden, nach Kassel bringen zu lassen. Schon nach einigen Tagen wurden die eingesperrten Bauern wieder entlassen. Das Gesuch des Samtvogts Fey, ihm die Advokatur wieder zu gestatten, wurde jedoch vom Landgrafen abgeschlagen und außerdem die Regierung beauftragt, einen früheren Fall zu untersuchen, bei

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dem Fey in einer Gudensberger Dienstsache ein Advokaturgeschenk angenommen hatte. Die Regierung kam zu dem erfreulichen Gutachten, daß Fey in keiner Weise seinen Advokatenpflichten zuwidergehandelt habe. Damit ließ man die Sache beruhen. Eine Neuuntersuchung und Regulierung des Weißensteiner Fuhrwesens wurde nach einem Extrakt Geheimen Ratsprotokolls. vom 11. Nov. 1768 der Kammer aufgetragen, die auch einen einheitlichen Fuhrlohn festsetzen sollte. Im März 1769 bat das Amt Bauna bereits wieder um Verschonung von den Zivil-Baufuhrdiensten gegen Erlegung des dafür bestimmten Geldes. Aber auch mit diesem neuen Versuch, von den Fuhren frei zu kommen, hatte es keinen Erfolg.

Neuer Grunderwerb in der Nähe des Weißenstein führte zu langjährigen Verhandlungen mit der Gemeinde Wahlershausen. Anfang 1768 ließ Friedrich II. den beim Schloß in der Nähe der alten Fischteiche gelegenen, mit großen Sandwacken angefüllten »wüsten Abhang« – oder »Die Steine« genannt – in einen Pflanzgarten umwandeln. Da dieser bisher den Wahlershäuser Bauern zur Hute gehört hatte, so bestimmte der Landgraf, daß ihnen ein Stück von der Füllen- oder Fohlenhute hinter dem Winterkasten zum Ersatz abgesteinigt und eingetan werden sollte. Die Gemeinde brachte eine ganze Reihe von Gründen dafür vor, daß sie auf ihre Hute nicht verzichten könne; wenn sie mit ihren Pferden im herrschaftlichen Dienst gewesen wären und ausgespannt hätten, so könnten sie diese dort gleich für einige Stunden hineintun usf. Doch das Stück war bereits abgesteckt und der Oberförster Reichmeyer machte sich alsbald mit etwa dreißig Leuten an die Kultivierung; im Mai waren drei Acker mit Lärchen, Tannen, Fichten, Kiefern und Birken besät. Über das der Gemeinde zu leistende Aquivalent äußerte sich der Kriegs- und Domänenrat Grimmel dahin, daß diese nach dem Lager-, Stück- und Steuerbuch vom Jahre 1747 nur 66 Acker Huterasen und Triescher besitze, von denen der »wüste Abhang« 16 Acker ausmache. Die Sichelbach hinter dem Winterkasten, auf der das Amt Ahna die Dienste tun müsse, umfasse dagegen 107 Acker und sei sehr ergiebig; da sich außerdem dort die Reservoire zum Grottenwerk befänden und vermutlich auch die Röhrengänge dort durchliefen, so sei sie ohnehin zur Gemeindehute ungeeignet. Im Mai 1770 nahm Grimmel im Beisein des Oberförsters Böttiger von Kirchditmold eine Besichtigung der der Gemeinde Wahlershausen eingetanen Viehhute am Habichtswald

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vor. Danach lief die Hutegrenze von Kassel aus links vom Weißensteiner Schloß an dem Gehege hinauf bis hinter den Winterkasten an die Sichelbach, weiter bis an die Bergwerksgebäude, von da an herunter nach dem Friedrichsstollen und dann an der Wehlheider Hute in der Drusel herab. Diesen Hutedistrikt bezeichnete Grimmel, zumal sich kein Wald darauf befand, als recht gut. Aber ebenso wenig als andere Gemeinden könne Wahlershausen in der herrschaftlichen Waldung Hutegerechtigkeit prätendieren, sondern genieße diese lediglich aus Gnaden; zudem sei es strafbar, daß die Gemeinde die 16 Acker des »wüsten Abhangs«, da sie fast nichts als den Trieb darüber gehabt habe, sich im Kataster allein habe zuschreiben lassen. Sie halte mehr Vieh, als sie ernähren könne, und so komme es, daß sie mit ihrem Zugvieh nachts die herrschaftlichen Wiesen aushüte. Man forderte deshalb eine genaue Spezifikation der jedem Wahlershäuser Einwohner zugehörigen Güter und des von ihm darauf gehaltenen Viehes. Darnach waren am 31. August 1770 bei 95 Einwohnern an herrschaftlichen Pacht- und Erbmeiergütern 135 Acker Land und 31 ½ Acker Wiesen, an erb- und eigentümlichen Gütern 713 ¾ Acker Land, 38 ⅛ Acker Gärten, 271 ½ Acker Wiesen vorhanden; darauf wurden an Vieh gehalten 54 Pferde, 13 Füllen, 137 Kühe, 57 Rinder, 210 Schweine, 289 Schafe, 20 Ziegen, 3 Sackesel. Ferner waren in der Terminei 44 (und zwar Ziegelacker und Marbach drei, Kohlenbahn zwölf, Drusel zehn, die Heide fünfzehn, Pfingstweide zwei, Langeweg und Seelenbrücke zwei) Acker Gemeindehuten und Triescher vorhanden. Um ein übriges zur Abschreckung zu tun, verwies man die Gemeinde auf die Forst- und Bußregister, in denen ihr Konto allerdings stark belastet war. Es lagen vor die sich auf die Gemeinde Wahlershausen beziehenden Extrakte aus den Harleshäuser Waldbußregistern 1766–1768, sowie aus dem Ehlischen Waldbußregister 1768; sie zeigen, wie die Last der Jagdfronden noch in erheblichem Maß auf den Bauern lastete, wenn andrerseits die wegen Waldfrevels verfügten Strafen nur zum Teil als besonders hoch zu betrachten sind. 1766 wurden fünf Wahlershäuser Einwohner um je sieben Albus gestraft, weil sie am 16. und 25. Januar nicht zur Hasenjagd bei Weißenstein erschienen waren; 1768 erhielten sechs Einwohner, die zur Wildschweinjagd (zum Führen der Hunde) bestellt, aber ausgeblieben waren, eine Waldbuße von je sieben Albus. In dieselbe Strafe wurde ein Einwohner genommen, der beim Aufwerfen

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{*) Bei drei Pferden kam man mit 1 Taler 10 Alb., bei zwei Pferden mit 28 Alb. und bei einem Pferd mit 14 Alb. weg. Das verbotene Hüten bei Tage wurde nur mit der Hälfte dieser Summe bestraft.}

des »Grabens am Eichelgarten« – eines Grabens, der um eben jenen, der Gemeinde entzogenen Pflanzgarten am »wüsten Abhang« gezogen wurde – nicht erschien; drei andere waren 1766 bei Umgrabung des Kastaniengartens bei Weißenstein ausgeblieben und wurden in die gleiche Strafe genommen. In den meisten Fällen handelte es sich um Waldfrevel. Der Grebe der Gemeinde, der nachts mit vier Pferden in der Weißensteiner Hecke im jungen Gehege gehütet hatte, wurde in eine Buße von 1 Taler 24 Albus genommen.{*)} Bevorzugt wurden von der Gemeinde zu diesem Zweck außer der Weißensteiner Hecke der Kleekopf, der Vogelherd, die Wiesen »an der Burg« und die jenigen am Hüttenberg. 1767 wurde der herrschaftliche Schäfer zu Weißenstein, weil er am 6. und 8. August mit der ganzen Herde in der Weißensteiner Hecke gehütet hatte, mit 8 Talern 4 Albus Waldbuße belegt. Unter dem Eintrag dieser Strafe im Bußregister steht der begreif‌liche Zusatz: »restirt das Pfandgeld«. Das Abhauen grüner Äste von den Buchen wurde mit 14 Albus Strafe belegt; die gleiche Buße zahlte Johannes Zieglers Magd, die »eine Tracht Erlen Bohnenstangen gehauen«. Einer, der sich einen kleinen Buchenstumpf zur Tracht Holz gehauen, sühnte das mit 7 Albus; verschiedene weibliche Personen, die sich eine Tracht trockenes Holz »ohne Holztag« geholt, zahlten für jede Tracht 3 Albus 6 Heller. Johann George Umbachs Sohn hatte am 2. Januar 1767 am »Eckwege« einen Zugschlitten voll grüner Buchenäste gehauen und zahlte gleich andern Leidensgenossen deshalb 14 Albus. Daß sich unter solchen Waldfrevlern außer dem Greben auch die Schulmeisterstöchter und ein »Gensdarm« befanden, läßt die Tat in milderem Licht erscheinen. Ein Einwohner, der am 12. Dezember 1766 im »gebranden Stock« einen »einspältigen Büchen Heister« gehauen, zahlte die erhebliche Buße von 1 Taler 20 Albus. Mehrere Wahlershäuser, die das ihnen angewiesene Klafterholz bis nach der Holzbesichtigung im jungen Aufwachs wüst hatten liegen lassen, zahlten deshalb je 7–13 Albus, ein anderer, der nicht das ihm im Los zugefallene Klafterholz, sondern statt dessen nach seinem Belieben anderes gehauen hatte, 13 Albus. Jost Wilkens Knecht hatte »ein gebund büchen fitz Gerten« im Lindenberg gehauen und sühnte das mit 14 Albus. Friedrich Müller, der »mit sechs Personen und einem

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Tuch« Eckern geschlagen hatte, wurde mit 1 Taler 16 Albus bestraft, wieder andre, die »Eckern aufs pfand geschlagen«, mit 1 Taler 8 Albus. Das bloße Kehren der Eckern, wobei verschiedene Frauen betroffen wurden, erschien mit je 4 Albus genügend gesühnt. Eine große Zahl von Einwohnern, die bei gehaltenem Rügegericht die gehörigen 24 Stück Spatzenköpfe nicht geliefert hatten, zahlten für jeden fehlen den Kopf 1 Albus, was aus der Gemeinde Wahlershausen 1766 allein 43 Taler 30 Albus 6 Heller Waldbuße einbrachte. Im ganzen kamen überhaupt in den Bußregistern der genannten drei Jahre 260 Straf‌fälle auf die Gemeinde Wahlershausen.

Das trug wahrlich nicht dazu bei, ihre Lage bei den Entschädigungsverhandlungen wegen des entzogenen »wüsten Abhangs« zu verbessern. Die Waldbußregister legten ja klar zutage, was schon die Spezifikation der Güter und des darauf gehaltenen Viehes ergeben hatte, daß die Gemeinde weit mehr Vieh hielt, als sie zu ernähren und auszuwintern vermochte. Sie bat 1770 den Landgrafen um Erlaß der ihr auf dem vorigen Forstschluß andiktierten Waldstrafen; sie sei durch Entziehung ihrer Hute zu dem vielen Waldfrevel genötigt gewesen. Nach Ansicht der Kriegs- und Domänenkammer war diese Entschuldigung unbegründet, da der »wüste Abhang« nur 16 Acker umfaßte und noch dazu durch die vielen darauf liegenden großen Steine zum Teil unbrauchbar sei; vielmehr liege die Veranlassung zu den Hutefreveln durch die das junge Gehege ruiniert werde, in dem allzugroßen Viehbestand der Gemeinde. Aus diesem Grunde könne von Erlaß keine Rede sein. Der Oberrentmeister wurde denn auch zur energischen Eintreibung der Strafen aufgefordert. Ehe man einer Entschädigung wegen des Pflanzgartens, in dessen Nähe nunmehr auch ein neuer Weg angelegt wurde, näher trat, suchte man Gewißheit darüber zu erlangen, ob das der Gemeinde entzogene Stück ihr wirklich eigentümlich gehöre; es sei doch auf‌fallend, daß sie sich in früheren Zeiten ihre Hute so nahe dem Schloß habe anmaßen dürfen. Mittlerweile reichte die Gemeinde Beschwerde über Beschwerde ein; im August 1770 hielt sie dem Landgrafen vor, daß sie nicht nur einen Teil ihres Viehs habe abschaffen müssen, sondern auch ihre ehemalige Hute als ihr Eigentum bis dato noch den Acker mit zwei Hellern monatlich verkontribuieren müsse. Das Gesuch wurde dem Wege- und Brückeningenieur le Clerc zum Bericht überwiesen, der aber, da das Gelände nicht zu dem neu angelegten Weg gehörte, keine Auskunft geben

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konnte. Die Erbitterung der Gemeinde wuchs, als der mit der Plantagenanlage im »wüsten Abhang« betraute Oberförster Teichmeyer dort 1770 Heu mähen und abfahren ließ. Als er auch im folgenden Jahr sechs Fuder Heu abfahren lassen wollte, ersuchte die Gemeinde die Kriegs- und Domänenkammer, ihr dieses zuzuerkennen. Teichmeyer berief sich auf eine ihm vom Obristen von Gohr erteilte Ermächtigung, und so blieb es beim Alten. Im August 1774 ließ der Oberförster wiederum zwei Fuder Gras von dieser Hute nach seiner in Wehlheiden gelegenen Behausung abfahren. Der Grebe, die Vorsteher, sowie ein Schwarm Bauern, denen sich auch der Schulmeister zugesellte, fielen daraufhin die Leute des Oberförsters in der Weißensteiner Allee vor dem Dorf an und zwangen die Fuhrleute, das Heu ins Dorf zu fahren und abzuladen, worauf sie die leeren Wagen mit dem Bemerken zurückschickten, der »wüste Abhang« gehöre ihnen zur Hute, sie müßten noch heute die Kontribution darauf bezahlen, ohne bisher eine Vergütung erhalten zu haben. Teichmeyer bat den Landgrafen, der Gemeinde den Ersatz des ihm gewaltsam weggenommenen Heus anzubefehlen; den betreffenden Abhang habe der damalige Aufseher und jetzige Leutnant Werner gemessen; der ganze Ort habe 23 Acker und 137 Ruten enthalten, seit 1768 habe er ihn durch Pflanzen und Säen soweit gebracht, daß unzählige Tausend junge Pflanzen von allen Holzsorten darin in gutem Wachstum ständen. Er habe bereits im Frühjahr etliche Hundert Kiefern nach Weißenstein abgeben müssen und schon viele Tausend junge Eichen angezogen, überdies werde in dieser Pflanzung das schönste Bau- und Werkholz anwachsen. Es wäre daher wohl nicht unbillig, wenn der Gemeinde trotzdem sie eine weitläufige Hute inne habe, auf der Fohlenhute, die ohnehin nicht mehr mit Fohlen behütet werde, ein Ersatz angewiesen werde, damit das unnötige Geschrei der Bauern gestillt werde.

Wegen der eigenmächtigen Wegnahme des Heus wurde dem Landgericht eine genaue Untersuchung aufgetragen. Oberschultheiß Lennep lud, da der Grebe erkrankt war, die beiden Vorsteher Kornrumpf und Umbach vor. Nach ihrer Aussage hatte sich die ganze Gemeinde zur Wegnahme des Heus entschlossen, weil sie geglaubt habe, »daß sie der nächste dazu wären«. Das Heu wäre noch da, und wenn sie darin gefehlt hätten, so bäten sie um gnädige Strafe. Damit hatte die Sache ihr Bewenden, trotzdem Teichmeyer im nächsten Jahr den Landgrafen nochmals um Bestrafung der »zügellosen Bauern« anging. \

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[193  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

Im Jahre 1775 ließ der Oberförster Böttiger aus Kirchditmold einen am Inhang des Hüttenberges, wo die Gemeinde seit alters eine Trift besaß, gelegenen jungen Buchenaufwachs ins Gehege legen. Als die Gemeinde hiergegen protestirte, stand Böttiger bis zur bevorstehenden Waldbereitung durch den Oberjägermeister Spiegel zum Desenberg hiervon ab. Spiegel fand dann bei der Bereitung des Harleshäuser Forstes, daß, um den Buchenaufwuchs am Inhang des Hüttenberges, nach dem Brasselsberg zu, zu schonen, die bisherige Wahlershäuser Hute, soweit sie zur Trift nicht erforderlich war, vom »Eckwege« an und unter dem Hüttenberg her mit Freilassung der nötigen Trift eingebunden werden müsse. Es wurde daher den Hirten bei Vermeidung harter Strafen fortab das Hüten in den eingehegten Revieren verboten.

Nach Verlauf von acht Jahren ging man auf die fortgesetzten Petitionen der Gemeinde wegen des »wüsten Abhangs« ein. Amtsrat Faber wurde endlich von der Kriegs- und Domänenkammer mit Unter suchung der Sache beauftragt. Er lud die Vertreter der Gemeinde auf den 31. August 1776 vormittags 7 Uhr vor das Landgericht. Es erschienen der zeitige Grebe Johannes Rudolph und die beiden Vorsteher Nikolaus Möller und Johann Jost Meibert und überreichten namens der Gemeinde einen weitläufigen Extrakt aus der Wahlershäuser Feldkarte, die im Jahre 1688 vom Leutnant Rudolphi aufgestellt worden war. Danach war bereits 1688 dieser Triesch, der »wüste Garten« oder »die Steine« genannt, der Gemeinde zugemessen und zugeschrieben. Das wäre, wie sie ausführten, schwerlich geschehen, wenn dieses Stück nicht ihr Eigentum gewesen wäre; auch wäre die Katastrierung im neuen Steuerkataster von 1747 sonst schwerlich erfolgt. Daß sie erst bei dieser neuen und letzten Rektifikation des landschaftlichen Steuerstocks katastriert und so erst beim Anschlag der Gemeindenutzungen in eben diesem Jahr in Kontributionsverhalt gesetzt seien, läge daran, daß derartige böse und wüste Triescher der Gemeinde vorher nie katastriert worden seien. Nachdem die Gemeinde somit ihre berechtigten Ansprüche auf die ihr im Frühjahr 1768 genommenen 16 Acker nachgewiesen hatte, begann man, wegen einer Vergütung mit ihr zu verhandeln. Sie baten, da sie beim Weißenstein kein Aquivalent vorzuschlagen wußten, ihnen die Kontribution von 1768 abzuschreiben und den Wert dieser Äcker nach unparteiischer Schätzung samt den Zinsen von 1768 an zu vergüten. Durch den Tod

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[194  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

des Amtsrats Faber wurde aber die Sache nochmals verschleppt, so daß die Gemeinde abermals um die Schätzung der Äcker und deren Vergütung beim Landgrafen weitere sechs Jahre hindurch einkam, bis 1783 der Amtsrat Amelung durch drei Taxatoren aus Harleshausen, Kirchditmold und Wahlershausen die Schätzung vornehmen ließ. Diese taxierten den Acker auf 45 Reichstaler. Die Kriegs- und Domänenkammer wandte ein, daß nicht der Wert der Triescher taxiert werden solle, sondern lediglich die halbe Hute pro Acker, die der Gemeinde Wahlershausen abgehe, und daß zuvor Oberförster Böttiger den Taxatoren genau die Beschaffenheit der betreffenden Hutentriescher zu beschreiben habe. Eine durch andre Taxatoren hierauf vorgenommene Schätzung ergab, daß die Triescher pro Acker 15 Reichstaler und die darauf befindliche ganze Hute pro Acker jährlich 24 Albus wert sei, und folglich, da der Gemeinde Wahlershausen nur die Hutetriescher zur Hälfte zuständen, für jeden Acker 7 ½ Taler, wenn er an die gnädigste Herrschaft ganz abgetreten würde, oder 12 Albus jährlich pro Acker für die abgehende Koppelhute zu vergüten sei.

Die Gemeinde, des langen Kampfes müde, übergab nunmehr am 27. September 1783 den gerichtlichen Kaufbrief, kraft dessen sie »16 Acker von denen der Gemeinde Wahlershausen zur Hälfte zustehende Hudenstriescher, die Steine und Burgfeld genannt, gnädigster Herrschaft um und für Einhundert und zwanzig Rthlr. Cassageld« verkauft hätte, und gleichzeitig auch eine von zwei Drittel der Gemeinde unterzeichnete, dem Greben und den beiden Vorstehern erteilte Vollmacht zum Verkauf dieser zum Lust- und Holzgarten zu Weißenstein gezogenen Hutetriescher. Hierauf wurde das Steuerkollegium von der Kriegs- und Domänenkammer um Abschreibung der bisher darauf gesetzten Kontribution ersucht. –

Der unter Friedrich II. durch den Hofgärtner Schwarzkopf geschaffene Park entsprach zum Teil schon der Zeitströmung, die durch die neue englische Gartenkunst beeinflußt worden war. Diese wandte vornehmlich Formen an, die den Begriff des Natürlichen steigern sollten. Zum Begriff des Ländlichen gehörte die Hütte, das Landhaus. »Es begann die Poesie der Hütten, der Einsiedeleien, die Welt zu beherrschen. Vorgearbeitet hatten die Schäferidyllen der vorhergehenden Zeit, die fêtes champêtres des französischen Hofes.« Hinzu kamen chinesisch-japanische Anregungen. Wie das in den Gärten Chinas geschah, so legte der Architekt William Chambers (1727–1790)

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[195  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


Abb. 28. Mulang. Fayence im Kgl. Museum zu Kassel. Zeit Friedrichs II.

[Zu Soemmering und den Schwarzen Menschen in Mou-lang: hier klicken für die entsprechende Stelle im Kapitel »Park Wilhelmshöhe«.]

allerlei in die Anlagen hinein, was Empfindungen erzeugte; sein 1763 vollendeter Kew Garden bei Richmond besitzt Tempel der Sonne, des Pan, des Kolus und der Bellona, ein Haus des Konfuzius, eine Pagode, eine Moschee, eine Alhambra und andere bedeutungsvolle, zwischen Baumgruppen verteilte Dinge. Alles das sollte den gebildeten Beschauer an die großen Lehren der Geschichte gemahnen, ihn geistig beschäftigen (Cornelius Gurlitt).

Wann Friedrich II. seine chinesische Kolonie anlegte, wissen wir nicht; weder Schminke (1767) noch Engelhard (1778) noch Günderode (1781) berichten davon. Dagegen erfahren wir aus der Biographie des Anatomen Samuel Thomas von Sömmering, daß der Landgraf bei Weißenstein eine kleine Negerkolonie angelegt hatte. Sömmering, der von 1779 bis 1784 am Kasseler Carolinum wirkte, hatte während dieser Zeit Gelegenheit, mehrere Leichen der in dieser Kolonie verstorbenen Neger zu sezieren, und schrieb auf Grund dieser Untersuchungen seine damals grundlegende kleine Schrift »Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer. Mainz 1784.« Drei

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[196  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Sie war nicht nur eine Spielerei, sondern auch praktisch verwendbar. Wiederholt wurde sie in der »Polizey- und Commercienzeitung« öffentlich zur Pacht ausgeboten.}

{**) Hier ist auch von einem Schildkrötenbehälter hinter dem Jägerhaus die Rede.}

der von ihm untersuchten Neger waren an Auszehrung gestorben, einer hatte sich ertränkt. Diese Neger scheinen wohl ursprünglich jene kleinen, dem chinesischen Stil angepaßten Häuschen bewohnt zu haben, die wir noch heute unter dem Namen Mulang zusammenfassen. Diese Bezeichnung erhielt die kleine Kolonie jedoch erst im April 1791, als jene Häuschen unter Friedrichs Nachfolger instand gesetzt wurden. Die Entstehung des Namens, der mit dem Chinesischen nichts zu tun hat, erkläre ich mir auf folgende Weise: Zu der chinesischen Kolonie gehörten außer den kleinen Häuschen u.a. noch die Bagatelle, eine Pagode und eine Windmühle.{*)} Da die Windmühle als das für das Auge Bedeutungsvollste und auch durch ihren Standort die ganze kleine Anlage beherrschte (Abb. 28), mag man diese nach ihr – moulin! – benannt haben; durch falsche Aussprache wird sich dann schon bald im Volke die Bezeichnung Mulang gebildet haben, die dann, weil allgemein üblich, auch die offizielle wurde.

Wie schon Landgraf Karl in der Aue bei Kassel eine Fasanerie erstehen ließ, der unter Wilhelm VIII. noch einige andere, darunter zwei im Eichwäldchen bei Bettenhausen, folgten, so legte auch Friedrich II. eine solche vor dem Weißensteiner Schloß nach der Stadtseite hin an; sie entstand etwa 1780 und findet sich noch auf dem Jussowschen Plan aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts (Abb. 46). Landgraf Wilhelm IX. verlegte sie dann in die Nähe von Mulang unterhalb der Löwenburg. Daß sich unter Friedrich II. auch schon ein »Wildpretpark« auf dem Weißenstein befand, erfahren wir zufällig aus einer Verordnung über die Gräsereien zu Weißenstein, die 1774 durch den Rentereiverwalter Kapitän Jäger versteigert wurden;{**)} an anderer Stelle hören wir von einer Wiese bei den Teichen am Tiergarten, die sich zur Fütterung des Wildprets nicht eignete und später mit zum Garten genommen wurde. 1780 ließ Friedrich zu Weißenstein einen neuen Blumengarten einrichten und durch neue Sorten ergänzen. Da der verstorbene Hofgärtner Heyke in der Karlsaue eine kleine, von seinem Vorfahren, dem Gärtner van Wynter, erhandelte Orangerie besaß und sich außerdem zahlreiche andere Blumen

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[197  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) In dem kleinen Werk »Aus den Tagen eines erloschenen Regentenhauses« wird die merkwürdige Geschichte erzählt, die Landgräfin Philippine habe sich jeden Morgen in den Gärten zu Weißenstein einen großen Blumenstrauß geholt und sich diesen bei der Tafeltoilette angeheftet, um zu vermeiden, daß ihr der Landgraf bei der öffentlichen Tafel in den offenen Busen sehe.}

{**) Sie erhielten täglich je 64 Hlr. Vom Juni bis September wurden 700 R. verausgabt.}

{***) Wenn wir uns auf die Gotschedsche Ode (vgl. Seite 204) verlassen können, sogar schon 1768!}

auf eigene Kosten angeschafft hatte, ließ der Landgraf durch die Hofgärtner Frey in Freienhagen und Schwarzkopf zu Weißenstein den Bestand für 181 ½ Taler ankaufen. Es waren dies 24 kleine Orangenbäume, 600 Hyazinthen, 400 Tulipanen, 100 Tacetten, 100 Narzissen, 300 Jonquillen, 400 Ranunkeln, 100 Grasblumen und 200 Aurikeln.{*)} Eine Forderung der Witwe des Hofjägers Sigmund Wiederhold wegen Bezahlung gelieferten Gehölzes ergibt, daß 1778 ein Parforcehundezwinger errichtet wurde. 1780 erstattet Obrist von Schönfeld Bericht über die Erbauung eines Parforcejagdgebäudes, das für die ganze Parforcejagd, ausschließlich der beiden im Wirtshaus verbleibenden Wohnungen für die Oberpiqueure, eingerichtet werden sollte. Der in einem Kostenanschlag des Generalmajors von Gohr genannte Preis von 3923 Taler kann sich aber wohl nur auf einen Teil des Gebäudes beziehen. 1784 hören wir von der Anlegung eines neuen Teiches, und zwar werden zur Ausgrabung und Anlegung des Dammes zu diesem Teich täglich 40 Tagelöhner drei Monate hindurch beschäftigt. Von April 1785 an werden abermals 40 Leute sieben Monate hindurch hierzu verwandt.{**)} Da die Fontäne nachweislich bereits 1781 sprang,{***)} kann es sich weder um das Fontänenbassin, dessen Anlage wir ohnehin noch Landgraf Karl zuschreiben wollen, noch um das zugehörige Reservoir handeln; es bleibt die Annahme übrig, daß bereits Friedrich in seinem letzten Lebensjahr noch die Anlage des heutigen Lac in Angriff nehmen ließ. Noch 1785 bestimmte der Landgraf, daß die alte Baumschule verlegt und das Gelände zur Anpflanzung des für den Bedarf des Herbstfürstenlagers auf dem Weißenstein notwendigen Gemüses benutzt werden sollte; die Ausführung dieser Anlage wurde aber durch den Tod des Fürsten verhindert.

Wie das Schloß, so erhielt auch dessen nächste Umgebung eine veränderte Gestalt. Da, wo sich jetzt das Grand Hotel erhebt, ließ

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[198–199  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Jetzt Friedrichsplatz in Kassel.}

{**) Die Allee setzt sich hinter dem Oktogon, d.h. hinter der Sichelbach noch eine Strecke weit fort.}

{***) Nach der offiziellen Verkündigung vom 27. Aug. 1769 erhielt dann das ehemalige Weißensteiner Tor den Namen Königstor. Das ursprüngliche Königstor hieß, seitdem der Weißenstein den Namen Wilhelmshöhe führte, das Wilhelmshöher Tor (1798). Das erste Wohnhaus vor diesem Tor gehörte der damals gefeierten Dichterin Philippine Engelhard, geb. Gatterer. (Ihr Bild zeigt ein Weisescher Kupferstich nach einem Gemälde J. H. Tischbein des Älteren im Göttinger Musenalmanach von 1781.}


[199] Abb. 29. Das Weißensteiner Tor. Aufnahme von C. Machmar.

Friedrich 1767 ein Gasthaus erbauen, dessen Bewirtschaftung dem »Coffetier« Lambein übergeben wurde. Früher hatte sich eine Wirtschaft in der nahen Klostermühle befunden, an deren Stelle dann die ehemalige Hofgärtnerwohnung trat. Auch die jetzige Hofgärtnervohnung wurde damals als Kavalierhaus erbaut, und ebenso ein Marstall und verschiedene andere kleine Stallungen. Unterhalb des Gasthauses lag ein mit einer Mauer umgebener Platz, die Kälberwiese, die schon in den Weißensteiner Klosterurkunden genannt wird und auf der zur Belustigung des Hofes Spiele und Feste abgehalten wurden. Die Zeit stand noch stark unter dem Einfluß der schäferlich idyllischen Richtung und dem entsprach es ganz, wenn der Landgraf mit seiner Umgebung in grünleinenen Ritteln oder Schürzen mit zierlich geformten Karren und anderen Gartengeräten hantierte. Schon 1767 hatte Friedrich den Weißenstein durch eine Allee von Linden- und Eschenbäumen mit der Residenz verbinden lassen. Die Lindenbäume wurden von der Esplanade{*)} und den damals abgetragenen Wällen mit Erfolg dorthin versetzt. Das damals errichtete Weißensteiner Tor (Abb. 29) wurde 1866 niedergelegt und die auf seinen Pfeilern thronenden Löwen am nordöstlichen Eingangstor zum Museum aufgestellt. Da die Allee bei der neuen Backsteinbrennerei eine kleine Wendung nach dem Weißensteiner Tor hin nahm, begann man 1776, um sie bis zur Stadt schnurgerade verlaufen zu lassen,{**)} sie bis zum Königstor fortzuführen.{***)} Seit 1778 durfte die Allee bebaut werden, wobei der Landgraf jedem Baulustigen noch eine besondere Unterstützung gewährte. So entstand die Weißensteiner Vorstadt, die ihren eigenen Bürgermeister und bürgerliche Rechte mit der Kasseler Oberneustadt hatte. Nach einem Privileg vom 15. Januar 1779 waren die deutschen Anwohner in der Weißensteiner Allee, soweit sie auf städtischem Boden wohnten, an die Oberneustädter Stadtgemeinde, die übrigen zur Kirche

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[200  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Näheres in den von mir veröffentlichten Aufzeichnungen des Pfarrers Cuntz über »Das Kirchspiel Weißenstein« (Hessenland 1908, Seite 98f.)}

{**) Sanders Zeitschrift für deutsche Sprache. VII. S. 243f.}

in Kirchditmold verwiesen. Den französischen Bewohnern der Weißensteiner Vorstadt stand es frei, sich und ihre Kinder zur Kirche und Schule in Kassel zu halten. Der Grenzstein zwischen Kassel und dem Kirchspiel Weißenstein stand an der Brücke bei der ehemaligen Wachsbleiche.{*)} Auch Goethe nimmt in seinem Scherzgedicht »Das Neueste von Plundersweilern« (1781) Bezug auf die Weißensteiner Vorstadt und bringt sie mit den Subsidienverträgen in Verbindung. Im Eingang heißt es über Plundersweilern:

      »Auch sieht man, daß zu einer Stadt
      Der Flecken sich erweitert hat.
      Und zwar mag es nicht etwa sein
      Wie zwischen – – – – –
      Als wo man emsig und zu Hauf
      Macht Vogelbauer auf den Kauf
      Und sendet gegen fremdes Geld
      Die Vöglein in die weite Welt.«

Die vierte Zeile ist zu ergänzen: »Wie zwischen Kassel und Weißenstein.« Nach Schraders Erklärung{**)} sind die Vogelbauer die an der Weißensteiner Allee erbauten »cottages«, die Vöglein die »verkauften« Hessen.

Der Prediger des Kirchspiels Weißenstein wohnte in Kirchditmold. Seine Besoldung bestand in vier Hufen (= 125 Acker) Land, wovon zwei nach Weißenstein dienstbar waren; nur war er durch ein besonderes Dekret von allen Weißensteiner Baufuhren losgesprochen; die übrige Besoldung bildeten ein Zehnter von 10 Talern und 40 Taler bares Geld aus dem Kirchenkasten, daneben 150 Taler an Akzidentien. Der sonntägliche Gottesdienst für das gesamte Kirchspiel fand in Kirchditmold statt. Die unter Moritz (S. 21) wegen des Gottesdienstes im Schloß getroffenen Bestimmungen galten auch noch unter Friedrich II. Nur während des Schloßumbaues wurde der Gottesdienst auf einige Jahre abgestellt, ohne daß jedoch der Pfarrer seine hierfür festgesetzte Besoldung verlor. Diese bestand in drei Vierteln Korn und einem Fuder Heu von den Weißensteiner Wiesen, das er durch seinen eigenen Wagen, soviel er laden konnte, abfahren durfte. Später (seit 1756) erhielt

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[201  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Vgl. die Aufzeichnungen des Pfarrers Cuntz a.a.O.}

er statt dessen 4 Reichstaler von der Kammer ausgezahlt. Friedrich bestimmte dann, daß der Pfarrer bei erscheinendem Hof‌lager allsonntäglich im Schloß zu predigen hatte gegen eine jährliche Besoldung von 50 Talern nebst drei Dierteln Korn und drei Vierteln Gerste. Auch hatte er nach gehaltenem Gottesdienst an der Marschallstafel zu speisen. Die erste Predigt fand am 9. Oktober 1768 statt; da der Schloßbau noch nicht völlig beendet war, fand sie in dem eben fertig gewordenen neuen Gasthaus statt.{*)} Als dann der Pfarrer den Befehl erhielt, an allen Sonn- und Festtagen im Schlosse zu predigen, erhoben die Gemeinden des Kirchspiels Einspruch; deshalb wurde bestimmt, daß nur während des Hof‌lagers an Sonn- und Festtagen und im Winter monatlich einmal im Schlosse gepredigt werden sollte. Die eingehende Kollekte kam nicht in den Kirchenkasten zu Kirchditmold, sondern an das Kasseler Findel- und Waisenhaus. Zur Abhaltung des Abendmahls wurden anfänglich Kannen und Kelch von Kirchditmold über Feld heraufgetragen; als sich aber die Gemeinde auch hierüber beschwerte, wurde die Spendung des Abendmahls im Schlosse eingestellt.

Den größten Teil des Sommers brachte Friedrich mit seinem Hofstaat im Weißensteiner Schlosse zu, und erst spät im November kehrte man wieder nach der Stadt zurück. Es gab sogar eine besondere Hofuniform – grün mit dunkelroten Westen und Aufschlägen und einer schmalen goldenen Borde – die fast ausschließlich zu Weißenstein getragen wurde. Glanzvolle Feste des prunkliebenden und ganz nach seinem französischen Vorbilde lebenden Hofes waren zwei Dezennien hindurch jahraus, jahrein in Schloß und Park zu Weißenstein an der Tagesordnung.

Aber auch ergreifende Familienszenen spielten sich in den Räumen des Schlosses ab. Friedrich, der sich zwanzigjährig mit der großbritannischen Prinzessin Maria vermählt hatte, war 1749 während eines Besuches beim Erzbischof von Köln heimlich, 1754 öffentlich zum Katholizismus übergetreten. Die Folge war nicht nur ein dauerndes Zerwürfnis mit seinem Vater, sondern auch die Trennung von seiner Gemahlin und seinen drei Söhnen, die zu ihrer Ausbildung nach Göttingen und 1756 dann nach Kopenhagen geschickt wurden. Bald nach dem Tode Marias (1772) vermählte er sich zu Berlin mit der

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[202–203  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Im Herbst 1775 soll der Erbprinz inkognito in Kassel gewesen, aber erkannt und auf den Straßen von einer großen Menschenmenge verfolgt worden sein. Er schlief zu Weißenstein, ließ aber die Wasser erst am andern Morgen um 5 Uhr spielen. Hessenland 1893, S. 60.}

{**) Näheres in meinem Aufsatz: »Die Aussöhnung Landgraf Friedrichs II. mit seinen Söhnen.« Hessenland 1906, S. 242f.}


[203] Abb. 30. Landgraf Friedrich II. Gemälde aus der Kasseler Porzellanmanufaktur von J. H. Eisenträger 1769. Kgl. Museum zu Kassel.

Prinzessin von Brandenburg-Schwedt; der Heimführung folgte nach einem mehrtägigen Aufenthalt zu Weißenstein der feierliche Einzug in die Residenz. Nach 28jähriger Trennung beschlossen die drei Söhne des Landgrafen zu Hanau, wo der Erbprinz seit 1764 als Regent der Grafschaft seinen Sitz hatte, ein Wiedersehen mit ihrem Vater herbeizuführen; am 27. Oktober 1782 erschien der jüngste von ihnen auf dem Weißenstein, stieg, ohne erkannt zu werden, im Gasthaus ab und begab sich von da gradenwegs ins Schloß in das Zimmer des Landgrafen, der eben mit dem Ankleiden beschäftigt war und den Prinzen nicht erkannte.{*)} Um den zudringlichen Fremdling hinausführen zu lassen, wird Minister von Wittorff, der uns in seinem handschriftlich erhaltenen Lebenslauf eine sehr dramatische Schilderung des Vorgangs gibt, hinaufgebeten. Mit den Worten: »Ach! das ist ja Prinz Friedrich«, kommt von Wittorff ins Zimmer, sieht die Bestürzung der fürstlichen Verwandten und erbittet sich die Erlaubnis, den Prinzen vorläufig in seine Kammer zu führen, wo dieser wie ohnmächtig in einen Lehnsessel sinkt. Nach Verlauf einer halben Stunde befiehlt der Landgraf beide zu sich. Das Eis war gebrochen; der Aussöhnung zwischen Vater und Sohn folgte durch Vermittlung von Wittorffs, der eine Zeitlang Oberhofmeister der Prinzen gewesen war, noch im selben Winter die Wiedervereinigung mit den beiden andern Prinzen.{**)}

Im Schlosse zu Weißenstein wurde der Landgraf auch, 65jährig, am 31. Oktober 1785, nachmittags 3 Uhr, vom Tode ereilt. Nach längerem Unwohlsein hatte er sich grade an diesem Tag in heiterster Stimmung zur Mittagstafel gesetzt. Eben sprach er von einem Felsen beim Weißenstein, den er sprengen lassen wollte, als er sich plötzlich bückte, die Serviette zum Munde führte und nach einigen Minuten seinen Geist aufgab.

Es versteht sich von selbst, daß dem Hof die üblichen Panegyriker nicht fehlten. Acht Jahre nach dem Regierungsantritt des Landgrafen besang der Steuerrat Joh. Henr. Gottsched, ein Bruder des Leipziger Literaturpapstes, in einer Ode mit langatmigem Titel Friedrichs

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[204–205  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


[205] Abb. 31. Drachengruppe an der Plutogrotte von Nahl d. Ä. (Stand früher an der Kaskade zu Wilhelmstal.) Aufnahme von Direktor Henkel-Wilhelmshöhe.

Verdienste um die Entwicklung der Residenz und widmete darin dem Weißenstein folgende Verse:

      »Kommt, Kenner, seht: Dort lieget Weissenstein,
      Ihr könnt dahin voll Lust und Anmuth gehen,
      Der Weg wird euch an Aussicht herrlich seyn,
      In gleicher Schnur, im Pfad von Baumalleen.
      Manch Thal ward flach; ein Lustrevier erscheint,
      Das mit dem Wald sich heckenreich vereint,
      Das alte Schloß ist gleichsam neu entstanden;
      Ein Schauspielhaus ist in ihm auch vorhanden.
      Schaut das Bassin! Des Umfangs weiten Kreis;
      Den Wasserguß; er schäumt ein Silberweiß,
      Er stralt hinan, wie brauset er zur Höhe,
      Auf hundert Fus; noch mehr! ich übergehe
      Die weitre Zahl. Ein Herrenhausen zeigt,
      Wie durch den Druck dort die Fontaine steigt.
      Hier herrscht Natur! Ringsum in fernen Strecken
      Wird Deutschland uns kein gleiches Stück entdecken.

      Der Bergbau steigt zur Moritzgrott hinan;
      Die Schaubegier wird immer neu erreget,
      Sie starrt ob dem, was man schon sehen kann,
      Ohn was umher noch mehr wird angeleget.
      Sie wird ermüdt, dem allen nach zu spürn,
      Was FRIEDERICH noch künftig läßt vollführn.«

Diese Verse mit ihrer bei aller Überschwenglichkeit trockenen Prosa haben deshalb einigen Wert, weil sie ziemlich genau registrieren, was bis zum Jahr 1768 von Friedrich schon auf dem Weißenstein geleistet war.

Wie es bei Friedrichs Tode auf dem Weißenstein aussah, erfahren wir genau aus den im Marburger Staatsarchiv vorhandenen handschriftlichen Mitteilungen des Hofrats Strieder, des Oberbaudirektors Jussow und des Hofgärtners Schwarzkopf. Vornehmlich an der Hand dieser, durch Wilhelm IX. veranlaßten Aufzeichnungen wollen wir uns den gesamten Park, der bald darauf einer Umgestaltung unterworfen wurde, noch einmal vor Augen führen.

Das Hauptgebäude hatte, wie wir schon sahen, den alten Grundriß beibehalten und schloß mit den beiden Seitenflügeln einen die Aussicht nach den Kaskaden frei lassenden viereckigen Platz ein, in dessen Mitte sich ein Springbrunnen erhob. Beim Eingang in den Schloßhof waren in zwei Absätzen zwei Rasentreppen, der Hof selbst aber durch eine steinerne Balustrade von einem Garten abgesondert und verschlossen. [205] Ein regelmäßiger länglich viereckter, auf beiden Seiten mit einem Wald von immergrünen Bäumen und davor mit einer bunt gepflanzten und beschnittenen Hecke von Rot-Tannen eingefaßter Platz bildete das Bowlingreen; in der Mitte nach Norden war ein

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[206–207  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]


[207] Abb. 32. Unvollständiger Plan des Weißenstein aus der Zeit Friedrichs II. Kgl. Staatsarchiv zu Marburg.

 

Theater, nach Süden ein Amphitheater angelegt. An das westliche Ende des Bowlingreens stieß das große Bassin, das nach dem Schloß hin gleichfalls mit einer Rasentreppe eingefaßt war. Das Bassin hatte damals noch, dem alten französischen Geschmack entsprechend, eine sehr regelmäßige Form; es war mit Basaltlavasteinen eingefaßt und bildete so gleichsam eine große Schüssel. Hinter dem Bassin war eine hohe Mauer von Basaltsteinen aufgeführt, die das Erdreich festhielt. Vor diesem hohen Absatz befand sich auf beiden Seiten ein großer Triumphbogen und dazwischen ein Bogengang von Lattenwerk, um diesen Absatz zu bedecken. Durch beide Triumphbogen gelangte man auf einem breiten Gang in die Hauptallee, die hinter dem Bassin den Berg hinauf führte und vor der Plutogrotte mit vier Reihen Lindenbäumen endete. Ein anschauliches Bild dieser Partie gibt ein von J. H. Tischbein dem älteren 1779 gemaltes Aquarell. Es führt das Bowlingreen, zur Linken den südlichen Schloßflügel mit Kapelle, im Hintergrund Moschee und Tiergarten, zur Rechten das Fontänenbassin in seiner eben beschriebenen Beschaffenheit vor. Das Bild enthält eine lebhaft bewegte Staffage. Es zeigt Gartenarbeiter bei der Arbeit, rechts wird dem auf einer Rasenböschung sitzenden Landgrafen – vermutlich von Tischbein selbst – ein Plan unterbreitet, während im Vordergrund eine Mutter mit Kind kniefällig eine Bittschrift überreicht (Abb. 26). Ein zweites Aquarell desselben Künstlers führt uns die dem südlichen Schloßflügel vorgelagerte Gartenpartie vor Augen (Abb. 27). Dieser nach französischem Geschmack angelegte Blumengarten war von drei Seiten mit einer hohen Mauer umgeben, die später auf halbe Mannshöhe abgetragen wurde. An der südöstlichen Ecke stand ein zu astronomischen Beobachtungen bestimmtes vierecktes Türmchen, der sogen. Tempel der Urania, in der Mitte der Südmauer die teils zum Gottesdienst, teils als Bad und chemisches Laboratorium benutzte Kapelle; daran schloß sich ein 1777 abgebranntes Glashaus. Nach Südwest stand früher ein Türmchen zum Aufbewahren von Gartengerätschaften; es wurde später zu einem mit hieroglyphischen Figuren bemalten und mit antiken Möbeln ausgestatteten ägyptischen Tempel (der Isis) umgebaut. Die vorgelagerte wallartige Erhöhung war mit Lorbeerbäumen in Kübeln bestanden. Am Tempel der Isis führten einige Stufen zu den Quarzitfelsen hinab, nach denen Kloster und Schloß benannt waren; unter dem ägyptischen Tempel lag eine kleine Grotte, in der die in Gips ausgeführte Bildsäule des Harpokrates,

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[208  Landgraf Friedrich II. 1760–1785]

{*) Baumreihen in Form eines X.}

des Gottes der Verschwiegenheit, stand. Vor dem Blumengarten sieht man einen in regelmäßige Absätze eingeschnittenen Abhang mit einer Allee von Roßkastanien. Der Absatz dieser Allee faßt auf der Südseite fünf regelmäßige Teiche ein, die später einen Teil des unter Wilhelm IX. geschaffenen Lac bildeten. Am Ende der Allee befand sich ein Boskett mit der steinernen Bildsäule von Venus und Kupido; weiter hinten lag eine Rasenpflanzung und in deren Mitte ein offenes Zelt, weiter hin zwei Vogelhäuser; zwischen diesen lag ein kleines Bassin mit Fontäne; in dieses ergoß sich über eine schmale Kaskade der Ausfluß des hier endigenden Styx, um sich dann aus ihm in einen bedeckten Kanal teils in die fünf Teiche, teils in den Phlegeton zu ergießen.

Rechts von der Rasenpflanzung nach Norden hin lag ein mit Platanen bepflanzter, zu einem Saal eingerichteter ebener Platz, an dessen Ende nach Westen zu das in voller Größe auf Bretter gemalte Bild des Apollo zu sehen war. Hinter der das Bowlingreen nach Norden einschließenden Pflanzung lag ein mit einer Allee von Roßkastanien umgebener und von einer Lattenwand eingefaßter Obstgarten. Gleichfalls inmitten einer Roßkastanienpflanzung schloß sich westlich ein Theater an. In der Quinconce{*)} der vier Jahreszeiten befand sich ein Pavillon zum Speisen, zwei kleine Bassins und vier Spiele, nämlich ein Fortunaspiel, ein sogen. bayersches Spiel, ein Vogelschießen und ein kleines Karussel. Das alles war z. T. noch in steifem französischem Stil gehalten, mit dem erst Wilhelm IX., der eigentliche Reorganisator der Parkanlagen, aufräumte.

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[209  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

Landgraf Wilhelm IX.
(als Kurfürst seit 1803 Wilhelm I.) bis zum Exil.

1785–1806.

Der durch Friedrichs Hinscheiden veranlaßte Thronwechsel brachte mit dessen Sohn Wilhelm IX., der sich 1803 als Wilhelm I. den Kurhut aufs Haupt setzte, einen völligen Umschwung im Regiment. Vier Tage nach dem Ableben Friedrichs II. traf Wilhelm ohne alles äußere Gepränge auf Schloß Weißenstein ein, wo in einem in der Schloßkapelle abgehaltenen feierlichen Gottesdienst der Superintendent von Rhoden aus Kassel, gleichsam programmatisch für den neuen Kurs, über die Pflichten eines Regenten predigte. Der kostspielige Hofstaat Friedrichs II. wurde zum größten Teil aufgelöst und das zahlreiche Gefolge auf dem Weißenstein nach Kassel geschickt. Eine Reihe von Franzosen, die bisher die Lustbarkeiten am Hofe geleitet hatten, warteten ihre Verabschiedung gar nicht erst ab und verließen die Residenz; alle französischen Moden beim Zivil und Militär waren dem kerndeutsch gesinnten Fürsten ein Greuel und wurden abgeschafft. Aber bei all seiner sprichwörtlich gewordenen Sparsamkeit, die sich in späteren Jahren bis zum Geiz steigerte, war Wilhelm IX., wie so mancher seiner Vorgänger, von einer leidenschaftlichen Baulust beseelt, die ihn vor keinem Opfer zurückschrecken ließ und für eine ganze Reihe von Jahren ungezählten Händen im Lande Arbeit bot. Es war selbstverständlich, daß sich diese Baulust des von tüchtigen Künstlern beratenen Landgrafen vor allem dem nahen Weißenstein zuwandte. Und merkwürdig, der wegen seiner Vorliebe für den Zopf so oft und bitter Geschmähte räumte schon bald mit manchem Zopfigen auf, das unter seinem Vorgänger in den Parkanlagen auf dem Weißenstein Eingang gefunden hatte. Wo sich nur immer noch der steife holländisch-französische Gartenstil mit seinen verschnittenen Fichtenhecken breit

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[210–211  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 33. Landgraf Wilhelm IX. (als Kurfürst Wilhelm I.).


[211] Abb. 34. Mittelbau des alten Schlosses Weißenstein mit dem neuen »Weißenstein«. Aquarell von J. H. Tischbein. 1796. Landesbibliothek zu Kassel. (Neben dem »Weißenstein« die auf vielen Bildern anzutreffende Tanne, vielleicht die noch jetzt stehende, 40 m hohe Abies excelsa, der höchste Baum Wilhelmshöhes.)

machte, trat an seine Stelle der englische, der die von der Natur selbst gebotenen Vorteile auszunutzen und bei aller Kunst doch nur ein idealisiertes Stück Natur zu bieten suchte. Für diesen natürlichen Stil hatte in Deutschland namentlich Fürst Pückler-Muskau († 1785) vorbildlich gewirkt. Die Anlage der gesamten neuen Gartenanlagen unterstand der Leitung des Hofgärtners Schwarzkopf.

Am 31. Oktober 1785 war Landgraf Friedrich auf dem Weißenstein verschieden. Schon im November dieses Jahres begann man mit der Reorganisation des Parkes, indem zunächst an Stelle der fünf alten Teiche der Damm zu dem jetzigen Lac gegraben wurde; auch wurden alle auf Holz gemalten mythologischen Bilder aus dem Park beseitigt.

1786.

Bereits am 6. April setzten mit einer Rate von 50 000 Talern, die mit monatlich 2000 Talern ausgezahlt werden sollten, namhafte Bewilligungen für das Weißensteiner Bauwesen ein; gleichzeitig wurden 7000 Taler für Erdarbeiten ausgesetzt, die vom April bis Oktober [211] mit monatlich 1000 Talern an den Weißensteiner Hofgärtner Schwarzkopf ausbezahlt wurden; von da ab wurden für den Gartenverlag wöchentlich 100, im folgenden Jahr wöchentlich 250 Taler bewilligt. Im Januar 1786 wurden Berceau und Felsen um das Bassin abgebrochen und die Steine von diesem für das Fundament des geplanten neuen Schlosses des jetzigen »Weißenstein« genannten Südflügels abgefahren; der beste Teil des Triumphbogens und des Bogenganges wurde in die Karlsaue versetzt; sodann wurden die Tempel des Mars, der Kirke und der Kalypso abgebrochen, weiter in der Zeit vom April bis August die beiden alten Schloßflügel samt der Kapelle. Im April begann man mit der Kaskade (Abb. 39) am großen Bassin. Gleichzeitig wurde das Fundament des neuen Schloßflügels ausgegraben und durch einen Kanal die dieses Fundament bedrohenden Quellen abgeschnitten. Am alten Hauptwege, da, wo sich bisher eine Reitbahn und Kalkbrennerei befunden hatte, wurde auf einem zehn Acker großen Gelände der neue Obst- und Gemüsegarten angelegt. Um dem großen Bowlingreen seine bisherige kastanienförmige Gestalt zu nehmen und die Rasentreppen und regelmäßigen

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[212–213  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


[213] Abb. 35. Der Weißenstein in ursprünglich beabsichtigtem ruinenhaften Zustand. Links der Mittelbau des alten Schlosses, rechts Fontäne. Im Vordergrund Bowlingreen, im Hintergrund Moschee, darüber Mulang mit Windmühle. Sehr seltener Kupferstich von G. W. Weise nach J. H. Tischbein sen. 1787.

Abhänge und Gänge zu entfernen, wurde die hierzu notwendige Erde vom Fuße des Schneckenberges abgetragen und außerdem die durch die Erweiterung des großen Bassins gewonnenen Erdmassen verwandt. Durch das Bowlingreen wurde eine Chaussee zum Reiten und Fahren angelegt (vgl. den Jussowschen Plan Abb. 46). In der 27. Woche (Juli) nahm der Bau des »Weißenstein« seinen Anfang. Das Fundament mußte wegen der Lage am Hang des Berges und wegen der Beschaffenheit des aus Triebsand mit untermischten Quarzfelsen bestehenden Bodens mit großer Vorsicht hergestellt werden; aus den von den Seitenmauern am großen Bassin abgebrochenen Quadersteinen legte man zwei sich kreuzweise verbindende Lagen unter sämtliche Mauern; als bald darauf am Fuße des Berges ein beträchtliches Stück des Erdreiches fortrutschte, zog man von August 1786 bis Februar 1887 längs dem Berg eine Mauer, die, weil sie mit Erde überschüttet war und dem natürlichen Zug des Berges folgte, weder sichtbar war noch eine Terrasse bildete. Die Ausführung des Schloßbaues wurde den Steinmetzmeistern Wolff, Müller und Barthold übertragen. Nach den Plänen Simon Louis Du Ry’s sollte sich der dreistöckige, 23 m hohe Bau in altrömischem Stil aus roten grobkörnigen Sandsteinquadern erheben und das platte italienische Dach mit Kupfer gedeckt werden. Schon bald nach Beginn der Arbeit richteten die Steinmetzmeister wegen des Sperrgeldes eine Beschwerde an den Landgrafen; da sie mit ihren Gesellen und Lehrjungen bis Abends spät am Bau beschäftigt seien, könnten sie die Stadt nicht vor der Torsperrzeit erreichen, müßten aber trotzdem das Sperrgeld bezahlen; daraufhin wurde bestimmt, daß sie gegen einen vom Burggrafen zu erteilenden Zettel sperrfrei am Weißensteiner Tor passieren konnten. Der Bau wurde rasch gefördert. Noch 1786 wurde das Kellergeschoß und ein Teil des Erdgeschosses, 1787 der erste Stock und ein Teil des zweiten, 1788 die Säulen mit ihrem Gesims aufgeführt und das Dach zum Teil vollendet; noch im Herbst fing man mit dem inwendigen Ausbau an, so daß im Sommer 1789 das Erdgeschoß, zu Ende dieses Jahres der erste Stock möbliert und wohnbar war; die Garderobe des Erdgeschosses wurde mit der oberen Etage durch eine Wendeltreppe verbunden. Doch noch für das Jahr 1791 wurden zur gänzlichen Vollendung des Baues 27 228 Rtlr. bewilligt. Eine überraschende Tatsache erfahren wir aus einem Gutachten des Baudirektors Du Ry vom 16. Juli 1792. Ende [213] 1787 hatte dieser von Wilhelm IX. den Auftrag erhalten, die von J. H. Tischbein dem älteren († 22. August 1789) gemalten fünf Weißensteiner Prospekte durch den Hofkupferstecher G. W. Weise in Kupfer stechen zu lassen. Im November 1788 waren die Abdrücke des ersten Prospektes (Gegen Norden) fertig. Februar 1789 folgte der zweite

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[214  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Näheres über diese Stiche in meinem Aufsatz: »Die Weißensteiner Prospekte des Hofkupferstechers G. W. Weise und deren Absatz.« Hessenland 1907, Nr. 23 und 24. Neues über Weise († 1810) bringt H. Knackfuß, Geschichte der Königl. Kunstakademie zu Kassel. 1908.}

Prospekt (Gegen Westen), Ende Januar 1790 der dritte (Gegen Süden). Die Platte des ersten Prospektes wurde später verändert, weil, wie Du Ry der Oberrentkammer mitteilte, die ursprüngliche Idee des Fürsten, den Südflügel als verfallenes Gebäude zu errichten, inzwischen aufgegeben war. Hier war also eine Lieblingsidee Wilhelms IX., die sich einige Jahre später in der Löwenburg und im Aquädukt verkörperte, schon einmal nahe daran gewesen, Gestalt zu gewinnen. Der ursprüngliche Stich Weises (Abb. 35) stellt noch den ruinenhaft gedachten »Weißenstein« dar; wir sehen nicht nur dessen westlichen Anbau in verfallenem Zustand, sondern überhaupt das ganze Gebäude von Gestrüpp überwuchert. Dieser seltene Stich ist auch dadurch bemerkenswert, daß er im Gegensatz zu den Abdrücken nach der veränderten Platte noch den Mittelbau des alten Friedericianischen Baues vorführt.

Diese Kupferstiche Weises{*)} nach Gemälden des älteren Tischbein gehören neben den etwas stark idealisierenden neun Stichen F. Schröders nach G. Kobold jun. und den vier Stichen desselben Künstlers nach Zeichnungen Joh. Aug. Nahls zu den vortreff‌lichsten Blättern, die uns den damaligen Zustand des Weißenstein vorführen. Weise erhielt für jeden dieser Kupferstiche 100 Taler aus der Kriegs- und Domänenkasse. Auf seine Forderung, ihm 200 Taler zuzubilligen, erhielt er den Bescheid, er könne um so mehr zufrieden sein, da er in Besoldung stehe und an einem solchen Stück kaum fünf Monate Arbeit sei. Da er jedoch, nachdem die erste Platte bereits fertig gestochen war, noch verschiedene Änderungen habe machen müssen, sollten ihm ohne Konsequenz auf die in der Folge noch zu stechenden Platten 115 Taler zugestanden werden. Er war verpflichtet, jede fertig gestochene Platte sofort an Hofrat Strieder für die Weißensteiner Bibliothek abzuliefern und nicht mehr als die nötigen Probedrucke davon zu nehmen, da der Hofkupferdrucker Müller eigens zu diesem Zweck angenommen und diesem die große herrschaftliche Druckpresse anvertraut war. Der Vertrieb der Stiche geschah auf herrschaftliche Rechnung durch den Museumsinspektor (Winterstein, später Döring). \

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[215  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Die Querallee zu Kassel.}

{**) In der Nähe des jetzigen Aquädukts.}

Die Erdarbeiten wurden 1786 gleichfalls bis zum Ende des Jahres fortgeführt. Aus der Allee bei den Teichen, sowie aus der dem Schloß im Osten vorgelagerten Pflanzung wurden sämtliche Roßkastanienbäume ausgegraben und damit die neu angelegte »Allee in dem Wehlheider Feld«{*)} bepflanzt.

1787.

Im Januar und Februar wurden die das Bowlingreen auf beiden Seiten begrenzenden Pflanzungen ausgerottet und dadurch neue Durchblicke geschaffen. Die steifen Abhänge und Gänge erhielten eine sanftere und natürlichere Form und wurden bis in die ehemalige Rosenpflanzung verlängert. Das Gelände des alten Obstgartens wurde mit der Quinconce der vier Jahreszeiten durch eine Platanenpflanzung verbunden. Der enge, mit einer Mauer eingefaßte Platz vor dem Gasthaus wurde abgetragen und neu gepflastert. Im Herbst wurden die Abhänge des Schneckenberges bepflanzt. Die durch das Bowlingreen bis zum großen Bassin angelegte Allee wurde fortgeführt und mit der an der Nordseite des Schneckenberges und längs der Baumschule herführenden verbunden. An Stelle der überall zerstreuten kleinen Flüßchen plante man einen größeren Hauptfluß, der mit den einzelnen Wasserpartien in Verbindung stehen sollte; im Tale des Hauses der Armide{**)} wurde damit der Anfang gemacht und dieser Fluß der Strömung wegen fest ausgepflastert. Das alte steile Ufer hinter dem großen Bassin erhielt in der Mitte der großen Allee, um das Regelmäßige zu brechen, eine muldenförmige Vertiefung; aus der hierdurch gewonnenen Erde wurde südlich des Bassins ein Hügel geschaffen, der mit Bäumen bepflanzt wurde. Da man nun nicht mehr wie bisher durch die beiden Triumphbogen am großen Bassin und die große Hauptallee nach der Plutogrotte gelangen konnte, wurde durch die ganze Anlage eine Chaussee gelegt und mit dieser die Fußwege verbunden. Diese Chaussee wurde in der Mitte des Bowlingreens bis an die später (1790) über den Ausfluß des großen Bassins gebaute steinerne Brücke verlängert. Bis jetzt hatte der Hofgärtner und spätere Garteninspektor Schwarzkopf den Chausseebau gemeinsam mit der Erd- und Gartenarbeit geleitet; in den folgenden Jahren wurde der Chausseebau dem Wege- und

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[216  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) »Der Landgraf speist in Weißenstein sehr gut, so gut wie in der Stadt; das alte Schloß steht noch, nur die beiden Flügel sind weggerissen. Alle Minister speisten mit; ich mußte aber, als Fremder, allen vorgehen, gleich hinter dem Landgrafen her; saß auch neben ihm an der rechten Seite.« G. Forster an Sömmering, 24. Nov. 1787.}

Brückeningenieur Kapitän de Gironcourt übertragen. Eine größere und eine kleinere Insel, die man im Lac anzulegen begonnen hatte, wurden, weil sie nach Ansicht des Landgrafen den Wasserspiegel zu sehr verkleinerten, wieder beseitigt.

1788.

Im Frühjahr wurden der astronomische und der ägyptische Tempel sowie die Mauer um den ehemaligen Blumengarten abgebrochen, wodurch man für die Bearbeitung des Abhanges von der östlichen Ecke des alten Schlosses bis an den Felsen im Südwesten freie Hand bekam; der Berg wurde natürlich abgerundet und der Abhang selbst in drei verschiedene Gefälle geteilt, um ihn möglichst am Ufer des Lac endigen zu lassen. Mit der hierdurch gewonnenen Erde wurden die Triangel der Absätze ausgefüllt und so das bisherige steife, wallartige Aussehen des Abhangs zerstört. Hier, wo der letzte der fünf alten Teiche lag, sollte sich der Damm des Lac an den das neue Schloß tragenden Berg anschließen. Die Terrainverhältnisse machten hier die Anlage eines Dammes sehr schwierig. Der Flutgraben, der südlich neben den Teichen herlief und den Fluß Plegeton bildete, hatte, weil er sich hier selbst überlassen war, nebst dem Ausfluß des fünften Teiches einen tiefen Graben gerissen. Quer über die Allee war ein großer Kanal gebaut, in dem alles Wasser abfloß. Dieser Kanal wurde ausgebrochen. Den ersten Grund zum Damm des Lac mußte man dreißig Fuß tief aufsuchen, wobei unzählige Quarzmassen angetroffen wurden; die großen Steine wurden gesprengt, die kleinen zum Belegen der Ufer im Wasser aufgehoben und der Damm bis zum Ende des Jahres soweit gebracht, daß diese Schlucht mit dem Abhang des Schloßberges in Verbindung geriet. Im März wurde das ehemalige Gärtnerhaus ausgebaut; da es zu andern Wohnungen bestimmt wurde, bezog der Hofgärtner den Flügel hinter dem Gasthaus.

Es zeigte sich bald, daß der neue »Weißenstein« den Raumbedürfnissen nicht genügte. Es wurde deshalb im Frühjahr 1788, gleichfalls von Du Ry, an der entgegengesetzten nördlichen Seite ein weiteres, dem ersten an Höhe und Bauart entsprechendes Gebäude, der jetzige Nordflügel, begonnen,{*)} dergestalt, daß die grade Linie vom

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[217  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 36. Der Weißenstein. Stich von G. W. Weise. 1788. Nach einem Gemälde von J. H. Tischbein sen. (Am Lac steht Landgraf Wilhelm IX.)

Herkules über Plutogrotte und Fontänenbassin durch die Mitte des Zwischenraums dieser Gebäude lief, um sich dann nach Kassel hin in der Allee fortzusetzen. In diesem Jahr wurden Kellergeschoß und ein Teil des Erdgeschosses, im folgenden der erste und zweite Stock, 1790 die Säulen mit ihrer Attika und das Dach aufgeführt, gleichzeitig auch die im Souterrain angelegten Küchen eingerichtet; der innere Ausbau, für den 40 000 Rtlr. bewilligt wurden, erfolgte 1791, die Möblierung sämtlicher Zimmer 1791 und die Einrichtung der Kirche im Frühjahr 1792. Mit der beim Ausgraben des Fundaments erzielten Erde wurde der östliche Abhang völlig ausgefüllt. Im April verwandte man die Materialien eines an der Allee abgebrochenen Aufseherhauses zur Erbauung einer neuen Hofgärtnerwohnung gegenüber

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[218  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Jetzt das sog. »Kleine Wirtshaus«.}

{15a) Während der Aquädukt nach Du Rys eigener Angabe unter dessen Direktion entstand, wird er von Justi (Hess. Denkw. I. 1799, S. 281) Jussow zugeschrieben, was sich jedoch gut vereinigen läßt. Darüber, daß der Hofsteinmetzmeister H. A. Wolff den Aquädukt erbaut habe (Hessenland 1899, S. 245), habe ich nichts finden können.}

dem Obst- und Gemüsegarten, die Anfang 1789 fertiggestellt wurde.{*)}

Ende Mai 1788 begann man den Grund zum Bau des Aquädukts auszugraben, da, wo sich bisher ein kleiner regelmäßiger Blumengarten und dahinter das Haus der Armide befunden hatte. Der Boden bestand aus einer Lage vulkanischer Schlacken und Basaltbrocken über einer Tonlage, unter der man feinen, lagenweise gelben, roten und weißen Sand entdeckte. Als man sich beim Ausgraben des Kessels, in den sich das Wasser des Aquädukts herabstürzen sollte, der in Röhren gefaßten und nach Marstall und Wirtshaus geleiteten Wasserquelle näherte, wurde diese in den Kessel gezogen und senkte sich im Sand; um der Quelle ihren früheren Lauf wieder zu verschaffen, waren in dem außerordentlich strengen Winter 1788/89 umfangreiche und schwierige Arbeiten notwendig; man mußte die Wände des Kessels mit rauhem Mauerwerk auf‌füllen, um so das Erdreich gegen das Zusammenstürzen zu sichern. Dadurch war der Boden derartig durchwühlt worden, daß die Gründung der letzten Pfeiler und des Turmes gleichfalls große Schwierigkeiten verursachte. Sämtliche Pfeiler und Bogen des vom Oberbaudirektor Du Ry geleiteten Baues{15a)} waren 1789 errichtet, die steinernen Kandeln 1790, die Felsen im Kessel 1791 und Frühjahr 1792. Ausgeführt wurde der Bau vorwiegend durch den Maurermeister Feist in Kassel. Im Juni 1791 baten mehrere Einwohner Wahlershausens den Landgrafen um Schadenersatz, da der zum Aquädukt hin angelegte und durch ihre im Habichtswald gelegenen Wiesen geleitete Wassergraben sie empfindlich schädige. Nachdem Steinhofer, der wohl die Wasserleitung beaufsichtigte, ihre Angaben bestätigt und der bekannte Förster Grau zu Kirchditmold den Schaden im Einzelnen festgestellt hatte, erhielten die Supplikanten eine Entschädigung von 78 Rtlr. 24 Alb. ausbezahlt.

Der Aquädukt ist als bereits im Verfall begriffener Bau gedacht und errichtet. Er stellt eine von 14 Bogen getragene altrömische Wasserleitung dar, die plötzlich, vor einer tiefen Schlucht, eingestürzt zu sein scheint. So ist denn diese Felsenschlucht von zahlreichen Trümmern des Einsturzes bedeckt, und auch der äußerste, stehen gebliebene Pfeiler scheint dem Einsturz nahe. Über diesem Pfeiler bricht die Rinne der Wasserleitung ab, so daß sich die herabschießenden Wasser, in Schaum aufgelöst, 34 Fuß tief in die Schlucht hinabstürzen.

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[219  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 37. Aquädukt. Neuere Aufnahme.

So zerfallen wie die Wasserleitung erscheint der mit ihr verbundene alte Befestigungsturm. Der bei dem Bau verwandte graue Basalttuff macht die Täuschung hohen Alters fast vollständig, die außerdem durch das überall aus den Fugen wuchernde Strauchwerk noch erhöht wird. 1791 wurde der ganze Bau noch um zwei Fuß erhöht und der den letzten Pfeiler stützende Felsen vergrößert, wofür noch gegen 15 000 Tlr. erforderlich waren. Am Himmelfahrtstag (17. Mai) 1792 wurde der Aquädukt zum erstenmal für das Publikum angelassen.

Mit der bei der Anlage des Aquädukts fortgeschafften Erde wurden in der Nähe zwei neue Hügel aufgeführt, auch wurde der Platz unterhalb des Grabmals des Vergil, auf dem ehemals die hölzernen Grabmäler der Poeten gestanden hatten, ausgefüllt.

Der ehemalige Hundezwinger wurde zum Pferdestall umgewandelt. Große Mühe verursachte die Fortführung des Chausseebaues. Der am Wirtshaus und Marstall und dann zwischen Schneckenberg und Baumschule hinführende Teil war durch die zahlreichen Fuhren bereits so verdorben worden, daß er von Grund auf wieder hergestellt werden mußte. Die nunmehr in Angriff genommene Verlängerung führte unter einem Bogen des Aquädukts hindurch über die große Allee an der ägyptischen Pyramide und der Pflanzung der Arethusa vorbei durch den Wald der Kirke und Sybille; sie sollte zwischen dem Damm des Lac und der herrschaftlichen Meierei endigen und hier mit dem alten Weg zusammenstoßen. Bei dieser bis in den Winter hinein fortgeführten Chausseeanlage mußten ganze

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[220  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 38. Roseninsel mit der noch jetzt stehenden prächtigen Quercus Robur (Stammesumfang 5,20 m). Im Hintergrund Schloß, Apollotempel, Fontäne und Aquädukt. Gleichzeitiger Stich von Kobold.

Partien abgetragen, andere wieder ausgefüllt werden, um allzugroße Steigungen zu vermeiden. Der Damm des Lac war inzwischen so weit in die Höhe gebracht, daß sein Anfang am Fuße des Schloßberges mit dem Ende gegen Südosten gleiche Höhe hatte. Nach Vollendung des »Weißenstein« wurde das vor ihm gelegene Gelände, das bis dahin als Bauplatz gedient hatte, aufgeräumt und, nachdem die noch stehenden alten Fundamentmauern ausgebrochen waren, mit dem großen Bowlingreen vereinigt.

1789.

Die 1786 von Jussow angefangene Kaskade am großen Bassin (vgl. Abb. 39) wurde wieder in Angriff genommen und die Ducksteinplatten bis Anfang März 1790 mit natürlichen Quarzfelsen belegt. Um die große Fontäne, die nach Anlage des neuen Reservoirs über der Plutogrotte auf eine Höhe von 51,5 m gebracht wurde, mehr zu den Kaskaden auf dem Winterkasten in Beziehung zu bringen, wurde sie aus der Mitte des Bassins mehr nach dem Berge hin gelegt; das Bassin selbst verlor seine alte Form, auch das umliegende Terrain

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[221  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Spracheiferer haben aus ihm, wie sie die Bellevue in Kassel zur »Schönen Aussicht« machten, einen »Schloßteich« gemacht, und es ist zu verwundern, daß sie in Verkennung alles historisch Gewordenen noch nicht eine Verdeutschung von Sanssouci usw. vorschlugen.}

wurde umfassenden Veränderungen unterzogen und erhielt nach Süden hin aus der aus dem Bassin ausgeführten Erde zwei neue Hügel. Um den Ausfluß des großen Bassins möglichst täuschend zu machen, wurde ein Flußarm angelegt, der dicht an der Chaussee beim Tiergarten endigte und über einen Wasserfall in den verlängerten neu angelegten Fluß fällt. Wo dieser Flußarm anfing, wurde die schon erwähnte, Ende Februar 1790 vollendete steinerne Brücke über die Chaussee gebaut, und weiter am Ende des Flusses eine hölzerne Brücke. Der Damm wurde aus der vom großen Bassin gewonnenen Erde gebildet, mit der überhaupt die ehemaligen Elysäischen Felder aufgefüllt wurden. Im Tal zwischen dem (jetzigen) Südflügel des Schlosses und der Moschee wurde später eine Insel, die jetzige Roseninsel, angelegt, um dem Einfluß des Wassers in den Lac mehr Abwechslung zu geben; das so geteilte Wasser bildete auf beiden Seiten der Insel kleine Wasserfälle, der Fluß selbst erhielt gleichfalls noch einige kleinere Wasserfälle. Bei Anlage der Insel ließ man eine hundertjährige, noch jetzt prächtig gedeihende Eiche (Abb. 38) sowie einen großen Weidenbaum stehen. Der Ausfluß aus dem Lac{*)} mit den dort befindlichen zwei alten Teichen wurde in der Weise bearbeitet, daß man die in dem einen Teich befindliche Insel beibehielt und ihn in einen durch die Insel geteilten Fluß umwandelte; aus ihm wurde ein Wasserfall in den zweiten Teich geleitet, der sich an die alte Chaussee anschloß; das hier befindliche Stück einer vierreihigen Lindenbaumallee wurde beseitigt. Die Teicharbeiten am Lac wurden von diesem Jahre ab dem herrschaftlichen Teichmeister Kurt Hermann zu Immenhausen übertragen. Unter seiner Leitung (1789/90) wurden für die Vollendung des Lac 17 165 Taler 8 Albus aufgewandt.

Zur Abführung des Wassers vom Apolloberge legte man in der Platanenplantage einen Kanal an. Im Gemüse- und Obstgarten wurde der Bau eines neuen Treibhauses begonnen. Die Chaussee wurde vom Aquädukt nach der Plutogrotte und von da nach dem Fuß der Kaskaden fortgeführt.

Die Weißensteiner Chaussee wurde bis zum Fürstenweg fertiggestellt, wozu für das Jahr 1789 18 000 Rtlr. bewilligt wurden.

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[222  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

1791 wurde noch ein Stück am Fürstenweg sowie am Königstor (am jezigen Rondel) angelegt, wozu u.a. ein Teil des Koppschen Gartens genommen wurde.

1790.

Zu Anfang dieses Jahres wurden die Arbeiten zwischen Schneckenberg und Aquädukt beendet. Bis dahin hatte der Schneckenberg noch seinen ermüdenden schneckenförmigen Aufgang behalten; neue Wege wurden nunmehr angelegt und alle entstandenen Öffnungem sowie der Hügel neben der sich in das große Bassin ergießenden Kaskade neu bepflanzt. Das Bassin wurde wieder mit Wasser angefüllt. Die bisher nur rauh aufgefüllten Elysäischen Felder wurden bepflanzt. Sodann begann man mit der Anlage der sogen. ersten südlichen Chaussee. Sie nahm ihren Anfang bei den ersten Felsenmassen unterhalb Mulang und führte durch das Dorf zum Tiergarten und weiter hinauf, bis sie sich mit der 1789 bis zum Fuße des Karlsberges geführten Chaussee verband. Kam man diese neue Chaussee hinunter, so hatte man zur Rechten die Windmühle, links die in einem Wäldchen von Lärchenbäumen versteckte Pagode, weiter unten das kleine, von Jussow bewohnte Häuschen, das später unter dem Namen »Bagatelle« für den Landgrafen eingerichtet wurde. Von hier sah das Auge über den Lac hin bis nach Kirchditmold mit seiner neu erbauten Kirche hinüber. Unterhalb der Bagatelle vereinigte sich die Chaussee mit der zweiten südlichen Chaussee.

Um das Druselwasser in den Kessel des Aquädukts zu leiten, wurde der alte Mühlengraben aufgeräumt und verlängert. Von September 1790 bis Ende 1791 wurde die Kaskade in den Elysäischen Feldern, der reizvolle sogen. Jussowsche Wasserfall, aus teils im Lac, teils unterhalb des Lacs gewonnenen Quarzfelsen angelegt. 1790 stellte der Teichmeister Hermann einen überschlag auf über die Anlage eines neuen Reservoirs über der Plutogrotte. Um das dort befindliche kleine runde Bassin zu vergrößern und mit einem links davon über der neuen Chaussee liegenden alten Teich zu vereinigen, so daß das neue Reservoir 400 000 Kubikfuß Wasser fassen und der Aquädukt vier Stunden lang daraus angelassen werden konnte, waren 2823 Rtlr. erforderlich. Ein zweiter Überschlag, nach dem das zu bildende Reservoir 440 000 Kubikfuß fassen, mithin der Aquädukt, wenn ihm 54 000 Kubikfuß Wasser zugeleitet würden, 7–8 Stunden

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[223  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 39. Die Große Fontäne. Stich von F. Schröder nach G. Kobold jun. 1800. Rechts die vom Aquädukt kommenden Kaskaden.

angelassen werden konnte, berechnete die Kosten auf 4976 Rtlr., vorausgesetzt, daß keine Felsenlage unter der oberen Erdschicht die Ausgrabung unmöglich machte oder aber das Sprengen schwerer Steine in der Erde die Kosten erhöhen würde. Das Reservoir wurde in Angriff genommen, von Dezember bis Februar 1791 wurden die Arbeiten auf Befehl des Landgrafen eingestellt, dann wieder aufgenommen und am 1. September 1792 vollendet. Es dient zur Speisung der großen Fontäne und des Wasserfalls unter der Teufelsbrücke.

Am 6. Dezember begann man endlich mit dem Abbruch des Mittelbaus des alten Schlosses. Eine bei den Abbruchsarbeiten, die bis zum März 1791 dauerten, in der Erde unter den Kellern gefundene zinnerne Schüssel und verschiedene Steine mit Wappen wurden dem Kasseler Museum überwiesen. Die beim Abbruch gewonnenen Materialien wurden z.T. zu einem neuen Stockwerk verwandt, das Anfang 1791 auf den Marstall gesetzt wurde. Auch der Turm des alten Schlosses erhielt mit seiner Schlaguhr seinen Platz auf diesem neuen Stockwerk, das teils der fürstlichen Suite, teils den Offizianten als Wohnung angewiesen wurde.

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[224–225  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 40. Weißensteinflügel.

{*) Jetzt Gutsbezirk Nr. 7 ½ (Neumann). Siehe Abb. 24.}


[225] Abb. 41. Teufelsbrücke. Blick von der Plutogrotte. Holländisches Blatt (Landesbibliothek zu Kassel).

1791.

Um die im ersten Schloßflügel aufgetretene Feuchtigkeit zu beseitigen, mußte man mit erheblichen Kosten aus ihm einen Kanal in den unter dem Schloßhof herführenden Kanal leiten. Bei dieser Gelegenheit legte man einen in die Souterrains dieses Flügels führenden unterirdischen Gang durch den Berg an.

Im Sommer wurden die zum Teil noch unausgebauten Koloniehäuser im chinesischen Dorf, das fortab den Namen Mulang führte, instand gesetzt und vier weitere Koloniehäuser an der Chaussee erbaut. [225] Das bisher von Jussow bewohnte Häuschen{*)} wurde, wie schon erwähnt ist, unter dem Namen Bagatelle für den Landgrafen reserviert, während Jussow im Ostflügel des neuen Stockwerks auf dem Marstall einlogiert wurde. Das auf dem Felsen neben der Bagatelle stehende chinesische Häuschen wurde beseitigt, der benachbarte Pavillon zum fürstlichen Speisesaal eingerichtet. Zu dieser Zeit begann man auch mit der Anlage eines neuen Druselgrabens, der das Wasser in das Reservoir über der Plutogrotte leiten sollte. Auch die neue Fasanerie mit den zugehörigen Gebäuden (Wohnung für den Fasanenmeister usw.) wurde im Sommer dieses Jahres errichtet, so daß diese im Frühjahr 1792 mit Fasanen besetzt werden konnte. Durch diese Goldfasanen sowie die chinesischen weiß- und silberfarbigen Fasanen wurde die Gegend ungemein belebt. Da das Gebäude, das bisher als Stall für die Baupferde gedient hatte, zum Tanzsaal eingerichtet und dem Gastwirt zur Benutzung übergeben war, so wurde hinter dem Marstall ein neuer Baupferdestall errichtet. Im August wurden zwei für den Lac bestimmte Lustschiffe gebaut, zu deren

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[226  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Eins der Schiffe sank 1801 und mußte repariert werden.}

{**) Schon 1793 schrieb Hofgärtner Schwarzkopf: »wozu der Gedanke nach einer eigenen und wahren Schweizergegend genommen worden.«}

Ausmöblierung einschließlich acht »Matrosen-Habits« 138 Taler aufgingen; der auf beiden Seiten der Flaggen angebrachte Hessische Löwe war vom Dessinateur Kobold gemalt worden.{*)} Über dem 1792 vollendeten Tanzsaal wurde eine Wohnung für den Hofgärtner Mohr eingerichtet.

Am 1. November 1791 wurde unter Leitung Jussows der Wasserfall neben der Plutogrotte samt der Teufelsbrücke in Angriff genommen, für den noch in diesem Jahre 8000 Taler bewilligt wurden. Seine Entstehung war mehr eine zufällige. Man war dabei, oberhalb der Plutogrotte aus zwei noch aus älterer Zeit vorhandenen kleinen Wasserbehältern einen größeren Wasservorratsbehälter zu bilden und diesen derart zu erweitern, daß er 800 000 Kubikfuß Wasser fassen konnte. Die Notwendigkeit, dem Ausfluß aus diesem Reservoir durch einen Fichten- und Lärchenbestand einen natürlichen Weg zu schaffen, brachte auf den Gedanken zur Anlage eines Wasserfalles. Das dem Reservoir entströmende Wasser wurde über eine aus Tuffstein erbaute, von grotesken Basaltsäulen überragte Felswand geleitet, um sich hier in einer Tiefe von zehn Metern zwischen wildem Buschwerk hindurch brausend in den davorliegenden Höllenteich herabzuwälzen. Das Ganze wurde durch eine halbkreisförmige, hölzerne (seit 1826 gußeiserne) Brücke, die Teufelsbrücke, überspannt, die aber äußerlich mit ihrer, die wilde Reuß überbrückenden Namensschwester am St. Gotthard nicht viel gemein hat. Dieser schon bei der Entstehung der Anlage beliebte{**)} und seitdem oft wiederholte Vergleich ist um so mehr zu entbehren, als die unmittelbar vor dem Wasserfall gelegene Hölle« und die nahe Plutogrotte die Bezeichnung der Brücke von selbst rechtfertigen. Gleichzeitig wurden die zwei regelmäßigen Wasserbehälter vor der Plutogrotte einer Änderung unterzogen. Die steinerne Einfassung des oberen und der zwischen beiden befindliche Wasserfall erhielten eine natürliche Form. Der bedeckte Kanal, in dem der Abfluß dieses Wasserbehälters unter der Erde fortgeleitet wurde, wurde aufgebrochen und ein mit Steinen gefaßter Fluß geschaffen, in dem das Wasser über einige Wasserfälle bis in den Kanal des Aquädukts geführt wurde. Dieser Wasserfall bei der Teufelsbrücke

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[227  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 42. Teufelsbrücke. Kupferstich von F. Schröder nach G. Kobold jun. 1800.

war Ende April 1793 vollendet. Er wird gewöhnlich Steinhofer zugeschrieben, wir erfahren aber ausdrücklich, daß er unter der besonderen Aufsicht des Bauinspektors Jussow erbaut wurde. Zweifellos war aber auch Steinhofer bei der Anlage tätig; wir wissen, daß er 1792 einen Überschlag über die noch zur Anlage des neuen Druselgrabens notwendigen Kosten anzufertigen hatte, und die Herstellung dieses Druselgrabens hing eng mit der Anlage des Wasserfalls zusammen. Schon 1791 hatte Du Ry Steinhofer wegen Überschreitung des zur Anlage des Grabens verwilligten Verlags (800 Rtlr.) zur Rede gestellt, worauf ihm dieser über der sogen. Pfandkaute an Ort und Stelle zeigte, wie er nicht nur wiederholt die Steinmassen durchbrechen und den Graben umlenken, also verlängern, sondern auch wegen des losen Grundes Ufer und Bett mit Steinen belegen mußte. Da der Landgraf die ursprünglich geplante Höhe des Wasserfalls neben der Plutogrotte reduziert hatte, konnten die Mehrkosten des Grabens durch die beim Wasserfall erfolgte Verminderung des Steinmaterials gedeckt werden.

Die an Stelle der ehemaligen Fasanerie am Fuße des alten Schlosses stehenden Steinmetzhütten wurden entfernt, der Platz mit

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[228  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

 

Fußwegen und Pflanzungen versehen. Der alte Weg in der Gegend des Obstgartens wurde mehr nach Süden gelegt und dadurch eine neue Auf‌fahrt nach dem neuen nördlichen Schloßflügel gebildet. Dabei mußten von der Quinconce in der Roßkastanienpflanzung zwei Reihen Bäume geopfert werden, wodurch die wallmäßige Linie beseitigt und überhaupt eine bessere Verbindung mit den tiefer liegenden Partien geschaffen wurde. An Stelle des Fußwegs im Tal wurde noch eine dritte südliche Chaussee, der sogen. Fürstenweg, angelegt; er begann da, wo sich die alte Chaussee am letzten Teich nach Norden wandte, lief bis zum Ausfluß des Lacs über eine hölzerne Brücke und am östlichen Abhang des Schlosses fort, behielt Lac, Insel und Wasserfall in den Elysäischen Feldern zur Linken und vereinigte sich am großen Bassin mit der quer durch das Bowlingreen gelegten Chaussee. Der Damm des Lac war endlich so weit gediehen, daß der Lac im Spätherbst 1791 mit Wasser angefüllt werden konnte, wodurch die ganze Gegend erst ihren abgeschlossenen landschaftlichen Charakter erhielt.

Zu den Arbeiten dieses Jahres gehörte auch die Ausfüllung des kreisrunden Wassergrabens, der den einstigen Tempel der Kalypso umgab. Im Frühjahr 1792 wurde der Platz mit einer Gruppe von Tulpenbäumen bepflanzt. (Vgl. den Plan auf Seite 207.)

Um diese Zeit sehen wir, wie Du Ry allmählich durch jüngere, von ihm herangebildete Künstler beiseite geschoben wurde. »Hinter dem Klassizismus erhob sich die Romantik.« Alle dem Landgrafen vorgelegten Projekte über ein zwischen den beiden Schloßflügeln zu errichtendes Hauptgebäude oder eine sonstige Ausfüllung des Platzes fanden keine Billigung. Zeitweilig beabsichtigte man, die Flügel durch ein Portal, für das bereits ein Modell angefertigt war, miteinander in Verbindung zu setzen; vorübergehend war auch die Errichtung eines Obelisken geplant; schließlich entschied sich der Fürst nach dem Vorschlag Jussows für einen im Stil der Seitenflügel, aber in größerem Maßstab gehaltenen Mittelbau, bei dem die im Erdgeschoß der Flügel notwendig gewesenen dicken Mauern vermieden werden könnten. Der 70 m lange Bau sollte durch niedrige offene Kommunikationsterrassen mit den Flügeln verbunden werden. Nachdem Jussow die nötigen Risse und Skizzen vorgelegt hatte, wurde Ende November der Bauplatz abgegrenzt und am 5. Dezember mit dem Ausgraben des Fundaments begonnen. Die Arbeit wurde den Winter hindurch in dem teils aus mürben Felsen, teils aus Sand und

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[229–230  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Den Maurergesellen, die bei der Legung des Grundsteins das übliche Douceur erhalten hatten, war ein weiteres Douceur versprochen worden, wenn sie den Bau bis zur Höhe des ersten Stockwerkes gebracht hätten; ihr im November eingereichtes Supplikat schickte der Landgraf Du Ry zum Bericht, der ein Gesamtdouceur von 20 R. vorschlug. Der Landgraf gab jedoch nur 15 R.}


Abb. 43. Teufelsbrücke und Plutogrotte mit ihren Skulpturen. Holländisches Blatt (Landesbibliothek zu Kassel).

aufgefüllter Erde und Schutt bestehenden Boden fortgesetzt, so daß am 20. März 1792 der erste Stein gelegt werden konnte. Für den Bau dieses Corps de Logis wurden von Mai 1792 ab wöchentlich 1500 Rtlr., also bis zum Schluß des Jahres 51 000 Rtlr., von 1793 an wöchentlich 300 Rtlr. bewilligt. Im Sommer 1793 waren Kellerund Erdgeschoß fertiggestellt.{*)} Im selben Jahr war auch die im Rondel des nördlichen Flügels eingerichtete Schloßkirche völlig instand gesetzt und wurde am Sonntag Jubilate (21. April) eingeweiht; die dabei vom Konsistorialrat und Hofprediger Rommel über die Verbindlichkeit zum äußeren Gottesdienst (Psalm 95, 6) gehaltene Predigt ist auch im Druck erschienen. Das zum inneren Ausbau des Corps de Logis erforderliche Holz wurde den Handwerkern von der herrschaftlichen Magazinverwaltung verkauft, und mußte, weil es in der nötigen Menge und Qualität nicht vorhanden war, aus den Schmalkalder Wäldern bezogen werden. Allein zu den Fußböden des Corps de Logis waren etwa 96 Schock zweizölliger Tannenbohlen erforderlich; ferner sollten die Fußböden der »Felsenburg« mit diesen [230] nicht leicht zu beschaffenden Tannenbohlen belegt werden; auch ließ der Landgraf einen Teil des Oktogons in wohnbaren Zustand versetzen. Der recht umständliche Transport erforderte einen Kostenaufwand von mehreren tausend Talern. Das Holz wurde zu Wiedershausen abgeliefert, die Werra hinabgeflößt und aus dieser in die Fulda überladen, auf der es dann bis Kassel befördert wurde. Um bei dem Landtransport bis Breitenbach durch Vertauschen des guten Holzes gegen schlechtes Unterschleife zu vermeiden, wurde jedes Stück mit einem eingebrannten Zeichen versehen. Die Anlage der Wasserleitung erfolgte offenbar 1795; um diese Zeit wurden Röhren in das Bowlingreen gelegt, die anfänglich durch die Gemeinde Fürstenwald, dann aber durch die Weißensteiner Baugespanne von Wilhelmstal aus angefahren wurden.

Der Landgraf hatte die Absicht, auf der Freitreppe des Hauptgebäudes Statuen des Mars und der Minerva zu errichten. Verschiedene Bildhauer lieferten Modelle ein, worauf der Landgraf von der Gesellschaft der Altertümer ein Gutachten über die in der alten Kunst üblichen Darstellungen dieser beiden Gottheiten einforderte. Gleichzeitig trug er der Akademie der Maler-, Bildhauer- und Baukunst eine Prüfung der Modelle auf. Eine aus dem Professor Boettner, Baudirektor Jussow und Maler Nahl gebildete Kommission wählte das Marsmodell des Bildhauers Ruhl und das vom Bildhauer Samuel Nahl verfertigte Modell einer Minerva als die vorzüglichsten aus, schlug jedoch einige Änderungen und die Anfertigung neuer Modelle vor. Der Fürst befahl darauf (16. Mai 1795) der Gesellschaft der Altertümer und der Akademie, durch die Bildhauer Nahl, Ruhl und die Brüder Hend auf ihre eigenen Kosten unter Aufsicht des Professors Boettner Gipsstatuen des Mars und der Minerva in großem Maßstab anfertigen zu lassen. Warum diese nicht zur Ausführung und Aufstellung kamen, wissen wir nicht. Statt dessen wurden dann 1802 die beiden Steinkugeln (Erd- und Himmelskugel) auf der westlichen Freitreppe errichtet.

Im Sommer 1795 drangen die Fuhrleute aus Breitenbach auf eine Erhöhung ihres über die Anfuhr der großen Quadersteine vereinbarten Akkordes; Jussow beantragte, ihnen für den Transport jeden Kubikfußes Quadersteine von der größten Sorte einen Groschen mehr, mithin 12 Albus, anstatt der bisherigen 10 Albus 8 Hlr. zuzugestehen, eine Erhöhung, wie sie seinerzeit auch bei Erbauung des Museums

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[231–232  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{16) Es waren dies Steinmetzmeister Barthold, Wolff und Müller, Maurermeister Strippelmann, Feist, Schön und Reinemann, Bildhauer Ruhl, Blechschmiedemeister Rupprecht, Schlossermeister Schwarz, Boeckel, Hummel, Hochapfel und Dalwig, Weißbindermeister Lingelbach, Hofweißbindermeister Rudolph, Schmiedemeister Imhof, Hofkupferschmied Francke, Brunneninspektor Steinhofer, Glasermeister Rinck, Schaeffer, Weber, Backsteinbrennermeister Sinning, Dachdeckermeister Spohr, Hofgröpermeister Diehl, Zimmermeister Wagner, Schreinermeister Rohrbach, Mordt, Blaue, Kaufmann Causid.}

{*) Der Landgraf hatte ihnen nahelegen lassen, wenn sie bereit wären, von dem durch Jussow moderierten Betrag noch einiges nachzulassen, so könne das zur Beförderung der Auszahlung jener Rechnungen sehr viel beitragen. Erst auf ihre wiederholte hartnäckige Weigerung hin erfolgte dann die Zahlungsanweisung. Als Ende 1797 die Maurerarbeiten an Hauptgebäude und Löwenburg zum größten Teil beendet waren und Du Ry ein an sämtliche Maurergesellen zu verteilendes Douceur von 20 R. vorschlug, konnte sich der Landgraf wiederum nur zu einem solchen von 15 R. entschließen. Die Zimmerleute, die nach Du Rys Bericht bei stürmischstem Winterwetter die Kuppel aufgeschlagen hatten, erhielten Ende des Jahres ihr übliches Douceur in Gestalt von 10 R., woran jedoch nach einer Randnotiz des Fürsten diejenigen, die sich kürzlich ungezogen betragen« hätten, keinen Anteil haben sollten.}

[232] {*) 1800 mußten zu diesem Zwecke nochmals 3845 R. 18 Alb. 8 Hlr. bewilligt werden.}

stattgefunden hatte. Der Landgraf war damit einverstanden, lehnte aber die weitere Forderung der Leute von 15 Karolinen ab, ließ ihnen vielmehr den rückständigen Fuhrlohn nach dem alten Akkord auszahlen.

Im Sommer 1796 schritt man zur Aufrichtung der Kuppel. Da die hierzu notwendigen zwanzig Eichenstämme in der erforderlichen Größe aus privaten Waldungen nicht schnell genug beschafft werden konnten, wurden sie, trotzdem sie das Oberforstamt dem Zimmermeister Wagner abgeschlagen hatte, auf Jussows Beschwerde hin aus der herrschaftlichen Waldung geliefert; (die innere Ausmalung der Kuppel erfolgte erst 1801). Weil in diesem Jahr dem Ankauf ausländischen Tannenflößholzes Hindernisse im Wege standen und noch eine große Anzahl von Stämmen erforderlich war, ließ man, um die Arbeiten nicht zu verzögern, in der Karlsaue unweit der Grotte auf den beiden Sternbergen eine Anzahl Fichten und bei Freienhagen neben der Lindenallee längs der Fulda die dort befindlichen Tannen, im ganzen 31 Fichten und 19 Weißtannen, fällen.

Aus Mangel an hinlänglich großen Steinmassen mußte der über den Säulen liegende Architrav aus mehreren Steinen zusammengesetzt werden, zu deren Verklammerung eiserne Anker erforderlich wurden. Deren Beschaffung war mit erheblichen Schwierigkeiten verknüpft. Unter den hessischen Eisenhämmern war nur der Lippoldsberger Hammer zur Herrichtung dieser Anker eingerichtet, blieb aber mit den in Auftrag gegebenen 22 Stück sehr im Rückstande, da durch die bisherige starke Eisenkonsumtion für die Kriegsbedürfnisse ein großer Mangel an Eisen eingetreten war. Die Arbeiten mußten deshalb bis zum kommenden Frühjahr ausgesetzt werden.

Im April 1797 richteten sämtliche zu Weißenstein arbeitenden »Künstler und Professionisten«{16)} an den Landgrafen die Bitte um Auszahlung der von mehreren Jahren angelaufenen Rechnungen, die Jussow außerdem derart moderiert habe, daß sie dabei kaum bestehen könnten und genötigt seien, zur Bestreitung der Materialien und des Gesellenlohnes Kapitalien aufzunehmen. Darauf erging am 11. Mai der Befehl an die Oberrentkammer, die rückständigen Baurechnungen in Höhe von 33 573 Talern 14 Albus 4 Hellern{*)} aus der Kammerkasse [232] zu bezahlen. Im März 1798 wurden die im Schloß arbeitenden Schreinermeister bei der Oberrentkammer wegen ihres vor fünf Jahren mit Du Ry und Jussow geschlossenen Akkordes über die Schreinerarbeit im Corps de Logis vorstellig; sie baten, da sich inzwischen der Preis des schwer zu beschaffenden Eichenholzes verdoppelt hätte und außerdem der Preis aller Lebensmittel sowie der Gesellenlohn erheblich gestiegen wären, den Akkord nach dem Verhältnis des damaligen und jetzigen Holzpreises zu ihrem Vorteil zu erhöhen; um auf erfolgten abschlägigen Bescheid hin höchsten Ortes vorstellig werden zu können, ersuchten sie den Hofbaufaktor Scheuch vom Dielenhaus, ihnen die jetzigen und früheren Holzpreise zu attestieren, und als dieser sich weigerte, baten sie die Oberrentkammer, Scheuch die Abgabe dieses Attestes anzubefehlen. Aber auch dieser Bitte scheint nicht willfahrt zu sein, und es blieb beim alten Akkord. Jm Jahr 1798 konnte zur Ausmöblierung des Hauptgebäudes geschritten werden, die 1801 beendet war. Wilhelm IX. bewilligte zu diesem Zweck die Summe von 20 000 Reichstalern, die jedoch noch nicht ausreichte.{*)} In dem betreffenden Zahlungsbefehl an den Kammerzahlmeister Hoffmann erscheint zum erstenmal die Bezeichnung »Weißenstein, modo Wilhelmshöhe«. Schon Ende Dezember 1791 waren, wohl auf eine Anregung des Fürsten hin, vom Regierungsrat Schmincke, Professor Casparson und Professor Völkel Vorschläge zur Benennung des neuen Schlosses gemacht worden; es finden sich da die Namen: Wilhelmswert, Wilhelmswonne, Mont-unique, Mes délices, Wilhelms Berglust, Ehrenburg, Freudenstein, Höhenpracht; Casparson befürwortete die Namen Wilhelmshayn, Wilhelmsfeste, Wilhelmssorge »wegen der Sorgen, die Höchstdieselben dort dem Staat widmen«, Völkel schlug im Anschluß an die Kaiserstühle »Wilhelmsstuhl« vor; er war es auch, der die zuerst vom Hofrat Strieder in Vorschlag gebrachte Bezeichnung

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[233  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Nach einer weiteren Verfügung vom 8. September 1798 erhielt das Kirchspiel Weißenstein fortan den Namen Kirchspiel Wilhelmshöhe, die Weißensteiner Vorstadt den Namen Wilhelmshöher Vorstadt. (Staatsarchiv Marburg.)}

{**) Vgl. Seite 267.}

{***) Sie waren u.a. die Schöpfer des 1799 bei Göttingen zu Ehren G.A. Bürgers errichteten Denkmals.}

{†) Ruhl erhielt dafür 400 R. Ruhl starb 1842. Er war ein Schüler Nahls und selbst wieder ein Lehrer Christian Rauchs, der sich nach Ruhls Tod in einem Schreiben an dessen Sohn lebhaft an die Bretterbude am Holländischen Tor in Kassel erinnerte, wo das Tonmodell eines der Sandsteinlöwen aufgestellt war. (Beilage zur Allg. Zeitung, München 1892, Nr. 175.)}

»Wilhelmshöh« wieder aufgriff, die denn auch nach einer Verfügung vom 19. August 1798 gewählt wurde, worüber die Kasseler »Policen und Commerzien-Zeitung« vom 3. September 1798 folgende offizielle Anzeige bringt: »Das Fürstliche Lustschloß Weißenstein wird nach dessen nunmehro erfolgter Beendigung Wilhelmshöhe genannt, und der bisher unter der Benennung Wilhelmshöhe bekannte ehemalige Juliusstein erhält den Namen Mont-Chéri, welches dem Publikum hiermit zur Nachricht bekannt gemacht wird.«{*)} Juliusstein war der Name eines Lusthauses, das sich der damalige Minister von Wittorff nordwestlich vom Schloß am Walde erbaut hatte, das ihm dann der Landgraf später abkaufte und unter dem Namen Montchéri zu einer Schweizerei einrichten ließ.{**)} Noch aber war an dem stolzen Schloß, das nunmehr den Namen seines Erbauers trug, manches auszubauen; nach einem Kostenanschlag Jussows vom Januar 1800 waren zur Vollendung des Hauptgebäudes noch 55 209 Rtlr. erforderlich, und die völlige Ausmöblierung war erst im Sommer 1801 beendet. Äußere und innere Ausschmückung des Schlosses war möglichst einheimischen Künstlern übertragen worden. So stammen die in den Nischen der Seitenflügel aufgestellten Statuen der vier Tageszeiten, Aurora, Apollo, Luna und Hesperus, von den Bildhauern Heyd und Nahl; die Gebrüder Heyd{***)} schufen auch die etwas komisch wirkenden Löwen, die auf den Treppenwangen der Innenseite des Südflügels ruhen; die beiden nicht minder patriarchalisch dreinschauenden Eremplare dieses hessischen Wappentieres an der Haupttreppe des Nordflügels wurden von dem Bildhauer Ruhl gemeißelt.{†)} In dem zuerst erbauten und alsbald vom Landgrafen bewohnten südlichen Flügel hingen neben Bildern von Schütz und dem hessischen Hofmaler Böttner allein gegen vierzig Tischbeinsche Gemälde. In den Souterrains befand

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[234–235  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


[235] Abb. 44. Simon Louis Du Ry. Nach einem Gemälde von J. H. Tischbein 1766.

sich ein mit Ankleidezimmer versehenes Bad, dessen Röhrenleitung von Steinhofer besorgt wurde; im obersten Stock war die fürstliche Bibliothek und die schon von den Vorgängern Wilhelms IX. angelegte wertvolle Kupferstichsammlung untergebracht. Die Möbel waren Schöpfungen des Bildhauers Ruhl, auch die Kamine aus italienischem Marmor waren von einheimischen Künstlern gefertigt, desgleichen entstammten die verschiedenfarbigen Tapeten, die Fensterund Bettvorhänge des Erdgeschosses den Hanauer Seidenwebereien. In einem Eckpavillon dieses Flügels hing der allen Kasselanern bekannte Käfig mit dem automatisch singenden Kanarienvogel, der jetzt im Schlosse zu Wilhelmstal den Besuchern gezeigt wird, wohin er vermutlich zu Jérômes Zeit gebracht wurde.

      Der Vogel hängt noch heut in seinem gold’nen Gitter,
      Doch klingt sein Ton nun matt, in schwächlichem Gezitter.
      Wo alles stumm und tot und nur Vergangenheit,
      Spricht er die Sprache noch der alten, alten Zeit.
                                                                          Hans Altmüller.

Der gegenüberliegende nördliche Flügel enthielt die Wohnungen für das Gefolge, außerdem die Kapelle und im Unterraum Hofküche und Konditorei. Das Hauptgebäude erhielt nach beiden Fronten hin mächtige Freitreppen und ein Portal von sechs jonischen Säulen; die Inschrift des westlichen Frieses: »WILHELMVS IX. CONDIDIT« ließ der Fürst 1803 nach Erlangung der Kurwürde in »WILHELMVS I. EL. CONDIDIT« umwandeln. Die an der Hauptfassade nach Kassel zu angebrachte Inschrift »WILHELMSHOEHE« wurde während der Franzosenzeit durch »NAPOLEONSHOEHE« ersetzt, und noch jetzt sind die Stellen zu sehen, wo die mächtigen Buchstaben von vergoldeten Nägelköpfen gehalten gewesen waren.

Simon Louis Du Ry, dem wir den Südflügel und den von Jussow vollendeten Nordflügel des Schlosses verdanken, war ein Enkel Paul Du Rys († 1714), des Schöpfers, und ein Sohn Charles Du Rys († 1757), des Vergrößerers der Kasseler Oberneustadt, und wurde am 13. Januar 1726 zu Kassel geboren. Nach einem Aufenthalt in Stockholm, Paris, wo er unter Blondel studierte, Amsterdam bereiste er auf Kosten Landgraf Friedrichs II. 1753–1756 Italien, wurde 1765 Hofbaumeister und neben Jussow und Diede baukünstlerisches Mitglied der Kriegs- und Domänenkammer, 1766 Professor der bürgerlichen Baukunst am Karolinum, 1776 Professor an der neu gegründeten Maler- und [235] Bildhauerakademie, 1790 Oberkammerrat und starb, tiefgebeugt durch den 1797 zu Rom erfolgten Tod seines einzigen Sohnes Karl, am 23. August 1799 zu Kassel. Auch ihm verdankt Kassel eine ganze Reihe öffentlicher Gebäude.

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[236  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

1792.

Dadurch, daß man die auf der südlichen Seite der Allee zwischen großem Bassin und Plutogrotte vorgefundenen Basaltwacken zum Chaussebau verwandte, waren große Öffnungen entstanden, die beseitigt werden mußten; bei dieser Gelegenheit schwanden hier auch die letzten regelmäßigen Formen, die noch an den alten Stil erinnerten. Auch neben dem Aquädukt waren durch jahrelange Entnahme von Sand zwei große Einschnitte in den Berg entstanden, wodurch gleichfalls ganz erhebliche Terrainveränderungen veranlaßt wurden; vor allem gab man dem Hang des Berges vom Merkurtempel bis zum Fuße eine gefälligere Form. Gleichzeitig wurden die Partien südlich des Aquädukts bearbeitet, die Bäume gelichtet und durch den Wald der Armide über das große Bassin hin ein Durchblick geschaffen. In ähnlicher Weise wurde im Herbst das sogen. philosophische Tal bearbeitet.

1793.

Im Frühjahr wurden in der Gegend der Fasanerie alte Wege zum Teil geändert und neue angelegt. Im Mai wurde die bis dahin noch rauh gebliebene Gegend zwischen der Plutogrotte und dem Fuße des Karlsberges bearbeitet und die ehedem zur Fortsetzung der Kaskadenanlagen angelegten steilen Ufer und Abhänge abgetragen, auch dem vom Waldwassersturz zum neuen Reservoir führenden Flußlauf ein landschaftlicher Charakter verliehen.

Dieser Waldwassersturz, der noch 1821 die offizielle Bezeichnung »Bergwasserfall« oder »Waldwasserfall« trug, wurde vom Volke schon bald nach seinem Erbauer der »Steinhöfersche Wasserfall« genannt. An dem hier fast senkrecht abfallenden Bergeshang türmte Steinhofer mitten im Wald Felsen auf Felsen, und zwar, wie eine wenig glaubhafte Tradition berichtet, ohne Wissen des Landgrafen. Als das Werk so weit gediehen war, daß man aus einem Sammelteich die Wassermassen sich über das Gestein ergießen lassen konnte, soll er den Fürsten an die Stelle seines heimlichen Schaffens geführt haben. Diese Szene ist auf einem Wandgemälde im Tournierzimmer der Löwenburg wiedergegeben. Wilhelm IX. soll derart angenehm überrascht gewesen sein, daß er nicht nur reichere Mittel zur Ausgestaltung des Planes hergab, sondern auch dem vollendeten Werk

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[237  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 45. Steinhöferscher Wasserfall. Kupferstich von F. Schröder nach G. Kobold jun. 1800.

den Namen seines Erbauers beigelegt habe. Richtig ist nur, daß die Ausbauung des Wasserfalls durch landesherrliche Genehmigung fortgeführt wurde. Die traditionelle Annahme, daß der Landesherr durch diesen Wasserfall überrascht worden sei, wird dahin zu erklären sein, daß ihm nach längerer Abwesenheit der inzwischen vollendete Wassersturz von seinem Brunneninspektor zum erstenmal in Tätigkeit vorgeführt wurde.

Bei der Popularität, die Steinhofer genoß, lag es nahe, nicht nur seiner originellen Persönlichkeit phantastische außergewöhnliche Züge zu leihen, sondern auch seine Tätigkeit schon bald sagenhaft auszuschmücken. Ein selbständiges Vorgehen dieses grundbescheidenen Mannes wäre nach den Verhältnissen der Zeit und namentlich bei der Art, mit der Wilhelm IX. sich um die geringsten Kleinigkeiten bekümmerte, völlig undenkbar gewesen. Als sich Steinhofer gegen die vom Fürsten gewünschte Lichtung des dichten Waldes sträubte, wurde diese kurzerhand während seiner Abwesenheit vorgenommen. Auch die Entstehung

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[238  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

dieses Wasserfalles war eine zufällige. Ein kleiner, die »Drusel« genannter Waldbach mußte dreiviertel Stunden lang längs dem Berge hergeleitet werden, um die Wassermassen in den Parkanlagen zu vermehren. An der Stelle, wo der Bach sich den Berg herabstürzen mußte, pflasterte man das Ufer mit Basaltwacken aus, um das Einreißen und Ausspülen des Wassers zu verhüten; die Wirkung des sich hierdurch ergebenden Wasserfalles gab dann den Anlaß, diesen noch zu verbessern und ihn durch einen bequemen Weg mit den übrigen Anlagen zu verbinden. Mit der Vollendung des 1790 begonnenen neuen Druselgrabens (1793) zwischen dem Steinhöferschen Wasserfall und dem Reservoir über der Plutogrotte war auch dieser vollendet. Von vielen als der natürlichste gepriesen, zwingt er uns in der Tat das Geständnis ab, daß hier die Annäherung der Menschenkunst an die Natur die Grenzen ihrer Möglichkeit erreicht hat; freilich dürfen wir dabei der Frage nicht ernstlich näher treten, ob es ästhetisch erlaubt ist, unter Verwischung der Grenzen zwischen Menschen- und Naturwerk eine scheinbare Natürlichkeit vorzutäuschen. Man muß diesen Wassersturz gesehen haben, wenn die Frühlingssonne durch das dichte maigrüne Blätterdach des Hochwaldes dringt, und hinter der staunenden Bewunderung kann sich höchstens das Bedauern darüber bergen, daß diese glitzernden wildschäumenden Wassermengen nicht immerwährend über das zerklüftete Gestein herabfließen, um so den restlosen Eindruck der Natürlichkeit zu hinterlassen. Der Plan, die Wasser der Edder über den Berg zu leiten und so die gesamten Wasserkünste dauernd springen zu lassen, hat ja bekanntlich einmal bestanden. Leider geht dieser Steinhöfersche Wasserfall seinem Verfall entgegen, und nur die unermüdliche Aufmerksamkeit der Hofbauverwaltung, die Jahr für Jahr dort erhebliche Reparaturen vornehmen läßt, hat seinen Ruin bis jetzt aufhalten können.

Die kleineren Arbeiten dieses Jahres seien kurz erwähnt. Schon im Januar war der Platz vor dem Wachthaus gepflastert worden. Im April wurde eine Anzahl Volieren aus der Kasseler Menagerie in den Park versetzt, so auch in einen größeren Gartenplatz, der hinter der Moschee mit Staketen eingefaßt wurde. Am Fuße des Schloßberges, bei der Einmündung der neuen in die alte Chaussee, wurde ein Pförtnerhaus erbaut, ebenso im Obst- und Gemüsegarten ein neues Treibhaus für Feigen und Weintrauben. Das Gelände der Fasanerie wurde vergrößert und ein kleines Haus aus dem philosophischen

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[239  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Es wird beiläufig erwähnt, daß hier vorher das große Loch zu den altfrankischen Cascaden schon ausgegraben war«, ein Beweis, daß deren Fortsetzung also doch einmal wirklich in Angriff genommen war. Oder sollte hiermit gar der unter Karl erwähnte »Teich bei Weißenstein« gemeint sein?}

Tal dorthin versetzt. In der Zeit vom August bis Oktober wurden die Terrainveränderungen zwischen Plutogrotte und Kaskaden vollendet.{*)}

So waren die unter Friedrich II. in 22jähriger Arbeit entstandenen Parkanlagen binnen acht Jahren völlig dem neuen Geschmack angepaßt. Wie Hofgärtner Schwarzkopf seine Aufgabe auf‌faßte, möge die Schlußbetrachtung seines Berichtes dartun, in der es heißt:

»Durch die vorhin gemachten Anlagen war der Ort seinem natürlichen Charakter gemäß, und welchen der Gottseel. Landgraf Carl sehr gut gekannt hat, mehr verdorben als verschönert. Durch die neuen Anlagen ist aber der Gegend ihr wahrer Charakter wiedergegeben und die vorher vertriebene Schönheit und natürliche Anmut wiederum hergestellt. Alles, was gebaut worden, harmoniert mit der Gegend, und ist im heroischen und großen Stil gemacht. Das neue Schloß mit seinen zwei Flügeln, der Lac, zwei natürliche Wasserfälle (zwischen welchen wohl die anderen Wasserfälle wegzuwünschen wären), das große Bassin, der Aqueduc und der Wassersturz nebst den schönen und sehr weit umhergeführten Chausseen, schöne große grüne Plätze und Abhänge haben die vorher vertriebene Würde der Gegend selbiger wiedergegeben. ...«

»Fast die allermeisten Spazier-Gänge haben ihre Absicht und führen nach einem gewissen und besonderen Gegenstand hin, welche allemahl die Mühe des Spazier-Ganges belohnen. Ein Kenner und Freund der Natur wird in der Anlage selbst Plätze finden, welche ihren besonderen Reitz und Schönheit zu ieder Tageszeit haben. Man findet angenehme Plätze vor den Morgen und vor den heißen Mittag, die vor den Abend sind fast noch die schlechtesten, weil durch die Einfassung durch hohe Gebürge gegen Westen die Wirkung der untergehenden Sonne nicht recht empfunden werden kann. Alle SpazierGänge sind guth und feste gemacht, mit Sand und Grant belegt, werden guth unterhalten und die Reinlichkeit sehr strenge beobachted, ia sogar die Chausséen werden wie Garten Wege unterhalten. Dem ohngeachtet aber, obgleich eine große Arbeit in vorbemerkten Jahren verrichted worden, So liegen doch hier und da noch Plätze in ihrem

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[240–242  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 46. Plan des Weißenstein, von Jussow eigenhändig gezeichnet und getuscht. Etwa 1790. (Im Besitz des Verfassers.) [Algemeiner Plan des neuen Schlosses and Garten zu Weissenstein | 1 das neue Schloss | 2. Pavillon | 3. Marstalls Gebäude | 4. Wirths hauss | 5. Hofgärtners Wohnung | 6. Bassin und große fontaine | 7. Tempel des Apollo | 8. Haus der Armide | 9. — des Heraclit | 10. Aequeduc und Wasserfall | 11. Tempel der Minerva | 12. Haus des Plato | 13. Pluto’s Grotte | 14. Paul’s Eremitage | 15. Haus des Socrates. | 16. Projectirte gothische Ruine | 18. Haus des Democrit | 19. Piramide | 20. Grabmal des Virgils | 21. Thier Garten | 22. Strudel | 23. Moschee | 24. Chinesisches Dorf | 25. Pagode | 26. Lac | 27. Fasanerie | 28. Wohnung des Fasan-Wärters]


[241] Abb. 47. Die Felsenburg. Stich von F. Schröder nach einer Zeichnung von J. A. Nahl. Die Figuren nach G. Schleich.

{*) Nicht ohne Einfluß auf die Entstehung der Burg wird das damals viel gelesene und auch in der Hausbibliothek des Landgrafen vorhandene fünfbändige Werk des Dänen Hirschfeld, »Theorie der Gartenkunst«, gewesen sein, der im vierten Band den Kaskaden auf dem Karlsberg die Wirkung der Rührung abspricht, die alte Bergschlösser oder deren Ruinen erregen, und dann den eindrucksvollen Charakter definiert, den gotische Ruinen der Gegend verleihen. Schon bei Anlage der ersten südlichen Chaussee hatte man diesen Platz wegen der hier sich darbietenden Aussicht auf den Park »Bellevue« genannt und hier die Anlage eines gotischen Gebäudes in Aussicht genommen, das noch in einer Beschreibung des Weißenstein aus 1794 direkt »Bellevue« genannt wird.}

rohen Zustande da, welche mit der Zeit noch mehr verschönert werden können und sollen, auch einer höheren Verschönerung noch fähig sind. überhaupt kann man sagen, daß das Haupt-Gemählde fertig und nur noch hier und da das Colorit, das Licht und der Schatten in dem Gemählde feiner ausgemahlt werden müßen.«

Des Landgrafen Wilhelm IX. Plan, den Weißenstein, das Erbe seiner Väter, zu einem Wallfahrtsort aller Natur- und Kunstfreunde [241] zu machen, blieb bei dem Bau des neuen Schlosses nicht stehen, das seit 1798 stolz aus dem grünen Waldeshang auf die im Tale liegende Residenz herabschaute. Noch während an diesem täglich gegen 700 Menschen arbeiteten, wurde am südlichen Ende des Parkes, am Abhange des Hunrodberges, am 2. Dezember 1793 der Grundstein zur Löwenburg gelegt, jener Nachbildung einer im Verfall begriffenen mittelalterlichen Burg im gotischen Stil, deren Motive der Oberbaudirektor Jussow den englischen Burgen des 14. Jahrhunderts entlehnte.{*)} Der ursprüngliche Plan freilich, der dem Bedürfnis des [242] Landgrafen entspringen mochte, mit seiner Favoritin, der Reichsgräfin Karoline von Hessenstein, geb. von Schlotheim, unbeobachtet allein zu sein, beschränkte sich auf einen, nach dem Vorbild der zerstörten Burg zu Löwenstein und der Überreste des alten Schlosses zu Jesberg gebauten runden Turm mit anliegenden Mauertrümmern, die sogen. »Felsenburg« (später auch Wilhelmsburg genannt), wie sie auf einem selten gewordenen Stich von Kobold noch zu sehen ist. Vielleicht würde diese künstliche Ruine doch anders ausgefallen sein, wenn sie nicht stückweise, sondern von vornherein nach einem einheitlichen Plan angelegt worden wäre; erst nach und nach wurde sie zu einer vollständigen Burg mit Kapelle, Rüstkammer, Rittersaal usw. erweitert, eben zu dem, was noch jetzt als »kühnes, herbstlich schönes Rittermärchen« vor uns steht und den Namen Löwenburg erhielt. Schon 1796 erschien eine von J. A. Nahl gezeichnete, von F. Schröder gestochene Ansicht der bereits erweiterten »Felsenburg«, die jedoch, noch vor der Vollendung hergestellt, dem wirklichen Bilde der Burg nicht entspricht. Im Jahre 1800 wurde hinter der Burg nach Zeichnungen Jussows das dazu gehörige Tournierhaus erbaut, das aber, weil es aus Holz bestand, in späterer Zeit verfiel und wieder fortgeschafft wurde.

Nach einem mir unbekannten, im Nachlaß des Baurats Regenbogen befindlichen Anschlag Jussows sollten sich die Kosten des Löwenburgbaues auf 17 2509 Taler belaufen. Dagegen geben im Staatsarchiv zu Marburg noch vorhandene Akten über Einzelheiten des Baues Auskunft. In einem Jussowschen Verzeichnis der bis zum 30. April 1794 von den Handwerksmeistern eingelieferten und noch nicht bezahlten Weißensteiner Baurechnungen findet sich bereits ein auf die Felsenburg« bezüglicher Posten, wonach für Gehölze aus dem Magazin, für Ziegeln und Zimmerarbeit 101 Rtlr. 10 Albus 8 Hlr. zu zahlen waren; gleichzeitig mit der Felsenburg wurde damals auch das Oktogon auf dem Karlsberg durch Fußboden aus Tannenbohlen in wohnlichen Zustand gesetzt. Der erweiterte Bau schritt dann rüstig weiter, so daß am 31. Januar 1798 zur Ausmöblierung der Zimmer in der Löwenburg, wie sie nun schon hieß, 590 Tlr. bewilligt wurden. Vom 12. Januar 1800 haben wir wieder ein von Jussow eigenhändig aufgesetztes Verzeichnis der unbezahlten Rechnungen über die bis Ende 1799 völlig vollendeten Bauarbeiten auf Wilhelmshöhe; hieraus kommen für die Löwenburg folgende Posten in Betracht:

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[243–244  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

  1. Die von Wagner gelieferten Zimmerarbeiten (Bogen und Gerüste im Graben, Treppen, Conditorei und Backhaus, Holzremise und Gatter, Blockhaus, Marstall) mit insgesamt 2289 Rtlr. 17 Albus 10 Hlr.
  2. Die von Lingelbach gefertigte Weißbinderarbeit (1.–3. Etage, Turm, Kapelle) mit 435 Rtlr. 28 Albus 2 Hlr.
  3. Schreinerarbeit (Mordt: Kapelle und Remise; Prévôt: Marstall), zusammen 553 Rtlr. 24 Albus 1 Hlr.
  4. Schlosserarbeit (Christoph Schwarz: 1. und 2. Etage; Caspar Schwarz: Fenster- und Türenbeschlag) 2404 Rtlr. 12 Albus 4 Hlr.
  5. Glaserarbeit (Schäfer: untere Etage, Rittersaal und Kavalierzimmer) 45 Rtlr. 15 Albus 4 Hlr.
  6. Schieferdeckerarbeit (Dalwigk: Kapelle und Remisen) 250 Rtlr. 31 Albus 9 Hlr.
  7. Kupferschmiedearbeit (Francke: Schornstein) 7 Rtlr. 10 Albus 8 Hlr.
  8. Blechschmiedearbeit (Rupprecht: Kandeln) 10 Rtlr. 23 Albus 4 Hlr.
  9. Röhrengießerarbeit (Steinhofer: Röhrenleitung) 185 Rtlr. 20 Albus 6 Hlr.
  10. Insgemein (Mensing: vergoldete Tapeten-Leist.; Barthold: Balustr.; Causid: Öfen; ferner: 302 Rtlr. 2 Albus 8 Hlr. für verfertigte Fenster in der Klosterkirche zu Möllenbeck statt der zur Löwenburg überschickten Glasmalereien, und 300 Rtlr. an Ruhl für Bildhauerarbeit).
        Summa der genannten Ausgaben für die Löwenburg     10110 Rtlr. 30 Albus 8 Hlr.

Gleichzeitig stellte Jussow einen Kostenüberschlag derjenigen Arbeiten an der Löwenburg auf, die ihrer völligen Beendigung zwar nahe waren, über die aber die Rechnung vor der Vollendung nicht genau abgeschlossen werden konnte.

  • Für sämtliche 1798 angefangene und am 11. Januar 1800 beendete Maurerarbeit dürften nach genauer Ausmessung nach zu zahlen sein  15 000 Rtlr.
  • Für Beplattung der Kapelle, für die Revetierungsmauern im Graben, die steinernen Treppen neben der Remise, Beplattung der neuen Offizen usw.  2680 ” [244]
  • Für Zimmerarbeit  230 ”
  • Für Schieferdeckerarbeit und Materialien  300 ”
  • Für Weißbinderarbeit inkl. der Malerei in der Kirche  1700 ”
  • Für Schreinerarbeit im neuen Anbau und auf dem Marstall  2093 ”
  • Für Schlosserarbeit  1400 ”
  • Für das Rittergrab  600 ”
  • Für Glaserarbeit inkl. der gemalten Fenster in der Kapelle  1106 ”
  • Für Materialien zu obigen Arbeiten  200 ”
        Summa der zum Bau der Löwenburg noch etwa
         erforderlichen Kosten  25 303 ”

Es ergibt sich hieraus, daß um 1800 die Burg im großen ganzen fertiggestellt war. Im September 1801 werden die Erdarbeiten am Tournierplatz von einem, neben dem gewöhnlichen Bauverlag außerordentlich bewilligten Betrag von 6619 Rtlr. 29 Albus 11 Hlr. bestritten. Am 14. Juni 1801 fand der erste Gottesdienst in der Burgkirche statt, bei der der zweite Prediger der Unterneustädter Kirche, F. T. Schnackenberg über 1. Buch der Könige, 8, V. 28 und 29 (Einweihung des Tempels Salomos) sprach.

Die Burg bildet ein längliches Viereck. Vor den beiden Toren liegt ein Sperrgraben; das südliche Tor ist seitlich von zwei Flankiertürmen eingefaßt, deren Schlüsselscharten dem Eingang zugerichtet sind. Die beiden Zinnen des ausgekragten Wehrganges vermögen den Körper kaum bis zu den Knieen zu decken und zeigen, daß hier alles nur angedeutet und überhaupt die Höhenabmessungen nur in verjüngtem Maßstab angelegt sind. Von den Zinnen ab erhebt sich ein verjüngter Oberbau, der wiederum mit Zinnen nach oben abgeschlossen und mit einem vierseitigen Schutzdach gedeckt ist. Auf beiden Seiten verlegt eine Zugbrücke den Zugang zum Tor, ein Felsengatter bewirkt eine zweite Absperrung. Durch die beiden Tore gelangt man in den von breiten Linden und Buchen beschatteten Burghof, der an bildnerischem Schmuck u.a. vor der Kapelle die Statuen des Bonifatius und der heiligen Elisabeth aufweist. Nach Bonifatius ist auch der nach Norden gelegene Brunnen genannt, dem ein kristallhelles Basaltwasser entrinnt. Auch die Wohnzimmer im Innern sind

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[245  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) In einem bemerkenswerten Aufsatz »Eine verlassene Rüstkammer« (Antiquitätenzeitung 1908, nr. 24) weist Hans Müller-Hickler-Darmstadt auf die Vernachlässigung der Rüstungen usw. hin; die jedem Wetter ausgesetzte Rüstkammer sei um zweidrittel zu klein, die Waffenstücke durch Firniß unkenntlich gemacht und kritiklos zusammengestellt. Es muß jedoch anerkannt werden, daß man seit einer Reihe von Jahren mit der sachgemäßen Herstellung und Ordnung der Gegenstände beschäftigt ist.}

{*) Nach Wissemanns Aufsatz über die »Glasmalerei in Hessen«. In einem Bericht Jussows über die Ausgaben des Jahres 1801 heißt es dagegen: »Statt der von Hersfeld überschickten gemalten Kirchenfenster sind in der dortigen Kirche andere verfertigt, und der höchst mündlich erteilten Verordnung nach soll der Betrag davon aus dem Wilhelmshöher Bauverlag vergütet werden mit 145 R.«}

im mittelalterlichen Geschmack gehalten. Zu ihrer Ausstattung wurden altertümliche Geräte und Bilder, die man verschiedenen Schlössern entnommen oder auf andere Weise gesammelt hatte, mit verwendet. Besonders wertvoll sind ein reichverziertes und bemaltes Prachtbett aus dem Rotenburger Schloß mit der Jahreszahl 1607 und ein prachtvoll geschnitzter Spiegelrahmen. Der 130 Fuß hohe Mittelturm, von dessen Plattform eine reizvolle Aussicht bis zum Harz hinüber das Auge erfreut, barg in seinem Hauptsaal die Ritterbibliothek, die die vollständigste Sammlung aller Ritter, Räuber- und Geisterromane Deutschlands enthielt. Im gegenüberliegenden Flügel reiht sich an einen kleinen Marstall die mit Harnischen, Schilden, Streitkolben, Äxten, Schwertern und Lanzen ausgeschmückte Rüstkammer; sie birgt auch die Rüstung von Philipps des Großmütigen Schwiegersohn, Moritz von Sachsen (zu Pferd), ferner die Rüstung des schwedischen Marschalls Grafen Horn und diejenige des »Totenritters«.{*} An die Rüstkammer schließt sich die gotische Burgkapelle an, deren bunte Glasfenster (14. und 15. Jahrhundert) mehreren alten Kirchen des Hessenlandes entnommen sind. Du Ry war im Lande umhergereist, um diese alten gemalten Kirchenfenster zu suchen, die aus Obernkirchen, Dagobertshausen, Immenhausen, Hersfeld, Nordshausen und Möllenbeck stammen. Wie wir schon sahen, wurden der Klosterkirche zu Möllenbeck für die ihr entnommenen Glasmalereien neue Glasfenster verfertigt, höchst wahrscheinlich ohne Malerei. Der Stadt Hersfeld wurden 1798 als Entschädigung für die ihr genommenen Kirchenfenster 100 Taler bewilligt.{**)} Auch nach der Rückkehr des Kurfürsten wurde die Anschaffung von Glasmalereien fortgesetzt; der Pfarrer zu Dagobertshausen z.B. wurde durch ein Schreiben der

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[246  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

kurfürstlichen Hofbaudirektion aufgefordert, die alten Glasscheiben der Kirche an das Hofbauamt abzugeben; es hielt dann der Gemeinde schwer, als Ersatz für die bunten die versprochenen lichten Scheiben zu bekommen. Immerhin gingen nach dem genannten Kostenanschlag von 1800 für Glasscheiben in der Löwenburg einschließlich der gemalten Fenster in der Kapelle 1100 Rtlr. auf, die Herstellung der für Möllenbeck verfertigten Fenster verursachte einen Kostenaufwand von 302 Rtlr. 2 Albus 8 Hlr. Die alten Glasscheiben der Kapelle, die früher ungeordnet und planlos eingesetzt und von lichten Glasscheiben unterbrochen waren, sind vor einigen Jahren restauriert worden; das Zusammengehörige ist in demselben Fenster zusammengestellt, einzelnes in neuen Scheiben von den Brüdern Ely hinzugefügt worden. Die Malereien stellen u.a. dar die Legende der hl. Radegunde, des hl. Lambert, des hl. Georg, den sogen. Stammbaum Christi und zwei Szenen aus der Leidensgeschichte.

Zur äußeren Architektur der Kapelle sind mehrfach Bruchstücke von Wimbergen und Kreuzblumen gotischer Kirchen, namentlich der abgebrochenen Unterneustädter Kirche in Kassel, verwendet. Das in der Kapelle aufgestellte Grabmal (Holzrelief) des Pfalzgrafen Siegfried von Orlamünde, des Stifters des Klosters Herrenbreitungen, ist geringe Handwerksarbeit und wahrscheinlich eine 1528 hergestellte Nachbildung des Originals, mit dem falschen Todesjahr 1124 (stat 1114). Die beiden Altargemälde an der Ostseite des Seitenschiffes entstammen der deutschen Schule des 16. Jahrhunderts.

Die Burgkapelle hatte der Landgraf schon zu seinen Lebzeiten zu seinem Mausoleum bestimmt und als solches ausbauen lassen. So schildert denn auch ein am Fußende des Sarkophages eingemauertes, vom Bildhauer Ruhl geschaffenes Hautrelief, das an der Hauptwand des unter der Kapelle befindlichen Grabgewölbes angebracht ist, allegorisch den Empfang des Fürsten im Elysium. Ruhl führte überhaupt sämtliche Bildhauerarbeit in der Kapelle, und zwar nach Jussows Ideen, aus. Unmittelbar nach der Beisetzung des Kurfürsten wurde die Gruft vermauert und damit auch dieses Marmorrelief unsichtbar. In der Kapelle, über dem Gewölbe, steht das Grabmal eines Ritters, der in voller Rüstung ausgestreckt ruhend dargestellt ist. Zur linken Seite des Südtores lag die Wachtstube für die mit Hellebarden ausgerüstete, mit geschlitzten Wämsern und Federhüten bekleidete Schweizergarde. In späterer Zeit wurde diese Leibgarde aus Halbinvaliden

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[247  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 48. Löwenburg. Stich von Martens nach einer Zeichnung von Müller jun. (Auf dem Abhang rechts oben zwei Schweizer Leibgardisten.)

des Leibgarderegiments gebildet, die die dunkelblaue Uniform ihres Regiments, ponzeaurote Kragen und Aufschläge, den Degen am Bandelier, und bei besonderen Anlässen Bärenmützen mit weißen Fangschnüren trugen, wie sie z.B. noch auf den von Müller gezeichneten Abbildungen der Löwenburg zu sehen sind (Abb. 48). Die Wache bestand aus einem Feldwebel und fünfzehn Soldaten. Die Truppe, die mehrfach den Namen wechselte und zuletzt wieder wie bei ihrer Gründung »Schweizer Leibgarde« hieß, bestand bis zum Jahre 1866, in dem sie mit der preußischen Schloßgarde-Kompagnie in Potsdam vereinigt wurde, deren Uniform fast genau dieselbe ist wie die von der Kurhessischen Schweizer Leibgarde zuletzt getragene. Die nach Wilhelmshöhe kommandierten Unteroffiziere der Schloßgarde-Kompagnie sind nach und nach bis auf drei vermindert worden.

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[248–249  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


[249] Abb. 49. Eigenhändige Anweisung Landgraf Wilhelms IX. 1791.

Nach ihrer Vollendung erhielt die Burg auch einen Burgvogt. Dies war bis zur westfälischen Zeit der frühere Kammerlakai Böger, dann folgten nacheinander die (seit den 30er Jahren Kastellan genannten) Burgvögte Imgrund, Becht, Echternach, Euler, Witzell, Caspar, Schröder.

Hervorgehoben sei noch, daß ein Wandgemälde im Tournierzimmer der Löwenburg die Szene wiedergibt, wie Steinhofer dem Landesherrn den soeben vollendeten, später nach ihm benannten Bergwasserfall vorführt.

Rechts vom nördlichen Tor lag der im Stile Ludwigs XIV. angelegte Burggarten,

      die Hecken regelrecht beschnitten,
      als wären’s Verse Boileaus.

»Jussow«, sagte der Landgraf, wie uns der Hofrat Ruhl berichtet, »hier in dem Garten bei der Löwenburg wünsche ich nach holländischer Art geschorene Hecken, und der Gärtner zu Wilhelmstal kann das besorgen, er verdient ohnehin seine 200 Dukaten, die er durch Reskript von des hochseligen Landgraf Freigebigkeit bezieht, mit Sünden.« Da aber der Gärtner, mit dem sich überdem schwer zu verständigen war, Aufschub bis zum Heranwachsen des Taxus verlangte, so wurde beschlossen, ausgehobene Tannen zu pflanzen, die dann mit ihrem immerdauerndem Grün zu hohen Wänden aufschossen. Erst 1880 wurden, nach den Aufzeichnungen des Hofgärtners Vetter, neue Hecken um den Löwenburggarten gepflanzt, 1889/90 wurden dann die abgestochenen Rottannenhecken im Garten ausgerodet, die ganze Gartenfläche geordnet, der ganze Garten zum Schutz gegen das Wild mit Drahtgeflecht umgeben, an dem Geflecht entlang eine Hecke aus Taxus und an die Geländer im Innern Thuja occidentalis gepflanzt, wodurch die ganze Anlage einen völlig neuen Anstrich erhielt.

Außer den (alten) in regelmäßige Figuren abgeteilten Hecken aus Tannen und Hainbuchen war der seit 1893 nicht mehr zugängliche Garten durch Volieren und Springbrunnen verziert.

      »Dorten zwischen dunkeln Hecken
      Stand ein weißes Steingebilde,
      Halb umrankt von wilden Rosen
      Und dies Bildnis war Frau Venus.«                      W. Bennecke.

Wie so manche Statue, die einst den Karlsberg verschönte, ist sie beseitigt und steht in einem Hofraum neben der Burgkapelle; man

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[250–251  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Darauf, daß ein solcher Wasserfall geplant war, läßt u.a. auch ein von Jussow gezeichneter Plan schließen, den er einem Bericht an die O. R. K. (27. August 1796) über die Verlegung der Wahlershäuser Viehtrift beifügte. (St.A. Marburg, M. St. S. 5393.) In einem Rechenschaftsbericht vom 14. März 1797 bemerkt Jussow, daß das Reservoir auf dem Asch erst nach Vollendung [251] der Löwenburganlagen in Gebrauch genommen werde, was wohl darauf schließen läßt, daß es ursprünglich auch zur Speisung dieses Wasserfalles angelegt wurde. Diese Annahme bestätigt Martin, Topogr. Nachr. 1799. III. 3. S. 43, wo es von der Löwenburg heißt: »bey welcher man einen neu angelegten Wassersturz entdeckt, der aber noch nicht vollendet ist, und das erforderliche Wasser aus einem noch höher gelegenen, gegen 1600 Fus von da entfernten Wasserbehälter empfangen wird.« Ebenso redet Döring (1804, S. 35) von den an der östlichen Seite des Burggrabens gelegenen Steinfelsen, »über welche, der ersten, vielleicht noch nicht ganz aufgegebenen Absicht nach, ein beträchtlicher Wassersturz hat angebracht werden sollen.« Auch Krieger (1805. S. 43) berichtet noch: »Hart an der Burg her soll eine Wasserleitung angebracht werden, welche als wildbrausender Waldstrom über die aufgethürmten Felsstücken und Felsenbette hinströmen soll und nach ihrer Vollendung das Romantische dieser Anlage beträchtlich erhöhen wird.«}

hätte sie trotz ihrem verwitterten Antlitz ruhig in diesem romantischen Rittergarten belassen sollen, hatten doch grade die Romantiker immer wieder die hohe Poesie verwilderter Gärten hervorgehoben, in denen halb verfallene Marmorbilder ein verzaubertes Leben führen. Und so fragen wir immer noch mit dem Dichter:

      Wann erhebt ihr Götterbilder
      Euch in eurem Schmucke wieder,
      Wann erblick’ ich dich, Frau Venus,
      Wieder auf der alten Stelle!

Dem Stile der Anlage widersprach es auch, den vor dem südlichen Tor liegenden, früher eingezäunten Tournierplatz, an den sich eine steinerne Schaubühne für die Preisrichter und Damen anschloß, mit Anpflanzungen zu bedecken, wie das bereits in früheren Zeiten vorübergehend geschehen war. Von diesem Platz aus macht die Burg einen gekünstelten Eindruck. Der Anlage einer Burg durchaus nicht entsprechend ist die Westseite, an der sich nach der Gebäudebeschaffenheit die Angriffsfront befinden dürfte. Hier würde man nach allen Erfahrungen der Burgenkunde, wie mir bei einem gemeinsamen Besuch der Burg Ernst Happel darlegte, einen tiefen Wallgraben annehmen müssen; es würde auch einer besseren Verteidigung der Burg mehr entsprechen, wenn an dieser Seite als Schild und Deckung der Bergfried seinen Platz erhalten hätte. Die Burgkapelle ist als gotische Kapelle in ihrem Stil nicht rein und würde auch mit ihrem Chor in der Angriffsfront zur Einnahme der Burg nur beitragen. Die verschiedenen Wehrtürme mit Umgängen sind willkürlich plaziert. Aber schon die der Wirklichkeit nicht entsprechenden Größenverhältnisse zeigen, daß die Löwenburg nur eine Dichtung sein will, und so muß und wird auch die schärfste Kritik einräumen, daß das Gesamtbild der Burg den von ihrem Schöpfer beabsichtigten Eindruck völlig hervorbringt und also ihren Zweck erfüllt.

Wunderbar – und heute noch mehr denn je – ist die Wirkung, wenn man vom Schloß her an der ursprünglich auch für einen Wasserfall bestimmten{*)} Schlucht, der sogenannten Wolfsschlucht vorbei die [251] Burgtreppen herauskommt. Diese malerische Wirkung wird zum großen Teil der glücklichen Wahl des Baumaterials verdankt, das, wie für das Oktogon und die Wasserfälle mit Ausnahme des neuen, aus dem im Habichtswald und namentlich am Essigberg selbst gewonnenen Basalttuff besteht. Schon das natürliche Aussehen dieses grauen Gesteins erweckt den Anschein hohen Alters. Hier, am Ausgang der Burgtreppe, tritt uns aus dem mit wildwucherndem Gesträuch überwachsenen Gemäuer der ganze Zauber der Romantik entgegen, und man mag über die mehr oder weniger verständige Anlage dieses architektonischen Betrugs denken wie man will, der Stimmungszauber der ganzen Szenerie läßt sich nicht wegleugnen, und treffend bringt ihn Wilhelm Bennecke zum Ausdruck, wenn er sagt: »Selbst der ganz moderne Mensch, wenn er den von Waldesdüster umfangenen Treppenweg zu der Löwenburg emporgestiegen ist und dann durch das Tor in den lauschigen Burghof tritt, wo die Löwen an den Türen liegen und vor der Kapelle die Gestalten Winfrieds und der heiligen Elisabeth sich erheben, selbst der ganz moderne Mensch wird sich eingestehen müssen, daß dieser Löwenburg ein Etwas anhaftet, das ihn mit stillem Schauer umfängt, und die vielleicht jüngst noch spöttisch verzogenen Lippen, über welche die bekannten Redensarten von den kleinen Raubstaaten und ihren Menschen gingen, werden mit einem Male stumm aus welchem Grunde ist gleichgültig –, die Stimmung, die fröhlich über jemand kommt, daß er leiser als sonst sprechen muß, läßt sich nicht immer auf ihre Ursache zurückführen. ... In klaren Herbstnächten aber sitzt die Romantik am Brunnen und spinnt ihre silbernen Fäden.« – \

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[252  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Siehe weiter unten.}

{**) Nach der Selbstbiographie des Architekten J. H. Wolff bezog Jussow ein Gehalt von 200 Talern. (Hessenland 1899, Seite 245.)}

Wiederholt war die Löwenburg der Schauplatz glänzender Feste; so schon im Sommer 1799 bei der Anwesenheit Friedrich Wilhelms III. von Preußen und der Königin Luise, ein Besuch, der nicht nur von der damaligen Kasseler Lokaldichterin Philippine Engelhard, geb. Gatterer, besungen, sondern auch von dem Haus- und Hofdichter, dem Rat und Professor Casparson in einem Poem gefeiert wurde: »Der Geist der Ritterzeit und der siebzigjährige Sänger des Hochfürstlichen Hauses Hessen auf der Löwenburg, bey der Anwesenheit J. J. Königlichen Majestäten von Preußen auf Wilhelmshöhe vom 9. Junius an. 1799.« Jérôme, der die Löwenburg zuweilen auch zu Internierungszwecken benutzte, beging gleichfalls, wie wir noch sehen werden, manches Fest dort oben. Am 14. März 1821 wurde Kurfürst Wilhelm I. in der Burgkapelle beigesetzt. Als im Juli 1853 Hessens letzter Kurfürst den Besuch seines Königlichen Vetters, Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, und des damaligen Prinzen Wilhelm erhielt, erstrahlte nach festlichem Empfang im Wilhelmshöher Schloß abends die Löwenburg in bengalischem Feuer.

Es war vorauszusehen, daß an einem so romantischen Bau wie der Löwenburg auch die Literatur nicht vorübergehen würde. Wie die Geschichte vom schwarzen Ritter{*)} zur Volkssage wurde und gleich der Erscheinung auf der Löwenburg{**)} beispielsweise von W. Bennecke poetisch verwertet wurde, so spielt die Burg auch sonst im deutschen Schrifttum eine gewisse Rolle. Eins der ersten Kapitel von Immermanns »Münchhausen« handelt ausführlich vom Kastellan Piepmeyer auf der Löwenburg und seinen sechs Söhnen und flicht auch die Gespenstererscheinung mit ein. Ein Liebesidyll Jérômes und der jungfräulichen Elisabeth, der blonden Nichte des Kastellans Nikodemus Grün auf der Löwenburg schildert Eduard Maria Öttinger in seinem historisch-humoristischen Roman »König Jérôme Napoleon und sein Capri«.

Noch ein Wort über den Erbauer der Löwenburg, deren stark beschädigter Turm übrigens in den fünfziger Jahren einer kostspieligen Reparatur unterworfen wurde. Heinrich Christoph Jussow, am 9. Dezember 1754 zu Kassel geboren, war von Haus aus Jurist, wandte sich aber dann der Architektur zu, machte umfangreiche Studienreisen,

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[253  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 50. Blick auf Löwenburg und Oktogon.

besonders nach Italien und wurde 1790 bei dem Wilhelmshöher Bauwesen beschäftigt. Als Amtsnachfolger des Oberbaudirektors Du Ry vollendete er den Wilhelmshöher Schloßbau, schuf außer der Löwenburg noch den Aquädukt, den Wasserfall unter der Teufelsbrücke, den entzückenden Tempel an der großen Fontäne, den ebenfalls künstlerisch ganz hervorragenden kleinen Wasserfall in den sogen. Elysäischen Feldern zwischen Fontänenbassin und Lac, sowie mehrere Treibhäuser. Er restaurierte das Oktogon, das schon sein Vater, der Oberbaumeister Jussow, verankert hatte und baute unter Jérôme den erweiterten Marstall und die später wieder verschwundene chinesische Galerie zwischen Schloß und Theater in der Kastanienplantage. Auch entwarf er die Pläne zur Kattenburg und zum Autor. Wie Steinhofer Junggeselle, starb er 71jährig am 26. Juli 1825. Wir besitzen noch ein Relief, das seine charakteristischen Züge gut wiedergibt. \

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[254  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 51. Heinrich Christoph Jussow (1754–1825). Medaillon von J. C. Ruhl (Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel).

Jussow wohnte in dem kleinen, der Einmündung der Rasenallee rechts gegenüber liegenden Häuschen an der Mulangstraße, der »Bagatelle«, und später im Ostflügel des Marstalls. Er liegt auf dem alten Friedhof zu Kassel begraben, dicht vor dem von ihm errichteten Begräbnistempel der Kurfürstin Karoline. Eine prächtige Traueresche mit grotesk gewundenem Stamm überschattet seinen Grabstein, dessen leider schon stark von Moos überwucherte Platte die schlichte Inschrift trägt:

      Heinrich Christoph Jussow,
      geb. zu Cassel den IXten Dec.: MDCCLIV
      Gest.: daselbst den XXVI sten Jul.: MDCCCXXV
      Kurfürstl. Hess, Oberbaudirektor,
      Commandeur des Löwenordens.

      »Sein Denkmal sind seine Werke, –
      Drum anspruchslos, wie er im Leben,
      Deckt dieser Stein
      Was sterblich an ihm war.«

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[255  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Offenbar im Anschluß an die Behandlung desselben Themas bei Home, Grundsätze der Kritik«, Kap. 24 und Hirschfeld, »Theorie der Gartenkunst« III., Seite 114.}

{**) Die jetzt übliche Fassung: »Mein Gott! welch’ einen großen, schönen Gedanken hat der Landgraf da in unsers Gottes Schöpfung hineingeworfen!« findet sich zuerst in Justis »Hess. Denkwürdigkeiten« I. 2. (1800). S. 358. Anmerkung. (Nachrichten von Gottlieb Kobold.)}

Am 2. Dezember 1799 hielt der Rat Casparson eine auf der Landesbibliothek zu Kassel handschriftlich erhaltene Vorlesung über die Frage: »Soll man Ruinen nach der gotischen oder griechischen Baukunst{*)} anlegen?« Darin heißt es: »Klopstock, Deutschlands Homer, war einst mit mir auf dem Octogon des Carlsberges. Don seiner Höhe sahe er hinauf und herab und rief staunend aus; welches große Werk der Kunst warf hier Heßens Carl in unseres Herr Gotts Schöpfung hinein?{**)} was würde der Saenger Hermanns jetzt sagen, wenn er von Wilhelm des Neunten Höhe im Aquadukt ein Meisterstück des alten Roms, in der Löwenburg das alte Deutschland sähe?« Casparson feiert dann die Löwenburg als bewunderungswürdiges Denkmal altdeutscher Kraft und Stärke und kommt zu dem Schluß: »Ruinen werden also in unserm Deutschland unwidersprechlich am schicklichsten Anlagen nach Gothischem Geschmack. Das bewieß ihm Wilhelm IXte, er thats, er lebe!«

1794–1806.

Die schon im Zusammenhang behandelten Bauten – Schloß und Löwenburg – nahmen ihren Fortgang und Beschluß. Als Ersatz für das alte, oberhalb des Kavalierhauses gelegene Treibhaus, das nur noch als Blumentreibhaus benutzt wurde, ließ der Landgraf (etwa 1794) drei neue Treibhäuser anlegen. Das Haupttreibhaus bestand aus einem großen Pavillon, der als Speisesalon benutzt wurde, und 23 Stuben. Unter den der Pflege des Hofgärtners Mohr unterstehenden Gewächsen wurde besonders ein Pisang angestaunt, der 1797 in einem Alter von vier Jahren eine solche Höhe erreichte, daß die 16 Fuß hohe Stube um 10 Fuß erhöht werden mußte. Wenn man die am Nordabhang des Schloßberges entlang führende Straße herauf kam, hatte man die Treibhäuser, hinter denen der herrschaftliche Gemüsegarten lag, zur Rechten. Die kleinen, terrassenartig ansteigenden Treibhäuser, in deren kleinen Vorgärten Fontänen

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[256  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

sprangen und in denen sich besonders im Winter eine üppige Blumenpracht es waren der Zeit entsprechend vorwiegend Rosen, Levkoyen, Nelken darbot, wurden von den Gärtnerburschen gegen ein kleines Trinkgeld gezeigt. An die Treibhäuser schloß sich, gleichfalls an der steilen, für Fuhrwerke nur mühsam zu befahrenden Straße und an der Stelle des heutigen Wachthauses gelegen, der zum Gasthaus gehörende öffentliche Tanzsaal (1789) an, hinter dem ein neues Obsthaus erbaut war; es folgten, immer zur Rechten der Straße, das Gasthaus (1767), das Kavalierhaus, der Marstall (1790/91), hinter dem 1797 das Reithaus errichtet wurde, und das Blumentreibhaus.

Eine ganze Reihe von Projekten wurde wieder fallen gelassen. Das Bedeutendste ging (1794) von Jussow aus und beabsichtigte eine großartige Kaskadenanlage als Fortsetzung der alten zwischen diesen und dem Fontänenbassin, also an derjenigen Stelle, an der sich die sagenhaften Kaskaden des Landgrafen Moritz befunden haben sollen. Wie beim ersten Entwurf des Weißensteinflügel, bei Aquädukt und Löwenburg war auch hier der ruinenhafte Charakter der Anlage ins Auge gefaßt; zwischen Tempeltrümmern, deren Säulen noch zum Himmel emporragten, sollten sich die Wassermassen zu Tale wälzen. Auch ein weiterer Plan, nach dem sich inmitten des (1803 endgültig vollendeten) Bowlingreen auf hohen Felsblöcken eine Statue (des Arminius?) erheben sollte, kam nicht zur Ausführung. Der Kuriosität wegen mag noch ein Vorschlag erwähnt werden, den der Hofbildhauer Ludwig Daniel Heyd dem Landgrafen unterbreitete; er beabsichtigte nichts weniger als die Anlage eines feuerspeienden Berges auf dem nahen, an der Chaussee, bei Wahlershausen gelegenen Rammelsberg; dieser Vulkan sollte auf eine einfache Weise im Innern durch die dortigen zehn Kalkbrennereien gespeist werden. Der Fürst war geschmackvoll genug, auf diese etwas forcierte Art, den Ruhm seiner Schöpfungen zu erhöhen, zu verzichten.

1796 begann man mit der Anlage des Reservoirs auf dem Asch, das sich bereits auf dem Dunckerschen Plan von 1797 verzeichnet findet; aber erst 1799 legte Steinhofer dort die Röhrenleitung. 1800 hatte er die Anlage vollendet und konnte das Wasser hineinlassen. Wie wir schon sahen, war es ursprünglich in erster Linie zur Speisung eines Wasserfalls in der Wolfsschlucht neben der Löwenburg bestimmt, daneben sollte es nach einer Resolution des Landgrafen vom 20. Juni 1800 als Fischteich benutzt werden. Um es wasserhaltig zu machen,

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[257  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) T. Raab, Führer durch die Parkanlagen von Wilhelmshöhe, teilt (S. 38) mit, daß die »Sichelbach« früher von Mennoniten bewohnt und etwa in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Meierei gegeben worden sei. Der Bau der neuen Meierei an der Allee war 1786 begonnen worden.}

{**) Die Karussellspiele (Ringelreiten) des Mittelalters wurden durch die Turniere verdrängt, traten aber mit dem Verfall der Ritterschaft wieder an deren Stelle.}

mußte der Boden ausgestoßen werden, wozu rund 1900 Rtlr. erforderlich waren.

1797 entstand das Reithaus hinter dem Marstall; im selben Jahr wurde auch an der Anlage der Chaussee nach Wilhelmstal gearbeitet. Die den unterhalb der Löwenburg gelegenen Tiergarten begrenzende Mauer finden wir erst auf dem Plan von 1800; in diesem Tiergarten wurden Rehe und Hirsche der verschiedensten Art gehegt. Um die Wende des Jahrhunderts müssen auch die 1904 gefällten, die Kaskaden säumenden Fichten angepflanzt oder gesät worden sein. 1799 hatte sich der Landgraf im mittelsten Stockwerk des Oktogons einen mit drei großen Glastüren versehenen Saal errichten und ausmöblieren lassen. Über die Erbauung des Vorwerks Sichelbach ließ sich nichts feststellen,{*)} nach Landau geschah sie in den Jahren 1804–1806. Im Jahre 1801 erfolgte die Veränderung des Flusses vor der Plutogrotte und der Erbauung der steinernen Brücke über diesen, die Herstellung der Chaussee im philosophischen Tal und die dadurch veranlaßte Verlegung des Baches, die Erbauung des Ananas-Sommerhauses im Gemüsegarten sowie eines Orangensaales, ferner die Anlage des Burggartens bei der Löwenburg mit Laubengängen, Bassin und Fontäne und des Tournierplatzes. Zur Abtragung dieses Karussellplatzes{**)} waren 1800 2734 Rtlr. bewilligt worden; es waren aber noch weitere 980 Rtlr. erforderlich, weil auch die neben der Löwenburg herführende Chaussee tiefer gelegt, der Berg vor dem Wald abgeböscht und die durch den Transport stark beschädigte Chaussee im Tiergarten hergestellt werden mußte. 1801 wurde der Tournierplatz durch Schranken eingeschlossen und eine Schaubühne auf ihm errichtet. Im selben Jahr wurde das Gewölbe unter der Löwenburgkapelle instand gesetzt. 1802 erfolgten dort die Marmorarbeiten mit Ausnahme des Basrelief, das erst 1803 fertig wurde. 1802 erhielt der erste Schloßflügel einen äußeren Anstrich. Auf eine Anfrage Jussows an die leistungsfähigsten Kasseler Weißbindermeister forderten diese weit über 2000 Rtlr.; den

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[258  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Der Vater des Akademiedirektors Fr. Müller, Jakob Müller, kann es demnach nicht gut gewesen sein, denn dieser erhielt, wie ein anderer seiner Söhne, Leonhard Müller, mitteilt, erst 1805 das Meisterrecht.}

Zuschlag erhielt Weißbinder Jakob Müller, dem der Landgraf kurz vorher das Kasseler Bürgerrecht und den Meistertitel verliehen hatte;{*) Müller hatte nur 1754 Rtlr. gefordert in der Hoffnung, der Landgraf werde ihn, wenn er durch diesen Anstrich seine Fähigkeiten außer Zweifel gesetzt habe, von der Anfertigung des gewöhnlichen Meisterstückes dispensieren.

Große Mißhelligkeiten verursachte die letzte Arbeit im Schloß, das den Schlossermeistern Christoph Schwarz und dessen Bruder Caspar Schwarz in Auftrag gegebene eiserne Treppengeländer. In einem vor Erteilung des Auftrages von ihnen geforderten Überschlag hatten sie das Gewicht des Geländers auf etwa 3744 Pfund angegeben, dieses ergab aber, als es auf der Stadtwage gewogen wurde, ein Gewicht von 5541 ½ Pfund. Trotzdem Jussow anerkennen mußte, daß die Arbeit »mit dem größten Fleiß und aller erforderlichen Schönheit« ausgeführt war, moderierte er die Rechnung nach dem früheren Überschlag, wodurch 1500 Rtlr. in Abzug kamen; auch waren wegen nichteinhaltung des Ablieferungstermins auf höchsten Befehl 20 Rtlr. zurückbehalten worden. In wiederholten Supplikaten stellten die Gebrüder nunmehr dem Landgrafen vor, daß sie in diesem Falle nicht einmal ihre Auslagen decken könnten und in die Unmöglichkeit versetzt würden, ihre Schulden als redliche Bürger zu bezahlen; um aber ihre Bereitwilligkeit zu zeigen, wollten sie für jedes überwiegende Pfund statt des vereinbarten Preises von 20 Ggr. mit 7 Ggr. zufrieden sein. Der Landgraf beauftragte die Oberrentkammer, mit ihnen auf die beste Art übereinzukommen, worauf sie dann im Februar 1803 wenigstens noch 524 Rtlr. 8 Albus 8 Hlr. nachbezahlt erhielten.

Im Sommer 1801 wurde bei einem schweren Unwetter die Herkulesstatue vom Blitz am Schenkel getroffen und gleichzeitig wurden große Steine vom Oktogon herabgeschleudert. Im November drückte der Konsistorialrat A. B. Bergsträßer in Hanau in einem Schreiben dem Landgrafen sein Befremden darüber aus, daß diese merkwürdige Begebenheit noch von keinem hessischen Dichter besungen worden sei; er überreichte ihm deshalb einen kleinen dichterischen Versuch, der auch auf die bevorstehende Errichtung eines Monuments des Erzherzogs Karl Einfluß haben könne, nämlich bei Erörterung der

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[259  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) »Lange neckte Dich Juno mit Plagen und Ränken auf Erden. Jetzt bist Du der Sterblichkeit entrissen, und es sollte sich Dein Vater in der Höhe an Dir vergreifen? Sollte der eherne Guß im Bilde des großen und tapferen Mannes Ewigkeit nicht bürgen im hohen Bilde, dem nur die Pole nicht nachstehen?«}

Frage, ob dieses aus Erz oder aus Marmor hergestellt werden solle. Zur Erhaltung der Herkulesstatue schlage er eine eigene Anlage von »Gewitterableitern« vor, die über die Höhe der Figur hinausreiche und so sowohl die Gegend des Schlosses als auch die Stadt Kassel gegen die gewalttätige Erschütterung der Blitze schütze. Ein von ihm beigefügtes lateinisches Epigramm mit der überschrift Hercules Cassellanus fulmine contactus, das als Inschrift am Postament gedacht zu sein scheint, ließ der Landgraf dem Professor Völkel zum Bericht übergeben; dieser äußerte sich dahin, daß auch die übrigen Poeme des Verfassers, wenn sie dem eingesandten entsprächen, des Druckes wohl würdig seien, es empfehle sich aber, das Epigramm durch Übersetzung gemeinverständlicher zu machen. Offenbar wurde Bergsträger nun aufgefordert, die Wilhelmshöher Anlagen poetisch zu schildern, seine Antwort ging jedenfalls dahin, er würde des Fürsten Auftrag gern erfüllen, wenn ihm die örtliche Lage der Wilhelmshöhe besser bekannt sei; einstweilen bitte er, ihn durch die Bibliothek mit guten Kupfern und Zeichnungen zu versehen. Gleichzeitig sandte er eine veränderte Fassung seines Epigramms ein:

      In Herculem Cassellanum epigramma.
        Horatius: Feriunt summos fulmina montes.

      Quem Juno in terris longo vexaverat astu,
      Hunc iam Coelicolam, Juppiter alte, petas?
      Secula nec praestet tantae virtutis imago
      Aenea vel solis exsuperanda polis?
{*)}

Nach einer Resolution vom 1. Dezember 1801 wurde das Epigramm dem Oberbaudirektor zugewiesen, womit die Sache ihr Bewenden hatte.

1802 beabsichtigte man den Lac zu vergrößern. Steinhofer berechnete die erforderlichen Kosten auf 2833 Rtlr. und machte den Vorschlag, die 60 vierzehnzölligen Eisenröhren, die den Wilhelmstaler Park mit dem dortigen Brandteich verbanden, zur Ablassung des Wassers zu verwenden. Die Absicht wurde aber wieder aufgegeben.

1803 wurde die Chaussee unter dem Steinhoferschen Wasserfall

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[260  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) 1802 wurde durch Steinhofer die dortige Viehschwemme vergrößert.}

{**) Vgl. S. 194.}

verändert und im selben Jahr auch die Kaskaden zwischen Aquädukt und großer Fontäne vollendet.

1804 gab es verschiedene Erdrutsche. 1799 war hinter dem Wohnhaus der Schweizerei Montchéri, wohin im gleichen Jahre Steinhofer die Röhrenleitungen geführt hatte,{*)} eine Terrassenmauer errichtet worden, die schon 1804 dem Einsturz drohte, abgebrochen und wieder aufgebaut werden mußte; ebenso mußte die eingefallene Terrasse an der Schaubühne bei der Löwenburg neu aufgerichtet werden, wie auch ein Erdrutsch am Schloßberg große Mühe verursachte.

Als 1804 die Trennung der drei Kasseler Ämter vom Stadtgericht erfolgte, bestimmte der Kurfürst, daß der Sitz des Amtes Bauna nach Wilhelmshöhe verlegt und dieses Amt Wilhelmshöhe genannt werden sollte. Zu diesem Zweck wurde im Ostflügel hinter dem Gasthaus, das gleichzeitig als Wachthaus diente, eine Amtmannswohnung und ein Gefängnis eingerichtet; später diente dann ein besonderer kleiner Bau hinter dem Westflügel als Gefängnis.

Die Art, wie die zur Vergrößerung des Parkes notwendigen Neuerwerbungen geschahen, zeigt, daß auch damals der einzelne Bauer privatrechtlich in seinem Besitz nicht geschützt war, sondern der Landesherr das Recht des Auskaufs, d.h. der Zwangsenteignung gegen Entschädigung ausübte, sobald er den bäuerlichen Besitz zu eigenen Zwecken, wie hier zur Erweiterung des herrschaftlichen Parkes, gebrauchte. Wie wir schon sahen, hatte die Gemeinde Wahlershausen 1768 die »Steine und das Burgfeld« (16 Acker) an Friedrich II. abtreten müssen und dafür 1783 120 Tlr. erhalten.{**)} 1787 wurde sie dann bei der Kriegs- und Domänenkammer vorstellig wegen der Gemeindeplätze, die inzwischen zum Weißenstein gezogen waren; Friedrich II. habe einen Platz am »wüsten Abhang«, worauf die Schanze Gibraltar und die Windmühle errichtet sei, ferner ein zu dem neuen Teich genommenes Stück und schließlich einen Teil des Gemeindepflanzgartens, worauf die Meierei erbaut sei, genommen; sie hätten diese Plätze willig hergegeben, erhofften nun aber eine Vergütung. Ihre zwei Jahre später an Wilhelm IX. selbst gerichtete Bitte um Schadenersatz wurde abschlägig beschieden. Inzwischen hatte die Oberrentkammer feststellen lassen, daß der Gemeinde im ganzen 10 Acker entzogen seien

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[261  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

und der größte Teil des Burgfeldes durch die fortgesetzten Fuhren unbeschreiblich ruiniert sei, trotzdem aber die Gemeinde ihre Abgiften zur Fruchtrenterei noch weiter entrichte. Als dann 1794 von dem bereits sehr verschmälerten Burgfeld 3 ½ Acker Rasen abgestochen und zur herrschaftlichen Plantage benutzt wurden, erklärte die Gemeinde, falls sie keinen Ersaz erhielte, sei sie genötigt, ihren Viehstand abzuschaffen. Durch beeidigte Taxatoren wurden die entzogenen Stücke nunmehr auf 527 Taler abgeschätzt. Nach dem Steuerkataster von 1746 besaß die Gemeinde außer Kirche und Schulhaus 64 ⅞ Acker 6 ¾ Ruten an Huterasen und Trieschern und 16 ⅜ Acker 3 ¾ Ruten an Wiesen. An Abgaben wurden außer dem sonst in die Renterei zu entrichtenden Geschoß von Vieh nur monatlich 18 Albus an ständiger Kontribution entrichtet. Unter den 64 ⅞ Ackern aber waren die 16 bereits 1768 abgetretenen Acker mit einbegriffen. Die Sachlage wurde dadurch besonders verworren, daß nach dem Steuerkatasterextrakt das Burgfeld nur mit 20 Ackern in Kontribution verhalten wurde, während es dem Augenschein nach gegen 150 Acker umfaßte. Daher konnte sich die Kammer nicht dazu entschließen, eine Bezahlung des Taxatums zu befürworten. Die Identität der Grundstücke konnte man nur an Ort und Stelle durch Vergleichung mit den beim Steuerkolleg befindlichen Karten festzustellen versuchen. Das von der Kammer um Auskunft befragte Steuerkolleg wußte nun zwar nicht anders, als daß das bisher viel zu klein katastrierte Burgfeld, wie es auf der Karte der Gemeinde zugeschrieben war, deren wirkliches Eigentum und der Irrtum dadurch entstanden war, daß der Superfizialinhalt der Gemeinheiten auf der Karte nicht ausgerechnet und von den Schätzern bei der Rektifikation nur ungefähr und sehr falsch angezeigt worden war; dagegen stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß die Gemeinde bisher beim Burgfeld und anderen großen Stücken 252 Acker 1 ⅝ Ruten zu wenig versteuerte, was nunmehr nachgefordert werden müsse. Weiter teilte das Steuerkolleg mit, daß der Landgraf abermals einen Distrikt von etwa 18 Acker Gemeinheiten – einen Triesch hinter dem chinesischen Dorf – zur Anlage der neuen Chaussee brauche und darüber schon Befehl erteilt habe, obgleich die Abgänge noch nicht gemessen worden seien. Inzwischen war die Gemeinde im Mai 1795 wieder einmal bei der Kammer vorstellig geworden, hatte im Oktober desselben Jahres ein verzweifeltes Gesuch an den Landgrafen gerichtet und sich schließlich, im März 1796,

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{*) Um dieselbe Zeit bat sie, was beiläufig erwähnt sei, ihr abgeklaftertes Buschholz auf dem unter dem Winterkasten neu angelegten Chausseeweg abfahren zu dürfen. Weil »nunmehro bey Abfahrung desselben ein jeder armer Mann seyn bisg. Holz beynahe ½ Stunde auf dem Rücken bis zur gehörigen Auf‌ladung tragen« müsse, dieses aber erbarmungswürdig sei, bäten sie um Benutzung der Chaussee; sollte beim Abfahren an dieser etwas verletzt werden, so wollten sie es wieder in den früheren Zustand zu bringen suchen.}

nochmals an die Kammer gewandt.{*} Diese aber fand sich noch außerstande, wegen Vergütung der Hutedistrikte einen endgültigen Antrag zu stellen; sie besorgte zudem, die Gemeinde möchte sich um so weniger zu gemäßigten Forderungen herabstimmen lassen, als die Anlagen auf den entzogenen Stücken bereits erfolgt und nicht mehr rückgängig zu machen waren. In einem Bericht an den Landgrafen vom 23. April 1796 wies sie deshalb auch mit erfreulicher Deutlichkeit darauf hin, daß es dienlicher wäre, zuvor die Erwerbung der Grundstücke und dann erst die Neuanlagen auf diesen vorzunehmen.

Inzwischen war eine neue Schwierigkeit hinzugetreten. Die Kuhhute der Gemeinde lag auf dem Habichtswald in der Nähe des Kohlenbergwerks. Zur Trift dorthin hatten die Hirten sich zunächst eines Gemeindetriesches beim Dorf, dann des Burgfeldes und von da der nach der Felsenburg (Löwenburg) führenden Chaussee bedient, um sodann über den Asch ins Druseltal zu gelangen. Seitdem die Chaussee und dieser Teil des Aschs mit in die Parkanlagen hineingezogen worden, war eine Verlegung der Viehtrift notwendig geworden. Der Landgraf beauftragte deshalb den Baudirektor Jussow, einen andren Weg ausfindig zu machen, auf dem die Chaussee nicht mehr von den Herden betreten zu werden brauchte. Nach einem von Jussow im August 1796 vorgelegten Plan boten sich zwei Möglichkeiten; der Weg führte entweder vor dem Burgfeld links ab durch den Wald am Hunrodsberg, zwischen dem Steinbruch und dem gerade im Bau begriffenen Reservoir am Asch hindurch über den Berg bis zur Drusel hinunter, oder aber auf der Kohlenbahn (Kohlenstraße), denselben Weg, den die Wehlheider Kühe nahmen, durch einen Teil der Dönche und durch das Bilsteiner Tal zwischen Kuh- und Brasselsberg.

Während die Verhandlungen wegen des Tausches fortgesetzt wurden, sollte außer den bereits entzogenen Plätzen (14 ⅞, A.) nach einem neuen Plan des Landgrafen nunmehr das ganze Burgfeld mit 47 A. 9 R., (worin jedoch die ebengenannten Hutereviere mit einbezogen

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{*) Da, wo jetzt der Druselbach (am Palmenbad) die Rasenallee quert.}

 

waren), und weiter die Burgfeldwiese mit 8 ½ A. 1 R. mit zu den Anlagen gezogen werden. Der Landgraf genehmigte den ihm von der Kammer gemachten Vorschlag, wonach die am Burgfeld gelegenen Wiesen des Greben Ziegler (12 ¾ A. 12 ½ R.) und des Einwohners Müller (3 ¾ A.) der Gemeinde für sämtliche abgetretene und noch abzutretende Reviere zur Benutzung als Eigentum eingegeben, jene Besitzer der Wiesen aber von der herrschaftlichen »langen Wiese« (am Fuße des Rammelsberges) entschädigt werden sollten. Die Gemeinde, die sich bereits zur Annahme der neuen Viehtrift über Kohlenbahn und Dönche verstanden hatte, war mit allem zufrieden; die Absteinigung wurde vorgenommen, und die Grenzbegehung fand am 14. Oktober 1796 im Beisein des Oberbaudirektors Jussow, des Landmessers Fichtel, des Greben Ziegler und der Vorsteher Müller und Krug statt. Sodann verfügte man sich auf den Rasenweg an den Platz, wo die neue Trift herführen sollte, und Jussow erklärte, er werde den hier notwendigen Übergang{*)} durch Anlegung zweier Chausseebrücken und eines Steinweges instand setzen. Noch während die Tauschkontrakte entworfen wurden, schien die Gemeinde ihre geschlossene übereinkunft zu reuen; am 3. November 1796 stellte sie dem Fürsten vor, sie könne die ihr zugedachten Wiesen wegen zu schlechter Hute nicht benutzen, und bat, das bereits auf der langen Wiese abgemessene und dem Ziegler und der Witwe Müller zugewiesene Äquivalent ihr, der Gemeinde, direkt zuzuerkennen. Da Ziegler auf den Tausch bereitwillig verzichtete, bot man der Gemeinde nunmehr für sämtliche zu den Weißensteiner Anlagen gezogenen, am 14. Oktober abgegangenen Stücke und die auf höchsten Befehl einzutauschende Ochsenwiese »eins für alles« 12 Acker von der herrschaftlichen langen Wiese an, worein die Vorsteher am übernächsten Tage namens der Gemeinde einwilligten. Die Grenzbegehung wurde auf den 22. November anberaumt. Von der Gemeinde bevollmächtigt, traten die beiden Gemeindevorsteher die gedachten Bezirke, nämlich

  1. das Burgfeld (49 ½ A. 8 R.),
  2. das unter dem Burgfeld liegende, wahrscheinlich zum »wüsten Abhang« gehörige Hutenrevier mit Einschluß der Leimenkaute (5 1116 A. 1 ⅞ R.),
  3. die Gemeinde-Burgfeldwiese (8 ½ A. 1 R.),
  4. die Gemeinde-Ochsenwiese (516 A. 1 ⅝ R.),
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zusammen also etwa 61 Acker, gänzlich und unwiderruf‌lich ab, nahmen mit untertänigstem Dank für die höchste Gnade Serenissimi die 12 A. von der herrschaftlichen langen Wiese dafür an, begaben sich auch ausdrücklich und feierlich aller weiteren Ansprüche und Ausflüchte und nahmen dann die überweisung der nunmehr dem Landgrafen zustehenden Ochsenwiese nach der Begrenzung vor. In bezug auf die bereits früher abgetretene Leimenkaute wagten sie noch die Bitte, der Gemeinde doch noch den bisherigen Zins bis Ende des Jahres zukommen zu lassen, was auch bewilligt wurde. Darauf wurden ihnen die 12 Acker von der herrschaftlichen langen Wiese eingegeben. Es blieben dem Landgrafen nunmehr von dieser langen Wiese noch 65 ⅞ A. 18 R. übrig, wovon aber 11 ½ A. teils pacht-, teils besoldungsweise benutzt wurden. Wegen der Hute auf der langen Wiese kam es zwischen der Gemeinde und dem Pächter der herrschaftlichen Meierei, Wittmer, noch zu langwierigen Reibereien, deren Verfolgung uns jedoch zu weit abführen würde. Nachdem die Tauschbriefe von ⅔ der Gemeinde unterschrieben waren, wurde die Versteinigung der eingetauschten Stücke vollzogen. Es blieb der Oberrentkammer noch übrig, das Steuerkolleg wegen der Abschreibung der auf der Burgfeldwiese und auf den 1 ⅛, A. von den Gemeindepflanzorten (Meiereigrundstück) haftenden Kontribution anzugeben, da das Burgfeld nicht in Kontribution verhalten wurde, sondern wahrscheinlich von den Huterevieren angerodet sein mochte. Im Januar 1799 ließ das Steuerkolleg die durch den Landgrafen erworbenen Wahlershäuser Gemeinheiten freischreiben, weil, wie die Gemeinde selbst eingeräumt hatte, diese Stücke nie Eigentum der Gemeinde gewesen waren, sondern diese Koppelhute darauf gehabt hatte.

Auch Privatgrundstücke einzelner wurden auf dem Wege der Zwangsenteignung zu den Anlagen gezogen. Soweit es sich dabei um Parkaufseher, Marställer usw. handelte, ging der Tausch glatt vor sich; so wurde 1797 der Weißensteiner Burggraf Rothe für seinen abgegebenen Garten mit zugehörigem Land und darauf stehenden 73 alten und 63 jungen Obstbäumen durch den Garten eines anderen Beamten entschädigt. Schwieriger zeigten sich auch hier wieder die Wahlershäuser. Im November 1793 forderte Wilhelm IX. unter Beifügung einer eigenhändig angefertigten Handzeichnung den Oberrentmeister Avenarius auf, eine den Wahlershäuser Einwohnern Beisheim, Wimmel und Rudolph zugehörige Erbwiese am Asch von etwas

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über 10 Acker ohne Schaden der Interessenten einzutauschen. Die verpflichteten Schätzer aus Rothenditmold machten, nachdem sie die Wiese taxiert hatten, den Vorschlag, den Besitzern, in der langen herrschaftlichen Wiese, die durch einen von den Tagelöhnern auf dem Weißenstein geschaffenen Weg an Wert verloren hatte, 14 Acker an einem Stück dafür zu geben. Die Eigentümer, von dem beabsichtigten Tausch benachrichtigt, suchten sich ihm zu widersetzen, wollten sich aber schließlich unter gewissen Bedingungen dazu verstehen. Erstens verlangten sie 13 Acker eines von ihnen selbst genau bezeichneten Stückes der herrschaftlichen Wiese mit Einschluß des von den Tagelöhnern unerlaubter Weise geschaffenen Weges. Die auf der Erbwiese bisher lastenden Abgiften sollten auf die ihnen zuzuteilenden herrschaftlichen Wiesenstücke übertragen werden. Weiterhin behielten sie sich vor, daß ihnen auch noch die zwei Fuder Stamm- und Reisholz verabfolgt würden, die sie bisher von der ihre Wiese umgebenden lebenden Hecke jährlich gegen halbes Forstgeld erhalten hätten. Laut Steuerkataster waren von der zu ertauschenden Erbwiese jährlich 15 Albus 11 Heller an die Renterei und 3 Albus 1 Heller monatlich Kontribution zu entrichten, während die herrschaftliche Wiese im Steuerbuch mit keinen Abgaben katastriert war. Deshalb fand das Steuerkollegium gegen diese Übertragung nichts einzuwenden. Auch war der Landgraf mit dem Wiesentausch einverstanden. Blieb also nur noch die Frage wegen des Brennholzes offen, und da stellte denn auf Befehl des Oberforstamtes der Förster Grau in Kirchditmold, der die drei zu sich kommen ließ, fest, daß sie das Brennholz stets nur gegen Entrichtung des vollen Forstgeldes bekommen hatten und bei Gelegenheit des Wiesentausches nur den Versuch hatten machen wollen, diese Vergünstigung »als eine besondere Gnade« zu erlangen. Ihr Begehren wurde daher als unbegründet abgewiesen. Mit der nunmehr erhobenen Forderung, ihnen gegen volles Forstgeld jährlich 2 Klafter Brennholz aus den herrschaftlichen Waldungen zu bewilligen, wurden sie auf den gewöhnlichen jährlichen Holzschreibetag verwiesen. Gegen ihre 10 ½ A. 7 R. große Erbwiese am Asch wurde ihnen dann von der langen Wiese neben dem Weißenstein ein Stück von 13 Ackern tauschweise überlassen. Ehe der Tauschbrief ausgestellt wurde, hatte Beisheim inzwischen seinen Anteil an der Erbwiese (34 A.) auf seinen Schwiegersohn Johannes Ledderhose übertragen. Das dafür eingetauschte, bis dahin zur herrschaftlichen

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langen Wiese gehörige und am nördlichen Abhang des Rammelsberges gelegene Stück – es liegt am Schnittpunkt der Ochsenallee mit dem neuen Wasserfallsgraben – befindet sich noch heute im Besitz der Familie Ledderhose.

Anfang 1796 beschloß der Landgraf, den Tiergarten nach dem Walde hin zu erweitern. Zu diesem Zweck brauchte man eine über der Fasanerie gelegene Wiese, die den Wahlershäuser Einwohnern Romeis und Joh. Henrich Müller, – die beide eine geb. Henkelmann zur Frau hatten, – gehörte und unter dem Namen »Henkelmanns Wiese« bekannt war. Der Oberrentkammer wurde anheimgestellt, die Wiese entweder anzukaufen oder einzutauschen. Als die Besizer im Juni desselben Jahres vom Baudirektor Jussow erfuhren, daß ihre Wiese bereits auf höchsten Befehl zum Tiergarten gezogen und auch schon vermessen sei, erklärten sie, daß sie sich unter diesen Umständen keine Hoffnung auf die Ernte mehr machen könnten. Sie seien dadurch in die größte Verlegenheit gesetzt, weil sie beide, in großer Armut lebend, lediglich von dem auf dieser Wiese geernteten Heu und Grummet zwei Stück Rindvieh erhalten hätten. Sie wüßten nicht, wovon sie nunmehr ihr Vieh erhalten könnten und sähen einer gänzlichen Zerrüttung ihrer ohnehin schon traurigen Vermögensumstände entgegen. Die von ihnen von der obersten langen Wiese erbetene Entschädigung möge man ihnen deshalb noch vor der diesjährigen Heuernte, die in den nächsten Tagen vorgenommen werde, zuteilen. Ein Versuch, die Wiese von ihnen zu kaufen, scheiterte. Nach der Messung enthielt sie 4 ⅜, A., wogegen sie 3 A. von der herrschaftlichen obersten langen Wiese und Übertragung aller Abgiften von jener auf diese erbaten. Bei ihrer protokollarischen Vernehmung suchte man sie nochmals zum Verkauf und dann zur Annahme von 2 A. von der herrschaftlichen Wiese zu bereden, sie gingen aber von den geforderten 3 A. nicht ab, denn ihre Wiese sei von so guter Beschaffenheit, daß sie alle Jahre zwei sehr starke Fuder Heu von bester Qualität und ein starkes Fuder Grummet darauf ernteten, und zudem hätten sie noch ein Fuder Holz jährlich von der ihre Wiese z.T. umgebenden lebenden Hecke benutzt. Wenn sich die Wiese jetzt nicht mehr in ihrem früheren guten Zustand befinde, so sei das kein Wunder; denn da sie sie nicht mehr als ihr Eigentum betrachteten, so sei sie von ihnen auch nicht mehr geschlossen und so von dem vorbeiziehenden Vieh ausgehütet worden. Aus demselben

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Grunde sei auch die Wässerung der Wiese unterblieben. Bisher hätte jeder von ihnen als einziges Rettungsmittel vor gänzlichem Untergang eine Kuh unterhalten, und sie dürften ihrer Kinder wegen den Verlust ihrer Wiese ohne Naturalvergütung nicht zugeben. So möge man ihnen denn entweder ihr früheres Eigentum wieder einräumen oder aber die erbetenen 3 Acker noch vor der Heuernte zumessen, weil die Benutzung ihrer Wiese schon in diesem Jahre für sie verloren sei. Auch beriefen sie sich auf den viel vorteilhafteren Tausch der den Einwohnern Rudolph und Beisheim entzogenen Wiese und wollten sich deshalb unter keinen Umständen zur Annahme einer geringeren Ackerzahl bereden lassen. Es kam dann zu einer Einigung, und im Mai 1797 wurde der Tauschkontrakt von der Regierung endgültig konfirmiert; für die gegen ihre Henkelmanns Wiese« von 4 ⅜ A. eingetauschten 3 A. von der langen Wiese, die vorläufig noch einem Verwalter Ziegler zustanden, wurden diesem, bis seine Pachtjahre vorüber waren, für den Acker fünf Taler an Pacht jährlich vergütet.

Auch nordwestlich vom Schloß fand eine erhebliche Vergrößerung des Parkes statt. Hier hatte, unweit des späteren Neuen Wasserfalls und an der gleichfalls später angelegten Chaussee nach Wilhelmsthal schon zu Anfang des Jahres 1783 der Geheime Staatsminister von Wittorff von den Einwohnern der umliegenden Dörfer verschiedene Wiesenstücke und ferner ein Stück der herrschaftlichen Waldung angekauft, um darauf 1784 sein Lusthaus Juliusstein zu errichten, das noch im selben Jahr unter Dach und Fach kam. Im Jahre 1785 fuhr er mit dem Ausbau dieses Lusthauses fort und kaufte ein weiteres Stück herrschaftlichen Terrains zur Vergrößerung der Anlagen an; 1788 und 1791/92 kamen noch verschiedene Erweiterungsbauten (Scheune usw.) hinzu, so daß das Ganze mit den zugehörigen beträchtlichen Grundstücken einen ganz ansehnlichen Komplex umfaßte. Der Umfang des gesamten Grundbesitzes geht sowohl aus den Steuerkatastern von Kirchditmold und Wahlershausen als auch aus den Grundzinslagerbüchern dieser beiden Gemeinden und Rothenditmolds hervor. Danach wurden von den Wittorffschen, später herrschaftlichen Grundstücken an ständigem Zins gezahlt: Wahlershausen: Von der auf die Hopfenwiese stoßenden Weinmeisterswiese, von der daneben gelegenen Pfandswiese, von zwei zwischen den Herrenwiesen gelegenen Wiesen, die dann mit Alleen bepflanzt und gegen ein

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Stück von der Kleebreite eingetauscht wurden, von der Kirlemannswiese zusammen 1 Rtlr. 3 Albus 7 ½ Hlr.; Kirchditmold: von einer Wiese in den Gerödern, von der Hälfte einer Wiese »so unterm Lingenberge an der Herrenwiese«, und von der andern Hälfte dieser Wiese »so unter dem Wald gelegen«, ferner von einer Wiese unterm Hohenroth, von einer Wiese an der Kleebreite und einer solchen »im Geroth«, zusammen 1 Rtl. 2 Albus 5 ½ Hlr.; Rothenditmold: von der »Mauerwiese an den Weißensteiner Teichen bei dem Hagen und an den herrschaftlichen Wiesen, wodurch 1709 ein Wehr oder Mühlengraben gemacht worden« 7 Albus. Die Angabe im Anhang zum Kasseler Adreßbuch von 1828, der Landgraf habe dem Minister den Juliusstein erst 1802 abgekauft, um daraus unter dem Namen Montcheri eine Schweizerei einzurichten, trifft nicht zu; das »Wohnhaus zu Montcheri« findet sich schon auf dem Schaefferschen »Plan von Wilhelmshöhe« (1800) an dieser Stelle, und bereits im Juli 1799 berichtete Kapitän Haußmann an die Oberrentkammer, er wisse »nicht anders als bloß der Sage nach, daß Se. Erz. Herr Geh. Staatsminister von Wittorff das ganze ihm gehörige Gut auf Wilhelmshöhe, so jetzt Montscheri genannt wird, Sr. Hochfürstl. Durchlaucht mit allen Ländereien, Wiesen und Garten, käuf‌lich überlassen habe«, was dann auch amtlich festgestellt wurde. Da sich Wittorff weigerte, die seit dem 1. April 1789 auf seinen Gütern haftende, vom Steuerkolleg von ihm verlangte Kontribution zu zahlen, so wird der Ankauf und Umtausch in diese Zeit zu setzen sein. Für 3 ½ Acker der Mauerwiese (»an der herrschaftlichen Mühlenwiese«), auf der dann der türkische Tempel erbaut wurde, erhielt Wittorff ein Stück von der herrschaftlichen Kleebreite eingetauscht; ein anderes Stück der Mauerwiese zwischen den herrschaftlichen Wiesen und dem Burgfeld wurde, nachdem Wittorff dafür gleichfalls ein Stück von der Kleebreite erhalten hatte, zur Anlage des Lac mitbenutzt. Das Kabinettsgut Montchéri, dessen Grundmauern noch heute unter dem Rasen zu erkennen sind, enthielt nach dem erwähnten Plan von 1800 das Wohnhaus mit Scheuern, Stallung, Pferdeschwemme und angrenzenden Anlagen, stellte also damals wohl noch den ehemals Wittorffschen Besitz dar.

Um 1805 hatte der Park mit seinen Bauten, Gartenanlagen und Wasserkünsten seinen vorläufigen Abschluß erreicht. Ungefähr lassen sich die bedeutenden Geldmittel feststellen, die der sonst so sparsame Fürst in diesen zwanzig Jahren hierfür aufwandte. Nach

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Belegen, die sich in den mir nicht zugänglich gewesenen Papieren aus dem Nachlaß des Hofbaumeisters Regenbogen befanden, waren 1791 bis 1796 für das Hauptgebäude des Schlosses 153 591 Rtlr. 8 Albus 7 Hlr. verwandt worden, 264 435 Rtlr. 6 Albus 4 Hlr. noch erforderlich, so daß sich die Kosten für das Hauptgebäude auf 418 026 Rtlr. 15 Albus 6 Hlr. belaufen würden. Desgleichen waren für die Löwenburg 1793–1796 verausgabt 58 874 Rtlr. 28 Albus 4 Hlr., noch erforderlich 112 229 Rtlr. 5 Albus 1 Hlr.; der ganze Bau würde demnach 172 509 Rtlr. 5 Albus 1 Hlr. gekostet haben. Nach den Akten des Staatsarchivs Marburg über die in den Jahren 1786–1805 zum Weißensteiner Bauwesen bewilligten Gelder wurden am 6. April 1786 für die Erbauung des Weißenstein, des jetzigen Südflügels, 50 000 Rtlr. bewilligt. Für den Gartenbau (die Erdarbeiten) wurden 1786 9100 Rtlr., 1787 8900, 1788 etwa 8200, überhaupt in den nächsten Jahren während der Wintermonate wöchentlich 100, während der Sommermonate wöchentlich 250 Rtlr. verausgabt. Für den zweiten Flügel wurden im April 1788 24 000, 1789 für beide Flügel 50 000, für den zweiten außerdem 20 000, 1790 abermals für den zweiten 40 000, 1791 für den Aquädukt, dessen Erbauung bisher aus dem Schloßbauverlag bestritten wurde, 15 000, zur Vollendung des zweiten Flügels 40 000 Rtlr. bewilligt. Seit 1793 datieren erhebliche Ausgaben für das Torps de Logis (Mittelbau des Schlosses), für das 1795 bis 1797 je 78 000 Rtlr. bewilligt wurden, aus denen auch der Löwenburgbau mitbestritten wurde; nach einer Aufstellung Jussows vom März 1797 waren um diese Zeit zur Vollendung des Hauptgebäudes noch 65 000 Rtlr., zur Vollendung der Löwenburg noch 34 000 Rtlr. erforderlich. Für 1798 wurden sogar, um die Arbeiten zu beschleunigen, wöchentlich 2000 Rtlr., mithin 104 000 Rtlr. bewilligt, 1799 bis 1801 dagegen nur je 12 000 Rtlr. Aber schon Anfang 1800 waren die Baurechnungen auf 138 215 Rtlr. 26 Albus 4 Hlr. angewachsen; der Landgraf bestimmt, daß von dieser Summe 53 858 Rtlr. 7 Albus 8 Hlr. für rückständige Rechnungen sofort beglichen wurden, der Rest von 84 357 Rtlr. 18 Albus 8 Hlr. aber (und zwar 55 209 Rtlr. für Corps de Logis, 3845 Rtlr. 18 Albus 8 Hlr. zu dessen Ausmöblierung außer den hierzu bereits bestimmten 20 000 Rtlr. und 25 303 Rtlr. zur Vollendung der Löwenburg) vom 1. März 1800 ab mit wöchentlich 1000 Rtlr. abbezahlt werden sollten. 1802 und 1803 wurden dann je 18 000, 1804 bis 1806 je 12 000 Rtlr.

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jährlich für das Wilhelmshöher Bauwesen bewilligt. Die Zahlungen erfolgten aus der Oberrentkammerkasse, die ihrerseits Zuschüsse aus der Kriegskasse und der Hanauer Kammerkasse erhielt, in dringenden Fällen geschahen sie aus dem unter vierfachem Beschluß bei der Kammerkasse vorhandenen Vorrat und aus dem Schatz im Residenzschloß. Da die einzelnen Posten vielfach ineinander greifen, lassen sich die Kosten im Einzelnen nicht bestimmen. Im Ganzen wurden nach den mir vorliegenden Rechnungen in den Jahren 1786 bis 1805 rund 1 ½ Millionen Taler verausgabt, die sich, von kleineren Bauten abgesehen, auf Schloß, Löwenburg, Aquädukt, Steinhoferschen Wasserfall, Teufelsbrücke und die umfangreichen Parkanlagen verteilen.

Es erhebt sich die Frage, wie oft der Besucher der Anlagen sich am Springen der Wasser erfreuen konnte. Zur Zeit Friedrichs II. wurden diese (S. 181) an vier Tagen des Jahres, am Himmelfahrtstag, am dritten – später war es der zweite – Pfingsttag und an den zwei Sonntagen der Herbstmesse angelassen. Seitdem mag die noch heute übliche Gepflogenheit der Kasselaner und der Landbewohner der Umgegend traditionell geworden sein, an den beiden erstgenannten Tagen mit Kind und Kegel zum Besuch der Wasserkünste hinaufzuziehen. Noch zur Zeit Wilhelms IX. (I) geben die gedruckten Führer diese vier Tage als die einzigen an, an denen die Wasser offiziell spielten, und weisen im übrigen darauf hin, daß sie auch an anderen Tagen auf Wunsch gegen eine vom Oberbaudirektor zu erlangende Erlaubnis durch den Inspektor der Wasserkünste im Verein mit dem Kaskadenaufseher angelassen würden. Unter Landgraf Friedrich II. herrschte allgemein die Ansicht, daß dies nur Fremden von gewissem Rang und auch diesen nur gegen ein Trinkgeld, nicht unter einem Dukaten, gestattet werde. Demgegenüber wird 1802 in dem zu Gotha erschienenen »Reichsanzeiger« bemerkt, daß die Wasser nicht nur an allen Sonntagen springen, sondern auch an allen andern Tagen den Fremden zugängig seien, ohne diese zu einer Geldspende an den Brunnenmeister und Aufseher zu verpflichten; der Fremde habe nur durch einen mit seinem Namen versehenen Zettel die Erlaubnis beim Baudirektor nachzusuchen, der seinerseits dann die betreffenden Beamten zum Anlassen der Wasser veranlasse. Nur die Teufelsbrücke durfte, wie wir aus anderer Quelle erfahren, nicht ohne Erlaubnis des Fürsten angelassen werden. Als Jérôme am 25. Mai 1808 von seiner ersten Rundreise durch Westfalen nach »Napoleonshöhe« zurückkehrte, verfügte er, daß

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[271  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]


Abb. 52. Oktogon und Kaskaden. Kolorierter Kupferstich von Kobold.

der Park fortab Sonntags dem Publikum offen stehen und die Wasser um drei Uhr springen sollten. In einer Beschreibung der Wilhelmshöhe aus 1828 heißt es, daß die Wasserwerke Sonntags und Donnerstags angelassen werden, außerdem »auf ausgewirkte allerhöchste Erlaubnis, wenn hohe Fremde anwesend sind.« Seit der Zeit des letzten Kurfürsten werden Sonntags sämtliche Wasserkünste, Mittwochs nur der Steinhofersche Wasserfall, Teufelsbrücke, Aquädukt und große Fontäne angelassen.

Urteile über den damaligen Park finden ziemlich häufig ihren Niederschlag in der zeitgenössischen Literatur und in der Korrespondenz einzelner Dichter. So rühmt Hölderlin, der den Sommer 1796 in Kassel verlebte, in einem Brief an seinen Bruder Karl die Anlagen und erwähnt den Besuch des Preußenkönigs. Jean Paul war 1801 in Kassel und schreibt an Christian Otto: »Über den durchaus reinen und großen Sonnenglanz der Wilhelmshöhe spreche der Teufel, der mehr Zeit hat zu malen, als die Leute, die er holt.« Auch Heinrich von Kleist, der im selben Jahre Kassel berührte, erwähnt in einem Brief die Löwenburg. Überschwengliche Worte des Lobes findet Gottlob Wetzel in seinem Buch »Fischers Reise von Leipzig nach Heidelberg«. Im ersten Band seines in die Werke nicht aufgenommenen »verwilderten« Jugendromanes »Godwi« (1801) läßt Clemens Brentano

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die Handlung teilweise in Wilhelmshöhe spielen; in einem Briefe Römers an Godwi (I. 81f.) gibt er eine von philosophischen Arabesken eingerahmte Schilderung des Parks und der Wasserkünste, die aus Anlaß der Geburt eines Prinzen (9. April 1798?) angelassen wurden:

»In den Eindrücken der Anlagen liegt Pracht, Reiz, Rührung und Beruhigung abwechselnd, und der Fehler nach meiner Meinung liegt in der zu großen Ähnlichkeit dieser Eindrücke mit dem Augenblicke und seinen Freuden, die nur einen Augenblick brauchen, es nicht mehr zu seyn. Jedes Einzelne ist nur Einzelnes, indem es das vergangene Einzelne verschluckt. Man kann hier nichts als dem Tode der Vergangenheit nachweinen, durch die Geburt der Gegenwart überrascht werden, und kommt man zu sich selbst, so ist ihr Leben höchstens noch das Nachundnach des Verschwindens. So ist auch hier durch die Zusammenstellung aller dieser Verschiedenheiten keine Gegenwart, man sieht nicht, man sieht nur nach und entgegen. Den schweigenden Geist der Musik, den mir ein marmorner Faun, der in der größten Vollkommenheit auf einem hohen Felsen zwischen Gebüschen ausgehauen ist, zu ahnden giebt, zerstört der Körper der Musik, der mir aus den Glöckchen am chinesischen Hause sinnlich entgegengaukelt. ... Eine Hütte steht vor mir, ich schreite träumend zu, trete hinein und stehe unter einem halben Dutzend alter Männer, die sich sehr ernsthaft ansehen; ich entschuldige mich, ziehe den Hut ab, sie sperren die Mäuler auf und sprechen nicht Husch fliegt dem einen ein Vogel aus dem Munde, ich schaue auf und finde mich unter einem halben Dutzend hölzerner Philosophen der Vorzeit, die zur Dauer mit Ölfarbe angestrichen sind. Platon, der den Männern mit Baßstimmen die Gefühle der lebendigen Orgelpfeifen in Rom unterschieben wollte, hatte sich ein Sperling mit allen Freuden seines Ehebetts in den offenen Mund einquartirt. Nie habe ich einen stummeren Lehrer gesehen, nie ist einem Lehrer Stoff der Selbstverleugnung und die Wahrheit so in den Mund gelegt worden. Meine verfolgte Begierde war mit dem Sperling davongeflogen, und ich nahm mir vor, mich hier keiner Laune mehr zu überlassen, weil das Ganze für Menschen erschaffen ist, die weder froh noch traurig, sondern amüsirt und zerstreut werden sollen. Ich setzte mich auf eine Bank an einer Einsidelen und sah die ungeheure Menge von Menschen um mich her wandeln, die mich in die ödeste Einsamkeit versetzten, weil sie mich alle nichts angingen. Plötzlich geschahen einige Schüsse. Es lebe der Fürst! es lebe Casimir, der Fürst! hallte die ganze Wüste wieder und strömte dem andern Ende des Gartens zu ... Ich ging ruhig den Pfad gegen die Moschee hinauf. Chinesische Brücken trugen mich über tosende Katarakte. Das ewige Stürzen, Wogen und Schäumen flieht und kömmt, in die unendliche Zeit. Ich hänge mitten darin, auf das schwache Geländer der Treppe gestützt, Tropfen spritzen mir in das Gesicht und erwecken mich aus meinem dumpfen Dahinbrüten.«

In den prächtigen Säulengängen der Moschee trifft er eine verschleierte Dame und liest mit ihr die mit goldenen Buchstaben an

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[273  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Erbprinz Wilhelm, später Kurfürst Wilhelm II., hatte sich am 13. Februar 1797 zu Berlin mit Auguste, Tochter des Königs Friedrich Wilhelm II., vermählt. Sein dritter Sohn Prinz Ferdinand wurde ihm am 9. Oktober 1806 im Königlichen Schlosse zu Berlin geboren. (Vgl. auch »Hess. Erinnerungen«, S. 160. Kurfürstin Auguste und Napoleon I.)}

die Wände geschriebenen Satzungen, um dann, während aus der Ferne das Geräusch des Volkes vor den Toren der Unterwelt (Plutogrotte) dringt, an weißen Marmorbildern vorüber mit ihr durch den Park zu dem erleuchteten Schloß zu schreiten, wo die mit Fackeln um die Wagen herumlaufenden Diener, das Rufen der Kutscher und Rollen der Wagen sie dem Alltag wiedergibt. Einige Seiten weiter heißt es:

»Gestern waren wir im großen Irrgarten, wo mir besonders der große Christoffel gefallen hat, der steht auf einem hohen Berge und guckt in die Welt hinein, und aus seinen Augen gucken wieder Leute hinaus, denn sein Kopf ist hohl und seine Augen sind ungeheure Schalousieladen. Er ist von eitel Kupfer, und wenn man lauter Pfennige davon schlüge, könnte fast jeder Bettler einen im Lande bekommen; das will was sagen! Da sind auch viele Statuen, aber sie sind alle in steinerne Betttücher gehüllt, oder unverschämt nackigt, und haben keine Augäpfel, was gegen alle Moralität und Natur ist. Wasser springt von allen Seiten, und man kann gar nicht evitiren, etwas naß zu werden. Tabak darf darinne nicht geraucht werden, auch darf man keine Stecken schneiden ... Es ist hier auch ein großer Lerm, weil der König hierher kömmt. Den ganzen Tag werden die Straßen gefegt und Lampen geschmiedet zur Illumination vom großen Christoffel, es ist ein Gepimper in der Stadt, daß man die Uhren gar nicht hört; wenn ich nur die Post nicht verhöre.«

Anfang August 1796 logierte bereits König Friedrich Wilhelm II. von Preußen auf der Rückreise von Pyrmont nach Berlin im Weißensteinflügel. Am 22. September 1798 kam die verwitwete Königin von Preußen nach Wilhelmshöhe zum Besuch der Landgräfin, am 23. wurde auf der Felsenburg zu Mittag gespeist und auch am 25. war großes Diner zu Wilhelmshöhe. Im Juni 1799 logierten dann Friedrich Wilhelm III.{*)} und Königin Luise von Preußen im Wilhelmshöher Schloß, das zwar immer noch nicht vollendet war. Auch bildete der Schloßberg nach Kassel hin noch einen wüsten Abhang. Da hier in der Kürze der Zeit eine Rasenfläche nicht mehr zu erzielen war, ließ der Landgraf durch den Pächter der herrschaftlichen Meierei, Wittmer, den Abhang beackern und mit Hafer besäen, so daß dieser noch vor dem Eintreffen des Königspaares ein grünendes Saatfeld bildete. Der Ankunft der Königin, die schon am 2. Juni erfolgt war,

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[274  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

folgte am 8. diejenige des Königs. Schon Wochen vorher waren Verzeichnisse der geplanten Festlichkeiten ausgeteilt worden. Eine ausführliche Schilderung dieser Tage bringt das Juliheft 1799 des von Bertuch in Weimar herausgegebenen, jetzt selten gewordenen »Journals des Luxus und der Moden«, dem die sich auf Wilhelmshöhe beziehenden Stellen hier entnommen seien:

»Ohnerachtet der späten Ankunft der hohen Fremden am gestrigen Abende fuhr alles gegen 9 Uhr auf einer Wurst oder voiture de conversation, der noch 2 Wagen folgten, zu den neuen Anlagen der Wilhelmshöhe, wo bis 2 Uhr des Nachmittags vom Herkules an bis zur großen Fontaine alle Wasser in Bewegung waren. Dieses bekannte große Schauspiel wurde durch Tausende von Zuschauern belebt, deren jeder sich freute, etwas Neues und Merkwürdiges vom königlichen Paare erzählen zu können. Um 4 Uhr wurde zur Tafel geblasen. Das Volk bedeckte den freyen Platz vor dem Schlosse und blieb geduldig ein paar Stunden stehn, um das königliche Paar wieder über die Communikationsbrücke gehen zu sehen, welche das Hauptgebäude mit dem linken Flügel verbindet, den die hohen Gäste bewohnen ... Nach aufgehobener Tafel ging die Königin von ihrer Schwester, der Erbprinzessin von Thurn und Taris und ihrer Schwägerin, der Erbprinzessin von Hessen begleitet, im langsamen Schritt über die obengenannte Brücke aus dem Corps de logis in ihren Flügel. Freundlich schaute sie durch die Locken, die nicht allein ihre Stirn, sondern auch ihre Augenbrauen deckten. Die hinteren Haare waren rund um den Kopf geschlagen. Der König folgte, und kurz darauf fuhr der Hof zur Schweizerey, die ehemals Juliusburg genannt wurde. Seit 5 Uhr warteten schon die Liebhaber, welche im Reithause den König des Abends mit der französischen Comödie La Gageûre unterhalten wollten. ... Von 5 Uhr bis gegen 9 Uhr mußten die Zuschauer wie die Heringe eingepreßt sitzen. So vielen Raum auch das Innere der großen Reitbahn darbot, so machte doch der Platz, den der Hof verlangte, daß 600 Billets fast zu viel für den übrigen Raum waren. Die Dekoration mit Fichtenbäumen und Gehängen war geschmackvoll und hatte weiter keinen Fehler, als die Verbreitung einer schädlich harzigen Ausdünstung, die dem Zuschauer bey der Wärme ihrer eignen sehr empfindlich wurde. Ich dachte mir anfänglich das kleine witzige Stück La Gageûre als zu unbedeutend, eine so glänzende Gesellschaft zu unterhalten; aber ich fand bey der Ausführung auf einem ländlichen Theater, daß es den Raum zwischen den Mittags- und Abendstafeln und der Spazierfahrt des Königs sehr wohl ausfüllte ... (Folgt eine Kritik der die einzelnen Rollen spielenden Dilettanten, des Frl. von Lepel, des Sohnes des französischen Gesandten Rival, des Grafen Taube und des Herrn von Apell.) ... Nach der Auf‌führung verlangte die Königin die Schauspielerinnen zu sehen. Warum der König den Schauspielern nicht dieselbe Ehre erzeigte, weiß ich nicht. Jetzt fuhr Alles wieder in die Stadt zurück. Nur die Wenigen, die noch zurückbleiben wollten, konnten die Herrschaften durch die hellen Glasthüren des Speisesaales an der Abendtafel mit Muße betrachten.«

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[275–276  Landgraf Wilhelm IX. / Kurfürst Wilhelm I., b.z. Exil. 1785–1806]

{*) Eine Kompagnie des Regiments Garde rückte vom Manöver aus sofort nach Wilhelmshöhe, um die Wache vor dem Könige zu übernehmen. Erhitzt und ermüdet kam die Truppe in frisch gekalkte Räume, mußte auch bis zum Abend in der durchnäßten Kleidung und die Nacht hindurch in den feuchten Räumen bleiben. Der Kapitän und die drei Offiziere erkrankten; während diese wieder genasen, starb der Kapitän (von Bardeleben) an Lungenentzündung. (Hessenland 1890, S. 19, Anm.)}


Abb. 53. Große Fontäne und Jussowscher Tempel. Gleichzeitige farbige Lithographie von T. G. Hammer. (Steinhofer)

{16a) Über die von Artillerieoffizieren erbauten und mit Pulver gefüllten Krater, vgl. auch Fulda und Hoffmeister, Hess. Zeiten u. Persönlichkeiten, S. 75.}

Der Verfasser beschreibt nun das Manöver, das am andern Morgen auf dem Forst stattfand,{*)} gibt eine ausführliche Schilderung der Toilette der Königin Luise und berichtet dann über die weiteren Festlichkeiten dieses und des folgendes Tages, die mit einer Illumination auf Wilhelmshöhe ihren Abschluß fanden:

»Als mein Wagen nach geendigter Oper um 9 Uhr nach der Wilhelmshöhe rollte, fing man schon an, den Weißenstein zu illuminiren. Der König genoß den schönen Anblick nicht, der mir und meinen Gefährten gegeben wurde, den Winterkasten bis auf die höchste Spitze perspectivisch zwischen der Einfassung der grünen Bäume der Weißensteiner Allee zu bewundern, weil das Schloß, worinn der König speiste, weit von der Allee entfernt liegt. Der Himmel begünstigte das erwartete große Schauspiel des Weißensteines gar nicht [276] und ließ sich vielmehr dreyerley dagegen zu Schulden kommen; einmal den hellsten Mondschein, zweytens so viel Wind, daß man Mühe hatte, die Thranlampen der Nordseite spährlich am Leben zu erhalten; und endlich eine Kühle, die den Zuschauer die süße Milde der dren verflossenen Abende von dem gestrigen Gewitter nur allzu sehr vermissen ließ. Die Wagen standen, da keiner dem andern vorfahren und alle nur bis zu einem gewissen Ziele gelangen durften, bis unten am Berge – eine Vorsicht, die den getroffenen Polizeyverfügungen sehr viel Ehre machte, denen man es allein zu verdanken hat, daß bey dem fürchterlichen Gedränge dieser Nacht kein Mensch verunglückt ist. Als Hauptpunkte der Illumination bemerkte man das Octogon mit der Pyramide, die Kaskaden, die Grotten des Neptuns und des Pluto, die Einfassungen des Platzes der großen Fontaine, auf der rechten Seite den bekannten Aquedukt, auf der linken die Löwenburg, die majestätisch von der dunkeln Waldhöhe herabnickte, deren lange Erleuchtung aber leider dem Winde viel zu sehr ausgesetzt war, als daß sie die erwartete Wirkung hatte thun können. Eine türkische Musik ließ sich bey der sogenannten Hölle hören; ein Thor mit Blaßinstrumenten war auf die eine und Prager Musikanten auf die andere Seite gestellt. Doch war diese Musik nur für die Ohren der Bergwandelnden, die Zuschauer im Grunde und am Schlosse hörten nichts davon. In dem Augenblicke, da der König aus dem Speisesaal trat, gab ein Jäger mit seinem halben Monde dem Vesuv das Zeichen zur Eruption; und überraschend war der Augenblick des Losdonnerns so wie der Anblick der Explosion. Eine Feuersäule, welche Leuchtkugeln auswarf, stieg in die Höhe, und brennende Lava floß aus der Bocca des Vesuvs herab, während des mehrere Kanonenschläge den Donner aus dem Innern des Berges nachahmten.{16a)} Der Vesuv war auf der linken Seite des Octogons grade an dem Orte des Karlsberges angelegt, wo nach Ferbers Meynung einst der wirkliche Crater des vulkanischen Gebirges sich befunden hatte. Jetzt schoß die Fontaine in aller ihrer Pracht in die Höhe. Der Glanz des fallenden Wassers, welches zuweilen der Mond sehr glücklich beleuchtete, bezeichnete die Größe und Höhe des künstlichen Wolkenbruchs am dunkeln Hintergrunde des Berges. Nun ging der Hof zu Fuße, voran zwey Fackeln, auf den Berg, die erleuchteten Anlagen im einzelnen zu schauen. Als die Herrschaften wieder auf die Schloßtreppe kamen, erwartete man die zweyte große Explosion; aber – ach! es war eine Mine gesprungen und alles lag unter einander. Einige Artilleristen litten Schaden, und der nahstehende Wald, wo trocknes Holz lag, fing an zu brennen. Diese Umstände konnten die ungeduldigen Zuschauer nicht gleich erfahren; sie warteten noch immer und wurden in ihrer Erwartung auf mancherlen Art getäuscht; ganz besonders diejenigen, welche ein eigentliches großes Feuerwerk erwartet hatten. Freylich würde die Menge einem solchen Spectakel mehr Geschmack abgewonnen haben. Aber wahr ist es, daß durch die gesprungene Mine dem Ganzen ein Schluß fehlte ... Den 12. Juni reiste der König und die Königin nach einem Deieuner dinant auf der Wilhelmshöhe Nachmittags um 2 Uhr von Cassel ab.«

Auch zu den anläßlich der Erlangung der Kurwürde 1803 veranstalteten Festlichkeiten gehörte eine Illumination des Aquädukts, der Löwenburg und des Bowlingreens.

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[277  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

{*) Eine kritische Würdigung der damaligen bedenklichen Politik des Kurfürsten versuchte neuerdings Georg Schulz, Zum Verständnis der Politik des Kurfürsten Wilhelm von Hessen Kassel im Jahre 1806. Greifswald 1908.}

Jérôme Napoléon.
1807–1813.

Die Ausführung der schöpferischen Pläne Wilhelms IX., der seit 1803 als Wilhelm I. den Kurfürstentitel trug, sollte leider bald eine jähe Unterbrechung erleiden. Nach der für Preußen so unglücklichen Schlacht bei Jena ließ Napoleon trotz dem mit dem Kurfürsten geschlossenen Neutralitätsvertrag, angeblich wegen dessen Anhänglichkeit an Preußen, Hessen besetzen.{*)} Der mit Gefangenschaft bedrohte Kurfürst mußte am frühen Morgen des 1. November 1806 heimlich das Land verlassen und gelangte auf Umwegen nach Prag. Kurz darauf verkündete ein kaiserliches Dekret: »La maison de Hesse a cessé de régner.« Durch den Tilsiter Frieden 1807 wurde Kassel Hauptstadt des neugebildeten Königreichs Westfalen und Napoleons jüngster Bruder Jérôme (Hieronymus) Bonaparte dessen König. Anfang November traf dieser mit seiner Gemahlin Katharina, einer württembergischen Prinzessin, in seinem Reich ein und hielt nach mehrtägigem Aufenthalt in Wilhelmshöhe, das nun Napoleonshöhe genannt wurde, seinen Einzug in Kassel, wohnte aber den Rest des Jahres auf »Napoleonshöhe«, da das alte Residenzschloß in Kassel durch die Kommissäre Napoleons fast vollständig ausgeplündert war.

Das wenige, was die nun folgende siebenjährige Fremdherrschaft für die Weiterentwicklung der Wilhelmshöhe leistete, wurde nach der Rückkehr des Kurfürsten zum großen Teil wieder beseitigt. Es war ohnedies von geringem Wert; weit bedeutender aber waren die Schädigungen, die Wilhelmshöhe unter Jérômes Regiment erlitt. Als bald nach dem Einzug Jérômes der Bibliotheksaal des Wilhelmshöher

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[278  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

Schlosses zu anderen Zwecken verwandt wurde, mußte Jakob Grimm, dem als Privatbibliothekar des Königs seit 1808 die aus der kurfürstlichen Hofbibliothek gebildete Privatbibliothek Jérômes unterstand, sämtliche Schränke räumen und die bunt durcheinandergeworfenen Bücher mitsamt der von den letzten hessischen Landgrafen angelegten wertvollen Kupferstichsammlung in einen leeren Bodenraum schleppen lassen. Bald darauf befahl Jérôme, einige tausend Bände nach dem Kasseler Schloß zu schaffen, wo sie bei dem großen Schloßbrand am 24. November 1811 von Leibgardisten in große Leinentücher gepackt und dann einfach auf den Schloßplatz geschüttet wurden, wobei aber nur wenige Bücher abhanden kamen. Der Hauptbestand verblieb zu Wilhelmshöhe, und noch am 19. Oktober 1812 berichtet Baron Reinhard in einem seiner geheimen Bulletins an Napoleon: »Im Schloß Napoleonshöhe befand sich die zum persönlichen Gebrauch des ehemaligen Kurfürsten bestimmte, sorgfältig ausgewählte und wertvolle Bibliothek; heute vermodert sie, in Körbe gepfercht und dem ersten besten preisgegeben, in einer Bodenkammer.«

Auch für Reparaturen auf dem Karlsberg wurde nur wenig bewilligt. Das Wenige, was hierüber zu sagen ist, mag hier gleich im Zusammenhang folgen. Zur Erhaltung des Oktogons, der Kaskaden, Röhrenleitungen und Wassergräben hatte der Kurfürst jährlich 12 000 Rtlr. bestimmt, ein Verlag, der bei der baufälligen Beschaffenheit der Anlagen aber nur selten zur Bestreitung der notwendigsten Arbeiten ausreichte. Um die Anlagen auf dem Karlsberg nicht ganz verfallen zu lassen, war deshalb häufig eine beträchtliche Mehrbewilligung erfolgt. So wurde auch 1807 in einem überschlag Jussows das weitere Anlassen der Wasserkünste von einer Mehrbewilligung von etwa 700 Rtlr. über die üblichen 12 000 Rtlr. hinaus abhängig gemacht. Die Oberrentkammer erhielt den Überschlag zunächst vom Generalintendanten mit der Auf‌forderung zurück, ihn ins Französische zu übersetzen; die später von Jussow aufgestellten Forderungen lassen fast darauf schließen, daß die erbetenen Ausgaben nicht bewilligt wurden. Anfang März 1812 war, wie Bauinspektor Bromeis dem Generalintendanten des königlichen Hauses Moulard meldet, ein Flügel der den »Ruhm« darstellenden Kupferfigur am Postament der Herkulesstatue vom Winde fortgerissen worden und auch sonst wichtige Reparaturen an den dem Einsturz drohenden Treppen und Balustraden notwendig. Um ein Gutachten ersucht, berichtete Jussow

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[279  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

(19. März 1812), die Wiederherstellung der Kupferfigur scheine ihm weniger dringend, das Gebäude habe weit wichtigere Reparaturen nötig. Erbaut von einem italienischen Architekten, der weder auf das zu verwendende Material noch auf die Witterungsverhältnisse, sondern nur auf seinen eigenen Vorteil Rücksicht genommen habe, sei es schon in seiner Konstruktion verwahrlost. Diesem Verhalten des Architekten müsse man auch den Verfall zuschreiben, in dem der Bau sich schon wenige Jahre nach seiner Vollendung befunden habe, und sein Ruin sei trotz allen Anstrengungen, mit denen man ihm entgegen gearbeitet habe, seit mehr als 60 Jahren unvermeidlich. Mit seiner Erhaltung beauftragt, habe er ihn in allen seinen Teilen untersucht und dabei die Ursache des Verfalls gefunden. Nachdem die frühere Regierung seine Herstellungsvorschläge gebilligt, hätte er auch schon mit den Arbeiten begonnen, aber seit zwei Jahren seien diese unterbrochen, und der Verfall nehme von Tag zu Tag zu; wenn man den Bau nicht völlig zusammenstürzen lassen wolle, müsse man einen Fonds bereitstellen, nach dem er seine Anordnungen treffen könne. Jussow wurde daraufhin ermächtigt, nach bestem Ermessen diejenigen Arbeiten an den Kaskaden, von deren Dringlichkeit er sich überzeugt habe, vornehmen zu lassen, dabei aber alle überflüssigen Ausgaben zu vermeiden. Gleichfalls im Frühjahr 1812 war ein Teil der Plattform des Oktogon nach Süden eingestürzt und hatte dabei das Gewölbe einer bewohnbaren Grotte (also im zweiten Stockwerk) beschädigt; Bromeis berechnete die Kosten für die Verkittung der Plattform sowie für verschiedene Reparaturen an Kaskaden, Felsen und Bassins auf 19 515 Franken. Auch hier erfahren wir von einer Bewilligung nichts, Jussow wurde von Moulard lediglich angewiesen, Vorkehrungen zur Verhütung eines weiteren Einsturzes zu treffen. Eine Berechnung Bromeis’ (6. September 1812) fordert für Reparaturen an mehreren Kaskaden und Felsen 23 821 Francs 12 Cent (6206 Rtlr. 6 Hlr.), eine weitere (10. September 1812) für Herstellung des Oktogon 112 543 Francs 68 Cent (29 308 Rtlr. 6 Albus). Aber man hatte das Geld für andere Zwecke nötiger. Etwas anderes war es, wenn es sich um die persönliche Sicherheit des Königs handelte. Während des großen Brandes des alten Landgrafenschlosses zu Kassel am 24. November 1811 erhielt Jussow, der die Löscharbeiten leitete, den Befehl Jérômes, sich unverzüglich mit diesem nach Napoleonshöhe zu begeben, um die Feuerungen im dortigen Schloß zu untersuchen.

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[280  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

{*) Gemeint ist die Löwenburg.}

Da jedoch seine Gegenwart beim Brande noch nötig war, wurde diese Untersuchung erst am folgenden Tage in Gegenwart des Staatsrats vorgenommen. Sie erstreckte sich in erster Linie auf die anstelle der früheren Öfen angelegten Kamine. Es stellte sich dabei heraus, daß durch einen bei Errichtung des Thronsaales erfolgten Abbruch die Mittelmauer gesunken war und dadurch in den in der Nähe liegenden Schornsteinen Sprünge verursacht hatte. Jérôme befahl, alle diejenigen Kamine und Schornsteine, deren Feuersicherheit in Zweifel gezogen würde, durch einen Aufbruch näher zu untersuchen und nötigenfalls die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen. Schon am nächsten Tag wurde der durch das Biegen der Balken gesunkene Kamin im Zimmer der Königin abgebrochen, und da sich hierbei die Feuergefährlichkeit der ganzen Kaminanlage herausstellte, wurden an ihr umfangreiche Veränderungen vorgenommen.

Es war mitten in dem bitterkalten Winter des Jahres 1807, als Jérôme, von Württemberg her über Marburg kommend, am 7. Dezember in aller Stille in Wilhelmshöhe anlangte. Tief ergriffen stieg er aus dem Wagen, um mit übereinandergekreuzten Armen sprachlos die ihn umgebende Winterpracht zu bewundern. Schon am folgenden Tag schrieb er an den Kaiser Napoleon, der sich damals in Italien befand: »Ich habe die Bezeichnung Wilhelmshöhe, die an den Namen des früheren Kurfürsten erinnert, umändern zu müssen geglaubt und ihm den Namen ›Napoléonshohe gegeben, der den Einwohnern zu gefallen scheint und daran erinnert, von wem ich mein Königreich habe.« Am selben Tag schrieb Katharina an ihren Vater, den König von Württemberg: »Einem meiner Zimmer gegenüber, das in der Folge mein Bibliothekzimmer sein wird, sehe ich das Belvédère, wo sich oben der Herkules und darunter der Aquädukt, zur Linken die Bärenburg{*)} und zur Rechten der Sibyllentempel befindet. All das scheint mir etwas Zauberisches zu haben, all das scheint mir schön zu sein, dagegen das Schloß ist trist und schlecht eingeteilt. Der König und ich bewohnen die Gemächer im ersten Stock des Mittelbaus. Da man große Sorge getragen hat, fast alle Möbel, Bilder und Statuen fortzuschaffen, macht das ganze Schloß einen gänzlich verwüsteten Eindruck, denn uns bleiben in diesem Augenblick buchstäblich nur die vier Wände und einige schlechte Stühle und Sophas. Nur in dem

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[281  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

großen Saal, der die beiden Gemächer trennt, hat man einige Vasen aus Marmor und Porzellan stehen lassen.« Auch in einem weiteren Brief vom 2. Februar 1808, in dem sie ihren Vater bittet, den württembergischen Architekten Thouret – denselben, den Goethe zum Schloßbau nach Weimar berief – zur Herstellung des Kasseler, Wilhelmshöher und Wilhelmstaler Schlosses zu beurlauben, heißt es: »Wir haben in Napoleonshöhe nicht die allernotwendigsten Möbel.« Nun wissen wir ja, daß auch das Wilhelmshöher Schloß schon ein Jahr vor Jérômes Ankunft den Plünderungen der Franzosen preisgegeben war, und es ist ferner anzunehmen, daß der Kurfürst zusammen mit seinen Wertsachen auch einen Teil des kostbaren Mobiliars in Sicherheit bringen ließ; hatte man doch nach vollendetem Schloßbau (1798) allein für die Ausmöblierung des Corps de logis (d.i. des Mittelbaus) über 20 000 Reichstaler verausgabt. Immerhin muß diese Versicherung der Königin als übertrieben angesehen werden, denn der Hof richtete sich gleich nach der Ankunft in Hessen im Wilhelmshöher Schloß wohnlich ein. Im Widerspruch zu dieser Briefstelle steht auch die Mitteilung eines anonym erschienenen, wahrscheinlich vom französischen Gesandten, dem Baron Reinhard, verfaßten Buches, in dem es heißt: »R. (d.i. General Rewbel) fand in den Schlössern des Kurfürsten von Hessen nur Scharteken (des antiquailles) aus der Zeit des Königs Arthus. Mit Ausnahme des Wilhelmshöher Schlosses waren alle kahl, das Residenzschloß zu Kassel unbewohnbar.«

Über die Liebesabenteuer Jérômes, deren Zeuge die Wilhelmshöhe und ihre Umgebung waren, gibt es eine ganze Literatur, und wenn auch die Schilderer dieser Orgien hierbei ersichtlich oft ihrer Phantasie die Zügel haben schießen lassen, so bleibt doch noch genug übrig, um diesem Hof den Stempel seltener Leichtlebigkeit aufzudrücken. Das Land wurde bis zum äußersten ausgesogen, um die ungeheuren Summen für die Vergnügungen des Hofes aufzubringen. Jérôme bezog eine Zivilliste von fünf Millionen jährlich, der Hof kostete aber sieben bis acht Millionen; allein das Theater verschlang jährlich 400 000 Franks. Napoleon wußte alles, blieb aber den Forderungen seines Bruders gegenüber kalt. Wenn man ihm von den trostlosen Finanzen Westfalens berichtete, pflegte er zu erwidern: »Wenn mein Bruder Geld findet, um Feste zu geben, Schauspieler, Tänzer und Marktschreier zu bezahlen, so muß er auch Geld finden, um seinen Verpflichtungen nachzukommen.« Die fast täglich an ihn

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[282–283  Jérôme Napoléon. 1807–1813]


[283] Abb. 54. Jérôme, König von Westfalen, und seine Gemahlin Katharina von Württemberg auf der Verbindungsterrasse des Wilhelmshöher Schlosses. Gemälde von F. J. Kinson, dem Hofmaler des Königs. (Museum zu Versailles.)

gerichteten, meist gar nicht oder, so weit sie nicht militärische oder diplomatische Fragen enthielten, mit lakonischer Kürze beantworteten Briefe Jérômes an den Kaiser machen einen mitleiderregenden Eindruck. Trotz alledem wuchs die Verschwendung Jérômes mit jedem Tag. Anfang 1813 brach der Kaiser die Beziehungen zu seinem Bruder gänzlich ab. Sein Minister des Auswärtigen hatte den Befehl erhalten, vom Baron Reinhard, dem französischen Gesandten am westfälischen Hof, eingehende vertrauliche Berichte über das Leben am Hof einzufordern. Diese meist recht nichtige Dinge behandelnden Berichte geben uns, trotzdem sich darin die Tendenz einer schonenden Darstellung nicht verleugnen läßt, ein ziemlich zuverlässiges Bild. Wenn allerdings Reinhard in einem dieser Bulletins das Leben im Schloß zu Napoleonshöhe schildert, – wie man um zehn Uhr aufsteht, um elf Uhr (bei gutem Wetter im Freien) frühstückt, nach dem Frühstück vor dem Schloß promeniert, um einhalb sieben diniert, um neun Uhr in den Gemächern des Königs Whist spielt oder im anstoßenden kleinen Theater Komödie hört, sich um zehn Uhr zurückzieht – und dann schließt: »Lordre et la décence règnent partout«, so klingt das abgeschmackt und widerspricht all den kleinen Skandälchen, die Reinhard mit behaglicher Breite in andren Bulletins zum besten gibt. »Ein glänzender Hof von ganz französischer Lebhaftigkeit, trotz der germanischen Mischung,« sagt der Franzose Rambaud zur Beurteilung dieser ganzen Zeit »erfüllte mit seinem Geräusche diese zu imposante Einsamkeit. Ein leichtes Völkchen, nach Vergnügen gierig, wie das im alten Versailles und doch ein wenig gemischter, belustigte jetzt diese Tritonen, Nymphen und Nereiden, die sich mitten in diesem teutonischen Tannenwalde zweifellos ganz verwiesen erschienen, wo man höchstens darauf gefaßt sein durfte, dem Gotte Thor oder dem Wolfe Fenrir zu begegnen.« Rambaud tritt dann der Neigung entgegen, die Wilhelmshöhe dieser Zeit immer als eine Art französisches Capri oder Babylon anzusehen. Die späteren Hessen hätten sich nicht genug darin erschöpfen können »immer von den Gefälligkeiten zu sprechen, die die Hofdamen ihrem jungen Gebieter erwiesen, – von den Komplotten Jérômes und seines Kammerherrn Marinville gegen die Tugend hübscher Bürgermädchen, – von den Pariser Schauspielerinnen, die Mittel fanden, sich in die Kasseler Gesellschaft einzuschleichen, – von jener diskreten und düstern Loge, die Jérôme im Theater liebte und deren Vorhänge sich manchmal in kompromittierender

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[284  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

{*) Beiläufig sei bemerkt, daß die berühmte Hortensienlaube erst aus späterer Zeit stammt. Überhaupt trägt die aus Japan kommende Hortensie ihren Namen nicht nach der Königin von Holland, der Schwägerin Jérômes, sondern erhielt diesen nach Hortense Barré, der Mätresse Commersons. (Turquan, Die Königin Hortense, I. Seite 167.) – Bei Turquan, Seite 137, ist eine Stutzuhr abgebildet, die die Königin Hortense Klavier spielend darstellt und die sich als Geschenk Hortenses an die Königin von Westfalen in deren Gemach zu Napoleonshöhe befand.}

Weise schlossen, von jenen Bädern in Kölnischem Wasser oder in Bordeaux, in denen Jérôme seine erschöpften Kräfte zu verjüngen suchte. Man muß dabei der übertreibung der Augenzeugen Rechnung tragen; in Deutschland ist die Tugend, ja selbst das Laster prüde, in der französischen Leichtlebigkeit erblickte man dort stets Korruption.«

Es wurde schon erwähnt, daß Jérôme 1808 den Park wieder allsonntäglich dem Publikum öffnete und bestimmte, daß dann die Wasser springen sollten; es war ein Akt der Dankbarkeit, denn als das Königspaar nach zehntägiger Abwesenheit nach Napoleonshöhe zurückkehrte, illuminierte die Stadt, und die Bewohner, durch Salven und Glockenläuten benachrichtigt, eilten in Scharen zum Schlosse hinauf.

Der Wilhelmshöher Sommeraufenthalt des Hofes dehnte sich oft bis in den Oktober hinein aus; 1807 war man sogar gezwungen gewesen, bis zur Jahreswende hier die Neueinrichtung des alten Landgrafenschlosses abzuwarten, und man hätte auch 1811, wie die Königin ihrem Vater mitteilt, nach dem großen Brand dieses Kasseler Schlosses den Winter im Wilhelmshöher Schloß zugebracht, wenn die Ärzte sich dem nicht widersetzt hätten; denn die dortigen Öfen waren mehr zur Zierde als zu praktischen Zwecken bestimmt. Das Innere des Schlosses wurde mit großem Luxus ausgestattet und auch die Aufrichtung eines Thrones nicht vergessen. Um die lauschigen und versteckten Partien an der Südseite des Schlosses für die oft recht galanten Abenteuer des Königs vor jedem neugierigen Auge zu sichern, wurden diese samt den kleinen Wasserfällen durch einen Zaun abgegrenzt. Während die nähere Umgebung des Schlosses keineswegs der Pflege entbehrte{*)} wurden die entfernter gelegenen Anlagen vernachlässigt; das Oktogon mit den Kaskaden ging immer mehr seinem Verfall entgegen, die meisten Parkwege machten einen unsauberen Eindruck und manche mühsam geschaffene Aussicht ließ man unbekümmert

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[285  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

{*) Da der alte Marstall 1822, wo er abgebrochen wurde, noch denselben Grundriß zeigt wie 1797, kann es sich nur um Verlängerung und Ausbau der Marstallflügel gehandelt haben.}

wieder zuwachsen. Wie überhaupt die hessischen Wälder, so erlitt auch der Habichtswald in dieser Zeit arge Verwüstungen, sein Wildbestand ging auf‌fallend zurück. Starke Sechzehn- und Achtzehnender wurden eingefangen, um auf den Parforcejagden in der Au zu Tode gehetzt zu werden. Vier solcher Sechzehnender ließ die Königin durch ihren Stallmeister Hamel für ihr Schlittengespann dressieren, mit dem sie durch die Straßen Kassels zu fahren pflegte. General Tschernitscheff nahm dieses Viergespann 1813 als Siegesbeute mit. Zuweilen fuhr man in Schlitten nach Napoleonshöhe zum Abendessen und dann unter Voranreiten fackeltragender Reiter wieder zurück. Jeder dieser Schlitten stellte irgendein Tier dar: einen Schwan, Hirsch, Löwen; die Pferde trugen reichgeschmückte Decken und auf dem Kopf einen dreifachen Federbusch, das Joch Schellenbehänge.

Um den Damen des Hofes Abwechslung zu bieten, ließ Jérôme auf dem nahen Rammelsberg durch die Garderegimenter ein Lustlager beziehen. Auch zu den glanzvollen Manövrierungen unter Jérômes oder Morios Kommando, denen fast die gesamte Residenz beizuwohnen pflegte, stellte sich der Hof bei gutem Wetter täglich ein. Kaum aber hatte Napoleon davon erfahren, als er sofort Befehl gab, solche verschwenderischen Scherze einzustellen.

Die während der französischen Zeit errichteten Neubauten haben keine nennenswerte Bedeutung. Neben dem Gasthaus wurde ein Marstall für einige hundert Pferde errichtet.{*)} Über den beiden, den Mittelbau des Schlosses mit den Flügeln verbindenden Gängen hatte sich je ein, bis dahin unbedeckter und mit Statuen verzierter Gang befunden; diese beiden Gänge wurden nun mit einem blau und weiß gestrichenen hölzernen Überbau versehen, der nördliche später auch aus Stein ausgeführt. Ferner wurde an Stelle eines zwischen Kastanienbäumen versteckten kleinen Pavillons auf der Höhe zwischen dem Schloß und dem Gasthaus für Bälle und Theaterauf‌führungen nach noch vorhandenen Entwürfen Leo v. Klenzes, des Erbauers der Münchener Glyptothek, ein steinernes Theatergebäude aufgeführt, das heute noch dort steht. In ihm wurde ein oder zweimal wöchentlich vor geladenem, mit Freikarten bedachtem Publikum gespielt; an solchen Tagen bewegte sich schon vom frühen Morgen ab eine lange Reihe

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[286  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

königlicher Equipagen zum Schloß, um das Schauspielpersonal, die kostbaren Kostüme und Dekorationen hinaufzubefördern. Dieses Theater wurde durch einen überdeckten chinesischen Gang mit dem Schloß verbunden, zu dessen vornehmem Stil er in schreiendem Gegensatz stand. Aus buntfarbigen Glaswänden gebildet, war er im Innern durch Volièren, Springbrunnen, Teppiche und reichen Blumenschmuck geziert und erstrahlte bei besonderen Anlässen in festlicher Beleuchtung. Als Garderobe, die man beim Theaterbau vergessen hatte, diente eine angebaute Bretterbude. Für improvisierte Vorstellungen war außerdem noch ein Duodeztheater in der Löwenburg eingerichtet, die vorübergehend von Jérôme bewohnt wurde, bis ihm ein unangenehmes Erlebnis für immer hier den Aufenthalt verleidete. Im Volke ging das Gerücht, daß der vertriebene Kurfürst zu Zeiten in den Räumen der Löwenburg als Gespenst umgehe. Jérôme fühlte sich über solchen Aberglauben erhaben; seitdem er aber einmal abends, als er durch das Arbeitszimmer des Kurfürsten schritt, diesen an seinem Schreibtisch hatte sitzen sehen, war er durch nichts wieder zu bewegen, die Löwenburg zu betreten. Wie man sich erzählte, war ein hessischer Kavalier in Jérômes Gefolge, der einer der Hofdamen einen nächtlichen Besuch abstatten wollte, vom König überrascht worden, hatte sich in des Kurfürsten Zimmer geflüchtet und an dessen Schreibtisch niedergelassen. So berichtet Leonhard Müller; sein Bruder Friedrich Müller, der Direktor der Kasseler Akademie, läßt Jérôme ebenfalls die gespensterhafte Erscheinung des Kurfürsten zu mitternächtlicher Stunde in den Gängen der Löwenburg begegnen, legt die Sache aber dahin aus, daß einer der französischen Kavaliere, bekleidet mit der in der Löwenburg befindlichen Uniform des Kurfürsten und sich eben jene Tradition zunutze machend, dem König absichtlich begegnete, um aus Gefälligkeit gegen eine der Hofdamen einen kleinen Racheakt an Jérôme auszuüben. Am glaubwürdigsten erscheint eine dritte Lesart. Danach hätten am Abend des 21. Februar 1810, nachdem man auf der Löwenburg mit Tournier und Illumination den Geburtstag der Königin gefeiert, die Pagen v. Wolff, v. Lehsten und andre den Einfall bekommen, die in einem Zimmer der Löwenburg aufbewahrte volle Uniform des Kurfürsten anzuziehen. Während der dem Kurfürsten an Gestalt ähnlichste noch mit Ankleiden beschäftigt war, habe man Tritte gehört, alles sei geflohen und nur der Verkleidete, vor Angst gebannt, unbeweglich zurückgeblieben. Der eintretende König habe, als

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[287  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

er den »Kurfürsten« vorgebeugt am Tische sitzend und ihm den Rücken zukehrend gesehen, leise die Tür geschlossen und sich dann wieder entfernt. Da die Beteiligten reinen Mund hielten, so sei der Vorfall nie aufgeklärt worden. So erzählt Ludwig Sigismund Ruhl, der es aus dem Munde v. Lehstens gehört haben will, v. Lehsten selbst, der in seinen »Erinnerungen« eine ganze Reihe von Pagenstreichen aufzählt, erwähnt merkwürdigerweise nichts hiervon. Jedenfalls hat Jérôme seit diesem Erlebnis die Löwenburg nicht wieder betreten. Kurz zuvor hatte er sich mit den Damen seines Hofes einen mehr als pikanten Scherz erlaubt. Durch seinen Architekten, den Hofbauinspektor Bromeis, hatte er sich am Lac unterhalb des Schlosses aus Zelttuch ein Badehaus errichten lassen, dessen Wände sich durch einen Zug an einer Schnur öffneten. Als nun die Hofdamen, einer Einladung des Königs ahnungslos folgend, zum erstenmal dieses Bad benutzten, ließ Jérôme plötzlich den ganzen Verschlag auseinanderfallen, um sich dann an der Bestürzung der entkleideten Schönen zu weiden. Bromeis soll sich durch die sinnreiche Einrichtung des Damenbades die kurz vorher verscherzte Gunst Jérômes wieder erobert haben. Er war es gewesen, der dem König für seine galanten Schäferstunden durch eine Einfriedigung von grünen, durch üppiges Gebüsch verdeckten Staketen dicht unter dem Weißenstein jenen Liebesgarten geschaffen hatte; als er nun eines Abends irgend etwas an diesen Staketen nachsehn wollte, überraschte er den König, der ihm zornig einen achttägigen Arrest auf dem Burgverließ der Löwenburg zudiktierte, die überhaupt gern von ihm zu solchen Internierungszwecken benutzt wurde. Diese ziemlich gut verbürgten Geschichten sind bezeichnend für den frivolen Ton, der am Hofe herrschte. Überhaupt glich das Leben mehr einem Karneval, der je länger je mehr auf die Bevölkerung ansteckend wirkte, und es ist kein Zufall, daß gerade damals der Karneval in der Residenz zum erstenmal auf die Straße verpflanzt wurde. Ein Fest folgte dem andren, und auch in Napoleonshöhe wurde dem staunenden Bürgersmann drunten aus der Stadt mehr als einmal ergötzliche Augenweide. Schon zu hessischen Zeiten waren wiederholt die Anlagen magisch beleuchtet worden. So hatte noch Landgraf Wilhelm IX. beim Besuch des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. an einem herrlichen Sommerabend den ganzen Wald in der Nähe des Aquäduktes und der großen Fontäne mit buntfarbigen Lampen und glühenden Fackeln erleuchten lassen. Jérôme nun ließ

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[288  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

mitten in der schneebedeckten, vom Vollmond überstrahlten Winterlandschaft auf dem Tournierplatz vor der mit bunten Lampions behangenen Löwenburg durch Kavallerieoffiziere, die als Ritter verkleidet waren, ein Tournierspiel veranstalten. Die Königin selbst verteilte die Preise. Auch hier bildete ein brillantes Feuerwerk den Beschluß; ein hochragender, künstlich aufgerichteter Baum, der über und über mit Feuerwerkskörpern versehen war, stand durch einen schwefelumzogenen Draht mit einem Fenster der Löwenburg in Verbindung. Dieser Draht, von der Königin angezündet, ließ im Nu den Baum in vielfarbigem Lichte erstrahlen. Der hervorragendste Tag des Jahres war aber das Napoleonsfest, der Geburtstag des Kaisers am 15. August, der sehr prunkvoll begangen wurde. Da der König sich um diese Zeit noch auf »Napoleonshöhe« aufhielt, hatte dieses Fest einen vorwiegend ländlichen Charakter. Die Einwohner aller benachbarten Dörfer wurden geladen und auf Kosten des Königs mit Speise und Trank aufs freigebigste bewirtet. Auf den Rasenplätzen unterhalb des Schlosses, auf beiden Seiten der Straße, hatte man für jedes Dorf ein Zelt mit einem Tanzplatz errichtet, in dessen Mitte eine geschmückte Tanne stand. Bis nach Wahlershausen herab standen Buden mit Erfrischungen, und von den zahlreich aufgestellten Kletterbäumen winkten Uhren, Tücher und andere schöne Dinge als lockende Gewinne. Zur bestimmten Stunde erschien das Königspaar auf der großen Freitreppe, um die Bauern mit Musik an sich vorbeiziehen zu lassen. Die Maires, wie die Greben damals hießen, blieben mit den Brautpaaren ihres Dorfes zurück, um in der Runde einen vom König angetrunkenen, mit Wein gefüllten Pokal zu leeren. Im Mittelpunkt der Bewunderung standen die Schwälmer, deren Brautzug unter dem Schloßportal vorgeführt wurde; den Beschluß bildete die Auf‌führung jener eigenartigen Schwälmer Tänze, die in unseren Tagen Johann Lewalter mühsam gesammelt und aufgezeichnet hat. Auch ließ man einmal einen Luftballon aufsteigen, der aber in Flammen aufging und ein hinter dem alten Treibhaus gelegenes Kornfeld in Brand setzte, so daß Chevauxlegers die brennenden Ähren niederreiten mußten. Auf der Plantage wurde zum Tanz aufgespielt, während gleichzeitig auch im Schlosse Ball stattfand, bis das Fest gegen Abend durch ein Wassertournier auf dem Lac und ein kostspieliges Feuerwerk seinen Abschluß fand. Im Jahr 1811 wurde der Tag durch große Tour und abends durch Erleuchtung der gesamten

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[289  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

{*) Ein handschriftlich verbreitetes Spottgedicht auf das Napoleonsfest ist im »Hessenland« 1889 S. 336f. mitgeteilt.}

 

»Napoleonshöhe« gefeiert.{*)} An die Auf‌führung einer neuen Oper im kleinen Theater des Kastanienwäldchens schloß sich ein Ball mit nachfolgendem großen Souper. Im selben Jahr wurde auch der Geburtstag der Königin besonders festlich durch eine große Maskerade zu Wilhelmshöhe begangen. Einer Hofquadrille hatte man die Idee der Befreiung eines orientalischen Serails aus algerischer Gefangenschaft zugrunde gelegt, wobei sechzehn in kaffeebraune Trikots eingenähte Pagen als Sklaven fungierten. Auch 1812, drei Tage, nachdem Jérôme so plötzlich wieder vom russischen Feldzug in Napoleonshöhe heimgekehrt war, wurde das Napoleonsfest in der üblichen Weise gefeiert. Allerdings war die Königin von dem Augenblick an, wo sie erfuhr, daß Jérôme den Oberbefehl über die westfälischen Truppen an Vandamme abgegeben hatte, tief niedergeschlagen. Trotzdem hatte sie sich am 29. Juli zum Besuch des Theaters in Napoleonshöhe entschlossen; als sie ihre Gemächer verlassen wollte, brachte ihr ein Kourier die Mitteilung von der bevorstehenden Rückkehr Jérômes. Sie ließ sich nichts merken, ruhig, fast lächelnd erschien sie in der königlichen Loge und blieb dort bis zum Schluß des Schauspiels. Trotz ihrer bedrückten Stimmung prüfte sie das Programm für die Festlichkeiten des 15. August, des kaiserlichen Geburtstages, und versprach ihre Anwesenheit. In der Nacht vom 11. zum 12. August wurden die Bewohner des Schlosses durch Pferdegetrappel und Waffengeklirr aufgeschreckt und glaubten im ersten Augenblick an einen neuen Aufstand der hessischen Patrioten. Es war eine Eskadron Gardes du Corps, die dem König vorangeeilt war und beim Durchzug auch die Bewohner der Stadt geweckt hatte. Die Kanonen erdröhnten, Fahnen flatterten aus den Fenstern, und die Menge wälzte sich nach Napoleonshöhe, wohin die Minister bereits geeilt waren. Drei Tage später wurde der Geburtstag des Kaisers feierlich zu Napoleonshöhe begangen. »Alle Welt, voran das diplomatische Corps, drängte sich zur Gratulation; Messe mit Te Deum, Diner, Souper, Theater folgten einander.« Ströme von Wein flossen für das Volk, man verteilte Bratwurst und Brot, Schinken und Pasteten. Aber entgegen der Etikette fand nach dem Theater kein Cercle statt, und der König zog sich vor dem Souper zurück. Die Freude schlug nur mit einem Flügel,

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[290  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

und jeder ahnte die Trauer, die sich hinter der scheinbaren Fröhlichkeit versteckte.

Von der persönlichen Gutmütigkeit des Königs zeugt ein Vorfall, der sich zu »Napoleonshöhe« abspielte. An dem am 22. April 1809 mißglückten Aufstand des Obersten von Dörnberg war auch der Friedensrichter Martin in Frielendorf stark beteiligt gewesen und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Schon war der 24. Juli als Tag der Hinrichtung bestimmt, als der verzweifelte Vater Martins, begleitet von seiner jüngsten Tochter und dem Kasseler Konsistorialrat Schnakenberg, am Nachmittag des 23. Juli nach Napoleonshöhe fuhr und durch einen Fußfall vor dem König erwirkte, daß die Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe umgewandelt wurde; diese wurde an dem Tag, an dem »Madame Mère« einfuhr, in eine einjährige Haft umgewandelt.

Wegen dieses Besuches der Madame Mère hatte Jérôme seinen Aufenthalt im Harz abbrechen müssen; der Hof kehrte unverzüglich nach Napoleonshöhe zurück, wo große Vorbereitungen getroffen wurden. Jérôme eilte ihr bis Wabern entgegen; von da bis Napoleonshöhe, wo sie am 27. August 1811 eintraf, waren die Straßen von festlich gekleideten Bauern gesäumt, in jedem Dorf wurde sie von jungen Mädchen im höchsten Staat begrüßt. Am Eingang zum Schloß stand die Garde in Treffen aufgestellt. Nach dreitägiger Erholung empfing sie das diplomatische Corps, die Minister, die Behörden, am 1. September, nachmittags ½ 5 Uhr, hielt sie ihren Einzug in Kassel; sie saß zwischen ihrem Sohn, dem »Benjamin der Napoleonischen Familie«, und der Königin Katharina, in einer vergoldeten, eigens zu diesem Zweck in Paris gebauten Galakarosse von antiker Form, deren Seitenwände ganz aus Spiegelglas bestanden; an dem Wagen hingen an allen Seiten in Weiß, Gold und Blau gekleidete Pagen, zwölf Läufer eilten mit ihren Stäben in der Hand dem Wagen voraus, der von acht weißen, bändergeschmückten und von je einem Stallbeamten geführten Pferden gezogen wurde. Vor dem Wilhelmshöher Tor wurde Lätitia unter einer Ehrenpforte von den städtischen Behörden empfangen, während 41 weißgekleidete Jungfrauen auf einem in der Eile bei der Stadt Münden geliehenen seidenen Kissen ein französisches Gedicht überreichten. Vom Schloß bis zu diesem Triumphbogen bildeten Truppen Spalier, doch die Menge durchbrach diese Kette und drängte an den Wagen heran, der nur schwer vorwärts kam. Abends

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[291  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

{*) Bruguière, nachmals Baron von Sorsum, war Nachfolger Cousin’s de Marinville und starb um die Mitte der zwanziger Jahre. Jakob Grimm, der ihn 1814 in Paris wiedersah, rühmt ihn als einen literarisch feingebildeten und freundlichen Mann. Näheres über ihn und die Beraubung des Schlosses siehe Seite 300f.}

nach dem Theater fuhr sie durch illuminierte Straßen nach Napoleonshöhe zurück. Bekannt ist ihre bei dem an einem der nächsten Tage erfolgenden Besuch des Museums getane merkwürdige Äußerung: »Ici il faut voler!«, worauf Jérôme eine in Silber gefaßte Achatdose nahm und sie seiner Mutter überreichte. Bei einem ihr zu Ehren auf Napoleonshöhe gegebenen Fest verherrlichte ein Singgedicht ihr Lob; dann folgte ein Divertissement, in dem sich allegorische Figuren vor Cybele, der Mutter der Götter und Wohltäterin der Erde, verneigten, während junge Mädchen mit Rosenguirlanden die Worte »Vive Laetitia!« darstellten. Am 6. Oktober reiste sie wieder nach Frankreich zurück.

In diesem Kometenjahr stand Napoleons Macht auf ihrer Höhe. Auch auf die Kunde vom Einzug des Kaisers in Moskau war noch der Napoleonshöher Park illuminiert worden. Napoleon forderte fortgesetzt Truppen. Im Juli 1813 hatte Jérôme, nachdem er eine Batterie leichte Artillerie geschickt hatte, in Kassel nur noch seine Garde und das dritte Bataillon Infanterie. Täglich kamen neue Konskribierte an; viele entliefen, und die Desertion verschonte nicht einmal die Posten von Napoleonshöhe. Als dann die Völkerschlacht bei Leipzig das Riesengebäude, das den Zeitgenossen auf Säulen der Ewigkeit zu ruhen schien, zertrümmerte, nahte auch in Hessen der Umschwung. Schon Ende September 1813 hatten Kosaken unter Czernischeff durch einige Kanonenkugeln, die sie den vor der Stadt erbeuteten Geschützen entsandten, den König aus seiner Residenz verscheucht; er ritt mit seinem Gefolge in einem Zuge bis Wetzlar und von da nach Koblenz. Als er dann zurückkehrte, schien dies nur geschehen zu sein, um Tag und Nacht auf schwerbepackten Wagen die Kostbarkeiten des Landes nach Frankreich schaffen zu lassen. Das Museum verlor seine besten Bronzen und sämtliche (2500) Gemmen; das Wilhelmshöher Schloß wurde nicht nur einer Reihe von Statuen beraubt, sondern es erging auch der Befehl, die wertvollsten Bücher zu Kassel und Wilhelmshöhe einzupacken und nach Frankreich zu überführen. Jakob Grimm fuhr mit Jérômes Kabinettsekretär Bruguière{*)}

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[292  Jérôme Napoléon. 1807–1813]

nach Wilhelmshöhe und suchte vor allem die auf die hessische Kriegsgeschichte bezüglichen Handschriften dadurch, daß er sie als unwesentlich hinstellte, zu retten. Daß ihm dies einigermaßen gelang, dankte er dem besonderen Interesse, das Bruguière an dem Einpacken der wertvollen Kupferstiche nahm.

Die Kunde von der Leipziger Schlacht jagte Jérôme abermals in die Flucht, und das Königreich Westfalen hatte, wie sieben Jahre vorher das Kurfürstentum Hessen, aufgehört, zu bestehen. Am 25. Oktober um 11 Uhr abends wurde Baron Reinhard nach Napoleonshöhe berufen. Ein Kourier des Generals Lefèbvre Desnouettes hatte soeben gemeldet, daß eine russische Kolonne auf Kassel losrücke, und Jérôme wollte, ehe der Rückzug abgeschnitten werden könne, versuchen, bis zum Rhein zu gelangen. In der Nacht hörte man Kanonendonner, die Russen rückten näher. Im Park von Napoleonshöhe marschierten in aller Stille die vom König bestimmten Truppen auf. In der Frühe des 26. Oktober hatte Jérôme den Offizieren der Gardegrenadiere erklärt, daß er Kassel verlassen müsse und jedem frei stelle, ihm zu folgen oder zurückzubleiben. Um zwei und um sechs Uhr hörte man abermals Kanonendonner; in der sechsten Abendstunde reiste der König, ohne Kassel zu berühren, unter militärischer Bedeckung von Napoleonshöhe ab, begleitet von den Generalen Chabert, Danloup-Verdun, Graf Wickenburg, Baron Bongars, den Grafen von der Malsburg und von Bocholtz und dem Obersten von Berger. Die Reise ging über Arolsen und Lennep nach Köln, wo er, selbst in der größten Geldnot, das Militär ohne Reisegeld entließ. Auf Befehl des erbitterten Kaisers ließ er sich in Aachen nieder, von wo er am 15. November nach Compiègne übersiedelte. Später lebte das Exkönigspaar in Triest; Katharina starb im Sommer 1835 zu Lausanne, Jérôme aber erlebte noch den Glanz des zweiten Kaiserreiches und wurde von seinem kaiserlichen Neffen zum Ehrengouverneur der Invaliden ernannt; er starb am 8. Juni 1860 und liegt im Invalidendom an der Seite des Bruders begraben, der ihn aus dem Nichts zum Könige von Westfalen gemacht hatte.

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[293  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil.
1813–1821.

Die am 5. November an allen Straßenecken Kassels angeschlagene Proklamation des Kurprinzen – sie beginnt mit den berühmten Worten: Hessen! Mit Eurem Namen nenne ich Euch wieder« – gab offiziell von der Wendung der Dinge Kunde, und am 21. November 1813 zog Kurfürst Wilhelm I. unter dem grenzenlosen Jubel der Bevölkerung durch das Leipziger Tor wieder in seine Residenz ein; das Volk spannte die Pferde vom Wagen, und kräftige Bürgersöhne fuhren ihn durch die festlich geschmückten Straßen vor das Bellevueschloß, denn das alte Landgrafenschloß war zwei Jahre zuvor durch die Unvorsichtigkeit der Franzosen zum größten Teil ein Raub der Flammen geworden. »Ich habe niemals etwas Bewegenderes und Ergreifenderes gesehen, als den Einzug der kurfürstlichen Familie,« berichtet Wilhelm Grimm. »Mir schien in diesem Augenblick, als könne keine Hoffnung auf die Zukunft unerfüllt bleiben.« Diese Hoffnung aber wurde nur in geringem Maße erfüllt, und dem Jubel folgte sehr bald die Enttäuschung, so daß es nicht an Leuten fehlte, die mehr witzig als loyal erklärten, mit Vergnügen hätten sie den Kurfürsten in die Stadt hineingezogen, aber mit noch größerem Vergnügen würden sie ihn wieder hinausziehen. Der alte »Siebenschläfer«, dessen Herz durch die Verbannung verhärtet war, suchte die sieben Jahre der verhaßten Fremdherrschaft aus der Geschichte zu streichen, indem er alles auf den Zustand von 1806 zurückschraubte und alle, auch die wirklich guten westfälischen Neuerungen, zum großen Mißvergnügen des Volkes wieder beseitigte. Der beim Militär wieder eingeführte Zopf gab dieser Reaktion auch nach außen hin Ausdruck. Dieses ganze Verhalten des geretteten Fürsten aber, um den es öde geworden war und der mit dem Kurprinzen auf einem ziemlich gespannten Fuße

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[294  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

lebte, will verstanden sein und verdient durchaus die Würdigung, die ihm etwa Ludwig Sigismund Ruhl zuteil werden ließ. Er kam in ein halb ausgeraubtes Land zurück; das Landgrafenschloß, der Sitz seiner Ahnen, glich einem Trümmerhaufen, Zeughaus und Marstall waren geplündert, Tafelsilber und vieles andere aus den Schlössern fortgeschleppt. »Dazu eine stürmisch bewegte, ungewisse Zukunft vor sich. Wohin sich sein Blick wandte, er traf nur Ruinen, und solche Eindrücke sollten ihn nicht verbittert haben?«

Schon vor der Verbannung war der Kurfürst Morgen für Morgen bei jedem Wetter nach Wilhelmshöhe geritten und hatte das gewissenhaft in seinem Schreibkalender aufgezeichnet; und am ersten Tag nach der Heimkehr galt der Besuch des alten siebzigjährigen Herrn seiner geliebten und mit Recht nach ihm benannten Wilhelmshöhe; eine mit den zurückgelassenen Schimmeln des Intendantgenerals Mr. Moulard bespannte dürftige Equipage brachte ihn hinauf. Als er den Burghof der Löwenburg betrat, meldete der alte Unteroffizier der unter Gewehr stehenden Schweizergarde in steifer militärischer Haltung vortretend: »Nichts Neues passiert!« So komisch diese alte ordonnanzmäßige Meldung nach den sieben Jahren der Fremdherrschaft anmuten mochte, sie hatte nicht so ganz unrecht, denn im Grunde war es wirklich nur die Löwenburg, von der die Zerstörung während dieser Zeit ferngeblieben war. Die Kapelle im Schloß, in der sechs Jahre katholischer Gottesdienst gehalten war, wurde am 19. Mai 1814 aufs neue feierlich eingeweiht. Daß der Kurfürst auch auf Wilhelmshöhe die Spuren der letzten Jahre möglichst zu verwischen suchte, war keineswegs zu bedauern. Nur das neuerrichtete massive Schauspielhaus neben dem Schloß blieb bestehen, und auch der bedeckte steinerne Gang zwischen Mittelbau und Nordflügel fand die Anerkennung des Kurfürsten, so daß er auch die Verbindung des Südflügels, des »Weißenstein«, mit dem Hauptgebäude in gleicher Weise herstellen ließ. Diese steinernen Bogengänge sollten fortab eine Ahnengalerie des hessischen Fürstenhauses bergen. Nach einer Beschreibung aus 1821 waren in diesem Jahr tatsächlich einige der seit 1817 gemalten Porträts schon dort untergebracht; noch 1828 hören wir, daß sich diese Ahnengalerie von Heinrich dem Kind bis auf Kurfürst Wilhelm I. in der Verbindungsgalerie zwischen Hauptgebäude und rechtem Schloßflügel befand, und erst Lobe berichtet (1837), daß sie in der 41 Fuß hohen, im Innern von zwölf freistehenden korinthischen Säulen getragenen Schloßkuppel

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[295  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]


Abb. 55. Das Chinesische Häuschen auf Mulang. Lithographie von A. Heider.

untergebracht sei, wo sie sich noch heute befindet. Da 1830 zur Einrichtung des Kuppelsaales für Schreiner-, Malerei-, Stuck- und andere Arbeiten über 1741 Rtlr. verausgabt wurden, wird zu dieser Zeit zweifellos die Unterbringung der Porträts in die Kuppel stattgefunden haben, zumal schon im Vorjahre die Verbindungsgalerien durch die Zwischenbauten ersetzt waren. Die Porträts sind von den Malern Weygandt, van der Emde, Andreas Range, Ludovico Hummel und S. Ruhl geschaffen, das Bildnis des letzten Kurfürsten, von dem Darmstädter Joseph Hartmann gemalt, wurde erst 1877 eingereiht. Zwei der Porträts, das vor Heinrich I. und dasjenige Hermanns des Gelehrten, fehlen und müssen in der Zeit von 1877 bis 1891 verschwunden sein; wahrscheinlich sollten sie ausgebessert werden und wurden dann nicht wieder eingereiht.

Alle übrigen, unter Jérôme entstandenen Veränderungen schwanden, nicht zum Schaden der Anlagen, meist wieder vom Erdboden. Der chinesische Gang, der vom Schloß zum Theater führte, wurde abgebrochen und als »buntes Glashaus«, das einen großen schmalen Saal bildete, in Mulang wieder aufgebaut. Die Einfriedigung in der Nähe des Weißensteinflügels fiel, und auch der Weg vor dem vom Kurfürsten geschaffenen Bowlingreen wurde dem Publikum, selbst für Wagen und Reiter, wieder freigegeben. In erster Linie genossen

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[296–297  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]


[297] Abb. 56. Jussowscher Tempel bei der Großen Fontäne. Im Hintergrund der Aquädukt.

wieder die Studenten die ausgiebigste Freiheit, die besonders zu Pfingsten, viele von ihnen mit dem Eisernen Kreuz geschmückt, aus Marburg und Göttingen herüberkamen. Es muß hier hervorgehoben werden, daß Wilhelm I. in jenen Jahren der Demagogenriecherei wohl der einzige deutsche Fürst war, der den Studenten nicht mit Mißtrauen begegnete. Zum Beleg diene die anschauliche Schilderung, die Friedrich Müller über den Besuch der Wilhelmshöhe durch die Studenten in seinem Buch »Kassel seit siebzig Jahren« entwirft.

»An jedem Pfingsttag«, heißt es da, »strömte die ganze Studentenschaft von Göttingen, Marburg und Gießen dahin; auch Jena und Halle stellten ihr Contingent. Man hat zuweilen nahe an zwei Tausend gezählt. Am ersten Festtage wurde in der Carlsaue commercirt, und am zweiten ging es zu Wagen, zu Pferde und in hellen Haufen zu Fuß nach Wilhelmshöhe. Dort erschallten dann von allen Höhen und aus allen Schluchten der herrlichen Parkanlagen die jugendfrischen Lieder der fröhlichen Burschen, das Gebrause der Wasserkünste übertönend. Das Aufsteigen des mächtigen Strahls der Riesenfontaine begrüßten sie mit stürmischen Vivats und lagerten sich dann zum Schlusse auf dem sonst vor einem jeden Betreten bewahrten Bowlinggreen. Der Kurfürst gab sein Wohlgefallen daran durch sein Erscheinen in ihrer Mitte, begleitet von seinem Hofstaate, zu erkennen. Nach allen Seiten nickte er freundlich, wenn er zum Danke für seine Leutseligkeit mit »Heil Kurfürst Dir« angesungen wurde. Niemals ließ er sich durch den studentischen Uebermuth beirren, selbst nicht einmal dadurch, daß derselbe seine Liebhaberei am Zopfe in drastischer Weise verhöhnte. Viele Studenten hatten sich Riesenexemplare zugelegt und nicht wenige trugen zwei Zöpfe. Einer erschien sogar mit einem in solcher Länge, daß ihn zwei andere Burschen wie eine Schleppe ihm nachtragen mußten. Man sah darin nichts anderes als einen Fastnachtsscherz im Sommer.«

Als die Hof‌leute einmal eine polizeiliche Beschränkung dieses frohen studentischen Treibens bei ihm zu erwirken suchten, lehnte dieser fürstliche Rechenmeister das einfach mit den Worten ab: »Jeder dieser jungen Leute bringt nach Kassel eine oder zwei Karolin und läßt sie hier zurück; das kommt meiner Bürgerschaft zugute. Wenn sie eingeschränkt werden, kommen sie nicht wieder.« Köstlich hat uns Ernst Koch in seinem »Prinz Rosa-Stramin« den Ritt zweier Göttinger Studenten zum Besuch der Wilhelmshöher Wasserkünste geschildert, und auch Franz Dingelstedt gibt uns in seinem »Wanderbuch« eine humorvolle Darstellung eines zweiten Pfingsttages auf Wilhelmshöhe. Mit der zunehmenden Berühmtheit der Wilhelmshöhe wuchs auch der Fremdenzudrang. Immer noch war der Kurfürst rastlos mit der Verschönerung seiner Anlagen beschäftigt. Unter bedeutenden Kosten [297] ließ er Oktogon und Kaskaden wieder instand setzen. Neu erstand die halbkreisförmige Platohalle am Bowlingreen, die wir nicht mit der unter Friedrich II. in der Nähe des Merkurtempels errichteten und jetzt verschwundenen Eremitage des Plato verwechseln dürfen, ferner neben der großen Fontäne nach einem Plane Jussows jener schöne runde Tempel, dessen Kuppel von korinthischen Säulen getragen wird. \

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[298–299  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

{*) 38 der entführten Gemälde, darunter die vier Tageszeiten von Claude Lorraine, eine heilige Familie von da Vinci, die Kuh von Potter, die noch heute eine Zierde der Petersburger Eremitage bilden, wurden von der Familie Beauharnais zusammen mit drei Marmorstatuen Canovas für 40 0000 Rubel an den Kaiser von Rußland verkauft und waren nicht wiederzuerlangen.}

{*) Der Architekt Grandjean de Montigny zu Paris war 1808 auch zum Bau des Ständesaals im Museum nach Kassel berufen worden.}

Von den aus dem Wilhelmshöher Schloß nach Frankreich verschleppten Kunstschätzen konnte nur ein Teil wiedererlangt werden. Als am 31. März 1814 die Verbündeten in Paris eingezogen waren und Napoleon seines Thrones verlustig erklärt hatten, wurde eine kurhessische Kommission nach Paris geschickt, um die geraubten Schätze zurückzufordern. Sie setzte wenigstens die Rückgabe der von Jérôme bei der Flucht aus den Schlössern und dem Museum mitgenommenen Stücke durch, und den Bemühungen des damals in Paris weilenden Jakob Grimm gelang es, einen großen Teil der Bücher und Kupferstiche der Wilhelmshöher Schloßbibliothek zu retten und in 16 Kisten nach Kassel zurückzuschicken. Dabei war es ihm ein hoher Genuß, sich von demselben Diener, der seinerzeit den Raub einpackte, beim Wiedereinpacken bedienen zu lassen. Nachdem im September 1815 von den durch Lagrange in Kassel geraubten 299 Gemälden 273 abgeliefert waren,{*)} setzte Jakob Grimm im Verein mit dem Maler Unger noch die Rückgabe weiterer 16 Bilder durch. Es war ein Festtag für die ganze Stadt, als die mit den wiedergewonnenen Kunstschätzen beladenen und mit Blumen geschmückten Wagen in Kassels Mauern einzogen. Für seine anstrengende und entsagungsvolle Pariser Tätigkeit fand Grimm wenig Anerkennung; wir wissen nicht einmal, ob er, der für Quartier und Kost in seiner Rechnungsanlage nichts angesetzt hatte, die für seinen 63tägigen Aufenthalt erbetenen Diäten von 756 Franken erhalten hat.

Trotzdem blieb noch so manches unwiederbringlich verloren. Besonders schwer war das Wilhelmshöher Schloß heimgesucht worden. Nach einem handschriftlichen Verzeichnis vom 1. Januar 1819 fehlten an diesem Tage noch 299 der aus der Schloßbibliothek mitgenommenen Bücher. In einem andern, 1817 aufgestellten Verzeichnis heißt es:

»Folgende Statüen und Gruppen fehlen nach dem lezten Inventario von 1801 und sind in der westphälischen Raubperiode fortgeschleppt:

  1. Pygmalion,             [Nasenklammer von 1. bis 5.] en biscuit.
  2. Henri IV. und Sully,
  3. Der Raub der Sabinerinnen,
  4. Die Jahreszeiten, 5 Figuren,
  5. Venus peitscht den Amor mit Rosen, [299]
  6. Das Mädchen von Sans-souci, in Bronze.
  7. Eine liegende Venus mit Cupido, von Marmor.
  8. Amor und Psyche, in Gips.«

Dagegen waren 23 marmorne und bronzene Stücke wieder zugegangen. Über den besonders schmerzhaften Verlust des »Mädchens von Sansouci« befindet sich in den Akten ein Brief des Oberhofrats Voelkel, der die ihm unterstellten Kunstsammlungen nach besten Kräften zu verteidigen gesucht hatte, an den Kriegsrat Gottsched, dem die Hofbibliothek unterstand:

        »V. V.
Das sogenannte Mädchen von Sans-Soucy die verkleinerte Copie einer antiken marmornen Figur, welche der König Friedrich II. von Preußen vom Cardinal Polignac gekauft und in Sans Soucy hat aufstellen lassen ist auf allerhöchsten Befehl nebst mehrern andern kleinen Statuen von Marmor und Bronze im Museum im November 1800 nach Wilhelmshöhe abgeliefert und im Westphälischen Zwischen Reich nicht wieder zurückgegeben worden. Da es sich weder im Bel Etage des Corps de Logis noch irgend sonst wo findet, so muß es 1813 fortgeschleppt worden seyn. Hätte ich 1814, wie ich zu Paris war, davon gewußt, so würde ich von Grandjean{*)} oder Boucher dort leicht haben erfahren können, wohin es gekommen ist. Das Original, welches mit den übrigen Preußischen Antiken im alten Louvre stand, ist nun wieder zu Berlin, die hiesige Copie wird schwerlich an ihren vorigen Platz zurückkehren.
        Ew. Wohlgeb. erinnern sich übrigens, wie aus allen Orten und von allen Seiten Tausenderley zusammengebracht wurde, was nur irgend zur Auszierung des hiesigen Schlosses tauglich war. Nicht lange vor dem Regifugium wurden noch alle bronzenen Büsten aus dem Museum abgefordert, glücklicherweise aber sind sie hier zurückgeblieben und stehn wieder an ihrer Stelle. Catherine von Wirtemberg verlangte selbst einen Tisch von commisso aus dem Musiv Cabinet in das Schloß, den sie aber nicht erhielt. So mußte ich nur immer wegen Verminderung des Vorräthigen besorgt seyn, an die Vermehrung desselben dachte man nicht.
        Mit vollkommener Hochachtung
        Ew. Wohlgeb. gehors. Dr. Voelkel.
        Cassel, den 23. Aug. 1817.«

Voelkel erhielt den Befehl, durch Korrespondenz den Aufenthalt der Statue ausfindig zu machen, was ihm aber nicht gelang. Einige Tage später wurde dann das Verzeichnis der zu Wilhelmshöhe befindlichen marmornen und bronzenen Statuen, Vasen und Gruppen aufgestellt,

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[300  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

{*) Man vergleiche damit die heutigen Preise! 1905 wurden auf einer Versteigerung in London für »die drei Bäume« 6800 M. gezahlt. Dasselbe Blatt ergab, als etwa 1893 die Holfordsammlung Rembrandtscher Radierungen unter den Hammer kam, nur 3400 M., andere Blätter derselben Sammlung dagegen bedeutend mehr, so das Hundertguldenblatt, von dem schon 1867 ein schöner Abdruck zu 27 500 Francs versteigert wurde, 35 000 M., zwei andere Blätter sogar 39 000 und 40 000 M.}

{**) Vgl. Seite 291.}

{***) R. Steig, A. von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. III, 1904 Seite 280.}

das 60 Nummern umfaßt; ein darin liegender, vom Burgvogt Steitz mit Bleistift beschriebener Zettel führt außer zwei Gipsbüsten noch 18 Marmorbüsten der Bonapartischen Familie auf (Bonaparte 4, Mutter 1, Jérôme 4, Joseph 1, Louis 2, Felix 1, Schwestern 4, gewesene Königin 1).

Dem Beispiel Jérômes in der Beraubung des Wilhelmshöher Schlosses scheinen auch seine Hofbeamten gefolgt zu sein. Über einen solchen Fall belehrt uns ein auf Grund der Aussagen des Burgvogtes Steitz aufgenommenes, zur ehemaligen Wilhelmshöher Schloßbibliothek gehöriges Protokoll:

        »Actum Whöhe. d. 6ten Septbr. 1818.
Erklärte der Burggraf Th. Steiz zu Whöhe folgendes: Im J. 1813 vor seiner Versetzung nach Corvey, als der König Hieron: nicht zu Wlhlshöhe gewesen wäre, hätte der Cabin. Secret: Bruguière die Samml. d. Kupferstiche von Rembrandt von ihm begehrt. Burggraf Steiz hätte dieses, nach dem vorhin erhaltenen Befehl, ohne einen Bon oder Bescheinig. vom Grand Marechal verweigert. Bruguière hätte darauf erwiedert, »es bedürfe deshalb keines Bons«, wäre darauf selbst in die Kuppel des Schlosses gegangen, wo die Bücher der Bibl. sämtl. hingebracht worden, hätte die Rembrandt-Samml. daselbst geholt. – Steiz hätte gesehen, daß er sie unter dem Arme gehabt, habe sie mitgenommen und nicht wiedergebracht. Diesen Vorgang könne Steiz beschwören – diese Samml. der Rembrandt Kupfer sey wenigstens 400 Ld’or werth zu schätzen;{*)} und wenn Bruguière behaupten wolle, daß diese Samml. an den König gegeben worden sey, so hätte sie auch mit den übrigen an Hieronymus abgegebenen und von diesem in Paris zurückgegebenen Büchern von Werth wieder zurückkommen müssen, welches aber nicht der Fall sey. Es wäre dieses ein Diebstahl, den man durch Bekanntmach. in öffentl. Blättern laut mach. u. rüg. müsse.«

Das trübe Licht, das dieses Protokoll auf den Charakter Bruguières wirft, steht in auf‌fallendem Gegensatz zu der Hochachtung, die Jakob Grimm für diesen Hofbeamten Jérômes hegte und mehrfach bekundete;{**)} auch in einem Brief an Achim von Arnim{***)} vom

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[301  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

{*) Deutsche Rundschau 1883. Zeitschr. f. hess. Gesch. n. F. 9, S. 249f.}

17. November 1813, also bald nach der Flucht der Franzosen, schreibt er, nachdem er den König und seinen Hof charakterisiert, in bezug auf Bruguière: »... der einzige, den ich als einen braven und mir besonders gütigen Mann achtete und mit dem ich eigentlich zu thun hatte, war in der letzten Zeit abwesend, sonst wüßte ich unter allen Vornehmen und Geringen keine Seele, die ich geachtet oder jetzt bedauert hätte.« Wollen wir trotzdem, gestützt auf das Protokoll, den Verdacht des Diebstahls auf Bruguière ruhen lassen, so findet auch die Bemerkung Dunckers{*)} in einem Aufsatz über das Schicksal der Kasseler Kunstschäze während der westfälischen Zeit vielleicht durch die Aussage des Burgvogtes Steitz eine Erklärung; Duncker hebt die erfolgreichen Bemühungen Jakob Grimms um die Rückgabe der aus der Wilhelmshöher Bibliothek entführten Bücher und Kupferstiche hervor und fährt dann fort: »Trotzdem gelang es ihm nicht, Alles zu retten: die zahlreichen Radierungen Rembrandts, die eine der größten Zierden der Wilhelmshöher Sammlung gebildet hatten, waren und blieben verschwunden.« Heute läßt sich der Verbleib der Sammlung schwerlich noch feststellen, war doch schon 1814 und 1815 so manches nicht wieder aufzufinden gewesen.

Steitz, ein ehemaliger Feldwebel der Leibkompagnie der Garde, der schon unter Landgraf Friedrich II. als Burgvogt angestellt und auch unter Jérôme Schloßinspektor zu Wilhelmshöhe geblieben war, spielt in der Tradition bei der Bergung und Rettung des kurfürstlichen Schatzes kurz vor der Okkupation eine große Rolle. Danach habe der Kurfürst durch den Hauptmann Mensing seinem Hofagenten Mayer Amschel Rothschild zu Frankfurt a./M. sieben Millionen Taler zur Aufbewahrung übergeben lassen, die übrigen 21 Millionen nebst zahlreichen Pretiosen seien vom Burgvogt Steiz im Einverständnis mit seinem Herrn in der Kuppel des Wilhelmshöher Schlosses eingemauert worden. Zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt aber habe Jérôme plötzlich befohlen, eine mit dem goldgestickten N. geschmückte Fahne auf der Schloßkuppel anzubringen. Die Fahnenstange hätte mit ihrem unteren Ende grade in den Raum eingelassen werden müssen, in dem sich die verborgenen Millionen befanden, und nun habe Steitz in größter Bestürzung in der folgenden Nacht durch zwölf Maurer des benachbarten Dorfes Wahlershausen den Schatz von neuem, und zwar unter

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[302  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

{*) R. Ehrenberg, Große Vermögen, ihre Entstehung und ihre Bedeutung. I. 2. A. 1905. Seite 53.}

{**) T. Scherer im Euphorion 1898. Seite 502f.}

der Freitreppe des nördlichen Schloßflügels einmauern lassen; als auch dieses Versteck keine Sicherheit mehr bot, sei ein höherer französischer Beamter mit einem, dem Schatz entnommenen Goldservice bestochen und nun alles auf einem königlichen Wagen über die Fulda dem Kurfürsten nach Prag zugeführt worden. Die ganze Erzählung klingt aus mehr als einem Grunde sagenhaft; immerhin mag der Schatz kurze Zeit unter der Kuppel verborgen gewesen sein, wurde aber dann wohl schon bald unter Beihilfe des Burgvogts Steitz, höchstwahrscheinlich durch den Hauptmann Mensing fortgeschafft. In das tiefe Dunkel, das über der ganzen Angelegenheit schwebte, hat zum erstenmal Hugo Brunner Licht gebracht, ganz wird es wohl nie mehr aufgeklärt werden. Nach einer anderen Angabe wurden unzählige goldene und silberne Tafel- und Luxusgeschirre des Kurfürsten in Sababurg und Wilhelmshöhe in der Erde vergraben und an letzterem Ort zufällig durch westfälische Polizeiagenten zwei dieser Gruben aufgefunden und ihres Inhalts beraubt. Sicher wissen wir nur, daß das kurfürstliche Silbergeschirr in 42 Kisten in den unterirdischen Gewölben des alten Jagdschlosses Sababurg im Reinhardswald vermauert war, bald aber entdeckt wurde und den Franzosen ausgeliefert werden mußte. Fest steht ferner auch, daß der Kurfürst eine bedeutende Summe Mayer Amschel Rothschild anvertraute, der in seiner Eigenschaft als Oberhofagent des Kurfürsten den Grund legte zu der späteren Größe dieses Frankfurter Bankhauses. Dieser war klug genug, das Geld nicht in Frankfurt zu behalten. »Mein Vater,« so erzählte später Nathan Mayer, der Londoner Sohn des alten Rothschild, sandte mir das Geld nach England. Ich erhielt plötzlich 600 000 Pfund Sterling mit der Post und verwaltete die Summen so gut, daß der Kurfürst mir später seine sämtlichen Vorräte an Wein und Leinen schenkte.«{*)}

Daß die Vermehrung der Wilhelmshöher Schloßbibliothek nicht wahllos geschah, sondern durch den Geschmack des Kurfürsten bestimmt wurde, zeige folgendes:{**)} Der Kurfürst hatte 1819 das Verlangen geäußert, die Quartausgabe des »Römischen Carneval« mit ausgemalten Kupfern der Bibliothek einzuverleiben. Goethe übersandte daraufhin dem Verwalter der Bibliothek, Kriegsrat Gottsched, das

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[303  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

einzige Exemplar, das ihm noch übrig geblieben war, und beantwortete in einem weiteren Schreiben den Dank des Kurfürsten. Beide Briefe Goethes befinden sich noch jetzt als Einlagen in der 1789er Ausgabe von Goethes »Römischem Carneval« in der Schloßbibliothek.

1819 bestimmte der Kurfürst, daß die mit dem von Dallwigkschen Gut zu Hoof von ihm angekauften Zins- und Zehntrevenüen zu Hoof, Breitenbach und Elmshagen bei der Renterei Wilhelmshöhe erhoben werden sollten. Da es dieser zur Aufbewahrung der Früchte an einem Lokal mangelte – der Rentereibeamte wohnte im Tanzsaalgebäude neben dem Gasthaus – trat das Oberhofmarschallamt einen schon 1817 der Renterei eingeräumten Boden auf dem linken Flügel des Marstalls zur Aufschüttung von etwa 60–80 Viertel Frucht ab.

Unter Kurfürst Wilhelm I. wurde auch der kleine Friedhof unterhalb Mulang am südöstlichen Ende des Lac angelegt, und zwar, wie die auf der Innenseite der Umfassungsmauer angebrachten Inschriften besagen, 1820. In diesem Jahre wurde der Friedhof offenbar von der Steinmauer eingefriedigt; die bei der ersten Bestattung erfolgte Einweihung geschah, wie das im Archiv der Stadt Kassel erhaltene Konzept einer Leichenrede verrät, bereits 1817. Damals wurde der Friedhof mit einer blühenden Hecke gesäumt.

Nur noch sieben Jahre sollte sich Wilhelm I. nach der Rückkehr aus der Verbannung seiner Schöpfung erfreuen. Im Alter von 78 Jahren starb er am 27. Februar 1821. Aber nicht am Ruheplatz anderer Toten wollte er begraben sein, sondern oben in der waldumrauschten Einsamkeit seiner Löwenburg, in deren Kapelle er sich schon bei Lebzeiten die Ruhegruft erbaut hatte. Punkt 1 seines von ihm am 16. Oktober 1819 eigenhändig vollzogenen und bei der Regierung hinterlegten Testamentes beginnt:

»Nach Unserm in Gottes Händen stehenden, von des Allmächtigen grenzenloser Gnade zu hoffenden seeligen Ableben soll Unser verblichener Leichnam in der auf der Löwenburg zu diesem Ende von uns in der dortigen Kapelle angelegten Gruft beigesetzt werden, woben wir jedoch alles unnötige große Gepränge vermieden wissen wollen, indem, wenn wir auch dereinst nicht mehr sind, die stille Thräne des Redlichen Unser Andenken mehr ehren kann als alles dieses ...«

In Punkt 22 des Testamentes heißt es:

»Endlich verordnen Wir annoch hierdurch, daß zu Wilhelmshöhe auf der Löwenburg ein Burgvogt mit dem dermaligen Gehalt angestellt sein und sodann ein Unteroffizier und Neun Mann Invaliden von der Garde du Corps und

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[304  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

{*) über einen unbeabsichtigten Pagenstreich Albrechts von Bardeleben und Adolfs von Bork am Katafalk vgl. Hessenland 1891, Seite 97.}

von der Leib-Grenadier-Garde fortwährend daselbst die Wache haben sollen, welchen Wir außer der ihnen einzugebenden freien Wohnung eine monatlich aus unserer Kriegskasse zu verabreichende Pension von Sechs Rtlr. für den Unteroffizier und Vier Rtlr. für den Gemeinen ausgesetzt haben und bestimmen.«

In der Nacht des 13. März fand der feierliche Transport der Leiche aus dem Bellevueschloß zu Kassel nach dem Schlosse zu Wilhelmshöhe statt. Reitknechte mit Fackeln eröffneten und schlossen den Zug. Der achtspännige Leichenwagen, dem mehrere vierspännige Kutschen mit den Leibärzten, den Kammerherrn und Oberhofchargen vorausfuhren, war von einem Zug Gardehusaren eskortiert. Gleich den Reitknechten trugen auch die auf den Wagen stehenden Lakaien Wachsfackeln. Der Sarg wurde unter Zeremoniell im Mittelsaal des Schlosses aufgebahrt.{*)} Eine nie gesehene Pracht wurde bei der am Mittag des 14. März erfolgenden Überführung der Leiche nach der Löwenburg entfaltet – der »Leichenweg« wird noch heute nach dem Zug genannt, den der Kondukt genommen. Fast die gesamte Garnison war auf den Beinen. Auf dem Plateau unterhalb der Kaskaden war eine Batterie Artillerie aufgepflanzt; die Löwenburg, von deren Zinnen eine schwarze Fahne wehte, war vom Jägerbataillon besetzt, während drei Bataillone Infanterie und das Schüzenkorps Spalier bildeten. Eröffnet wurde der Zug durch die Avantgarde reitender Schützen und des Leibdragonerregiments. Die Garde du Corps und die Gardehusaren eskortierten den von acht Pferden in schwarzen Samtdecken gezogenen Leichenwagen; jedes dieser acht Pferde wurde von einem Stallmeister geführt, die Zipfel des Leichentuches wurden von vier Generälen gehalten, während Orden, Zepter, Krone und Schwert von Angehörigen der hessischen Ritterschaft getragen wurden; besondere Aufmerksamkeit erregte ein Ritter in schwarzem Harnisch auf schwarz gepanzertem Pferd, der dem Leichenwagen vorausritt; hinter dem Wagen führten zwei Stallmeister das Trauerpferd; dem neuen Kurfürsten und den übrigen Fürstlichkeiten folgten in unabsehbarem Zuge die Minister, Gesandte und Vertreter der Behörden, der Akademie, des Magistrats usw., den Beschluß bildete das Husarenregiment. Als der Zug die Löwenburg erreicht hatte, wurde diese von Militär umstellt; das Gefolge betrat den Burghof und die Fürstlichkeiten beschritten die Kapelle, wo nach der Leichenrede des Generalsuperintendenten

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[305  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil. 1813–1821]

Dr. Rommel der Sarg in die Gruft unter dem Sarkophag versenkt wurde; gleichzeitig erdröhnten von den Kaskaden her Kanonenschüsse, während die Infanterie Gewehrsalven abfeuerte.

Nachdem der Sarg hinabgesenkt war, wurde die Gruft vermauert, und kein Sterblicher hat sie seitdem betreten. Wenige Tage nach der Bestattung des Kurfürsten folgte der schwarze Ritter«, der Hof- und Jagdjunker Ludwig von Eschwege, seinem Herrn in den Tod nach. Das Volk sah darin eine Bestätigung der Tradition, wonach der Trauerritter jedesmal der erste sei, der nach dem Landesherrn vom Tode ereilt werde. Um seinen Tod rankten sich alsbald die sonderbarsten Gerüchte. Am Tage vorher war nicht nur im elterlichen Hause des jugendlichen Totenritters zu Reichensachsen an der Werra dessen lebensgroßes Bild im Wohnzimmer ohne irgend welche Berührung von der Wand und der betrübten Mutter zu Füßen gefallen, sondern es sollte sogar beim Fallen eine darunter stehende Tasse zertrümmert haben, die mit Ansichten von Wilhelmshöhe geschmückt war; aber weder dieses böses Omen noch die Bitten der Mutter hätten den jungen Offizier von seiner Pflicht als Kavalier und Soldat abhalten können. Natürlich hat der betrübliche Vorfall eine einfache Erklärung. Der an sich schon kranke junge Mann hatte, als er erhitzt und von der schweren Last der alten Rüstung erschöpft war, das Visier geöffnet, um die erquickende kalte Luft einzuatmen, während der Sarg in die Kapellengruft gesenkt wurde. Diese Unbesonnenheit wurde ihm zum Verhängnis. Mit Kraft und Anstand führte er zwar den Zug noch zum Schloß zurück, war aber allen ärztlichen Bemühungen zum Trotz nach sechs Tagen eine Leiche.

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[306  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

Kurfürst Wilhelm II.
1821–1831 (1847).

Kurfürst Wilhelm II., seit 1797 mit der Schwester König Friedrich Wilhelms III. von Preußen vermählt, stand im 44. Lebensjahr, als er seinem Vater in der Regierung nachfolgte. Die zehnjährige Dauer dieser Regierung gereichte weder dem Lande zum Segen, noch dem Fürsten zur Freude. Nicht nur seine politischen Maßnahmen, sondern vor allem sein Verhältnis zur Gräfin Reichenbach erbitterte das Volk, das mit großer Liebe an der schwer beleidigten Kurfürstin Auguste hing, in steigendem Maße. Fortgesetzte Drohbriefe, deren Urheber man nicht ermittelte, erstickten zudem die im Grunde guten Absichten des Fürsten. Wilhelmshöhe, wo der Kurfürst sein Hof‌lager aufgeschlagen hatte, befand sich geradezu im Belagerungszustand. Die an sich schon bedeutende Schloßwache wurde durch eine neu eingerichtete Gardegendarmerie von fünfzig Mann verstärkt, die Zahl der Posten verdoppelt. Alle Nebeneingänge zum Schloß wurden gesperrt, die Durchgangsbogen und selbst die Schornsteine vergittert. Das Betreten des Schlosses war nur gegen Karten von wechselnder Farbe gestattet, Fremden der Besuch des Parkes nur erlaubt, wenn sie mit einer polizeilichen Legitimation versehen waren. Diese drückenden Zustände waren nicht dazu angetan, den Fremdenzuzug zu heben, und auch die Kasselaner zogen es vor, unter diesen Umständen die Wilhelmshöhe zu meiden. Trotz den schärfsten Vorsichtsmaßregeln wurde Ende August 1823 im Korridor des Schlosses ein neuer Drohbrief gefunden. Zahlreiche Verhaftungen erfolgten, und der damalige Oberpolizeidirektor v. Manger wurde des Amtes entsetzt und zu fünfjähriger Festungshaft verurteilt.

Die zur persönlichen Sicherheit des Kurfürsten auf Wilhelmshöhe eingerichtete »Armee-Gendarmerie« stand in unausgesetzter Verbindung

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[307  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

sowohl mit der Schweizer Leibgarde auf der Löwenburg als der in Wahlershausen stationierten Sektion der Landgendarmerie. Sie hatte täglich von morgens 7 Uhr bis zur Nacht Posten auf die Esplanade zu geben, die alle verdächtig erscheinenden Personen zurückzuhalten, Bittsteller zurückzuweisen und um das Schloß zu patrouillieren hatten; weiter hatte sie zwei Mann zum Abpatrouillieren des Parkes zu kommandieren, die sich zu bestimmten Stunden mit den Patrouillen der Schweizer Leibgarde zu treffen hatten; zur Nachtzeit hatte sie die Posten zu visitieren. Ferner stellte sie zwei reitende Ordonnanzen, die zweimal täglich die Befehle nach Kassel zu bringen hatten. Bei entstehendem Alarm hatte die Armee-Gendarmerie sofort auf dem Platz vor dem Gasthaus mit der Front nach der Esplanade Aufstellung zu nehmen und durch eine Ordonnanz in der Gardedukorpskaserne in Kassel die Detachierung einer Eskadron Gardedukorps nach Wilhelmshöhe zu veranlassen. Die Tätigkeit der Schweizer Leibgarde erstreckte sich auf die Bewachung der Löwenburg, die Stellung von Patrouillen bei Tage, Ronden und Patrouillen bei Nacht und Aufstellung von Nachtposten. Die Nachtpatrouillen hatten alle ihnen begegnenden Fußgänger scharf zu examinieren, bei dem geringsten Verdacht zu arretieren und der Landgendarmerie-Sektion zu überübergeben. Seit 1825 hatten die Patrouillen der in Wahlershausen stationierten Sektion der Landgendarmerie einen Raum der Feuerwache in der hinter dem Gasthaus gelegenen Garde-Gendarmerie-Kaserne benutzt; als die Feuerwache 1828 hiergegen protestierte, wandte sich der Kommandeur der Landgendarmerie beschwerdeführend an das Oberhofmarschallamt, der Kurfürst aber entschied: »Kurfürstliche Gendarmerie ist keine Garde-Gendarmerie, weshalb Ersterer die Vortheile der Letzteren nicht zu Theil werden können, und ist das Gesuch zurückzuweisen.«

Unmittelbar nach Einführung der weltberühmten Verfassung, am 6. Januar 1831, war Wilhelmshöhe abermals der Schauplatz unliebsamer Szenen, als die Rückkehr der schönen Gräfin Reichenbach nach dem Wilhelmshöher Schlosse eine Zusammenrottung des Volkes veranlaßte, die einen drohenden Charakter annahm. Noch in der Nacht wurde Artillerie und mehrere Bataillone Infanterie in der Umgebung des Schlosses aufgestellt, und die am nächsten Morgen drohend vordringenden Menschenmassen konnten nur mit Mühe bei Wahlershausen zurückgehalten werden. Ein nach dem Schloß berufener

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[308  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

Ministerrat sah nur in der schleunigen Abreise der verhaßten Mätresse Rettung vor einem drohenden Aufstand. Die Erbitterung legte sich erst wieder, als die Gräfin nach Hanau abreiste und in der Stadt öffentlich bekannt gemacht wurde »daß der Anlaß zur Erregung beseitigt sei«. Schon nach wenigen Wochen folgte ihr der Kurfürst, um Kassel für immer zu verlassen und seine Residenz nach Wilhelmsbad bei Hanau zu verlegen.

Auch Wilhelm II. hat manches für die Fortentwicklung der Wilhelmshöher Anlagen getan. Außer dem Umbau des Schlosses und der Anlage des neuen Wasserfalls erfolgte unter ihm namentlich eine völlige Umgestaltung der dem Schlosse unmittelbar nördlich vorgelagerten Partie.

1822 wurde durch den Oberhofbaumeister Bromeis der Bau des neuen großen Pflanzenhauses begonnen. Es erhielt eine Länge von 246 Fuß und bestand aus fünf Abteilungen, nämlich einer Rotunde in der Mitte mit Kuppel, zwei niedrigeren Zwischengebäuden und zwei über diese etwas hervorragenden Flügelgebäuden. Als im Mai 1822 das Gebäude am Bowlingreen, in dem sich die Wache befand, abbrannte, wurde der Flügel links neben dem Gasthaus, der bisher als Amtshaus gedient hatte, für die Wache eingerichtet und die Amtswohnung in den andern, neben dem Marstall gelegenen Flügel verlegt. Wie schon erwähnt, wurden unter den beiden Verbindungsgalerien des Schlosses vier eiserne Gittertore angebracht, auch die niedriggelegenen Fenster der Silberkammer im Schloß mit eisernen Schaltern versehen. Im Frühjahr 1822 wurde der alte Marstall abgerissen und hinter dem Wirtschaftsgebäude wieder aufgebaut; die Wohnungen über den beiden Marstallsflügeln wurden instand gesetzt und diese selbst durch ein neues Mittelgebäude, dem ein Turm aufgesetzt wurde, miteinander verbunden; bei dieser Gelegenheit wurde der 1791 vom Mittelbau des alten Schlosses hierher versetzte Turm beseitigt. Gleichzeitig wurden die beiden Chausseen, die von dem Platz vor dem Gasthaus nach Schloß und Aquädukt führten, erweitert und um einen Fuß tiefer gelegt. Eine neu geschaffene Wasserleitung führte in das neue Pflanzenhaus und von da in das kleine Bassin vor dem Marstall und in den Marstallshof. Im gleichen Jahre wurde auch noch in der Rasenallee hinter Mulang eine steinerne Brücke errichtet. Im Theater in der Kastanienplantage wurden die Maschinerien instand gesetzt, und bereits am 2. Juni 1822 wurde mit dem

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[309  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


Abb. 57. Mittelbau des Marstalls. Aufnahme von C. Schenhing.

Baboschen Lustspiel »Der Puls« und dem Singspiel »Adrian von Ostade« von Weigl das Kurfürstliche Hoftheater zu Wilhelmshöhe eröffnet. Sonst wurden hier in diesem Jahre noch aufgeführt am 9. Juni »Fanchon«, am 23. Juni »Die Kleinigkeiten«, Lustspiel von Steigentesch, ein Pas de trois und die einaktige Oper »Der Unsichtbare« von Eule.

1828 erschien der vierte Band der »Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen« von Weber-Demokritos, der schon unter Wilhelm IX., dem »Bankier Europas«, mit dem er geschäftlich zu tun hatte, längere Zeit in Kassel zugebracht und sechs Monate hindurch wöchentlich wenigstens einmal dort oben im Gasthaus gespeist hatte. Auch diese kritische Natur findet für die Wilhelmshöhe, die er den ersten Garten Deutschlands nennt, nur Superlative: »Ganz Deutschland, vielleicht ganz Europa bietet nichts Herrlicheres. Was sind alle englischen Parks gegen diesen Naturpark? was die steifen holländischen, gezierten französischen Gärten des stolzen Louis, und verwahrlosten

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[310–311  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


[311] Abb. 58. Teufelsbrücke. Aufnahme des Atelier Kegel (C. Seldt) in Kassel.

{*) Kontrolleur der Schweizerei war Leibbüchsenspanner Kleyensteuber.}

Villen Italiens gegen diese Wilhelmshöhe? selbst Laxenburg, Wörlitz, Ludwigslust und andere mit Recht berühmte deutsche Gärten ermangeln dieser Bergparthien ... Die Wasserkünste zu Herrnhausen, S. Cloud und Chatsworth, alle künstlichen Wasser, die ich sehe, müßen die Seegel streichen vor den Wasserkünsten der Wilhelmshöhe, und ohne die Revolution wäre jetzt wahrscheinlich die Edder über den Berg geleitet, und Wassers die Fülle ... Wir haben hundert englische Gärten in Deutschland – aber es giebt nur Eine Wilhelmshöhe!«

Nachdem 1821 bereits die Plattform des großen Turmes der Löwenburg erneuert war, begannen 1823 unter Leitung des Hofbaukondukteurs Müller wieder umfassende Reparaturen am Oktogon, die auch in den folgenden Jahren fortdauerten. Für 1823 war hierfür ein besonderer Verlag von 7100 Rtlr. ausgesetzt. 1824 befahl der Kurfürst, das unter Friedrich II. erbaute, jetzt vom Hofgärtner bewohnte Kavalierhaus um 72 Fuß zurückzuschrauben, so daß seine Front mit derjenigen des neuen Mittelbaues vom Marstall in eine Linie gerückt wurde. Die einen Kostenaufwand von 1500 Rtl. erfordernde, vom Zimmermeister Zinn aus Frielendorf bewerkstelligte Arbeit erregte damals großes Aufsehen. Nachdem an dem zukünftigen Standort das Fundament ausgegraben sowie neue Sockelmauern und Scheidewände errichtet waren, wurde unter Bromeis’ Leitung die Treppe vor dem Haus und im unteren Stockwerk abgebrochen, in diesem Fenster und Türen sowie 280 Gefache Backsteine herausgenommen. Das zum Fortschrauben notwendige Gehölz, 89 Stämme, wurde aus dem Kirchditmolder Forst forstfrei angewiesen und 30 Stück Walzen angefertigt; auf einer 54’ breiten und 108’ langen Pritsche wurde sodann das Gebäude zurückgeschraubt; zuvor waren an dem Gebäude die schadhaften Säulen und Schwellen herausgenommen und an ihre Stelle neues Holz eingezogen worden; zur Neuwölbung des Kellers verwandte man Holz vom Kattenburgbau in Kassel, der bekanntlich nicht vollendet wurde. Im November 1824 ließ der Kurfürst das ehemalige Tanzsaalgebäude neben dem Gasthaus abbrechen, worauf sogleich an dessen Stelle mit dem Bau eines neuen Wachthauses begonnen wurde, das 1827, beim Abbruch des bisher als Wachthaus dienenden Gasthausflügels, bezogen wurde. 1825 wurde im Erdgeschoß des Weißenstein ein marmornes Bad errichtet. 1826 ließ der Kurfürst die Schweizerei von Montchéri nach Mulang [311] verlegen. Die Witwe des Hofgärtners Sennholz bezog als »Schweizerin« zur Beaufsichtigung der Milcherei die Bagatelle, die beiden kleinen Pavillons rechts und links des Speisesaales unweit der Bagatelle wurden zur Aufstellung der Milch usw. bestimmt, das Vieh in den verschiedenen benachbarten Ställen eingestellt.{*)} Sämtliche Gebäude auf Mulang wurden mit einem Kostenaufwand von 6000 Rtl. neu

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[312–313  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


[313] Abb. 59. Neuer Wasserfall, von Lindenrondel aus gesehen.

hergerichtet. 1826 wurde die hölzerne Teufelsbrücke abgebrochen und an ihrer Stelle durch Henschel eine neue gußeiserne Brücke errichtet (2768 Rtl.); zuvor waren die alten, aus kleinen Tuffsteinen gebildeten Widerlagmauern abgebrochen, die Widerlagpfeiler neu aufgeführt, die Lager und Fugen der Quadersteine abgeflacht, die Außenflächen grob abgespitzt und später die neuen Widerlagen mit Felsen umstellt worden.

Bereits im Herbst 1826 begann unter Steinhofers Leitung an der letzten Basaltlavaterrasse an der Nordgrenze des Parkes die Anlage des Neuen Wasserfalles, wobei durchschnittlich 62 Arbeiter bei einem Tagelohn von 4 Groschen beschäftigt waren. Gleichzeitig wurde die unterhalb dieses Wasserfalles herführende Chaussee neu errichtet, an der unter Aufsicht des Hofgärtners Fuchs durchschnittlich 200 (1826 sogar bis zu 281), unter derjenigen des Hofgärtners Claus durchschnittlich 130 (1826 sogar bis zu 233 Mann) arbeiteten. Diese Arbeiten am Wasserfall und an der Chausseeanlage, die einen wöchentlichen Kostenaufwand von 500–700 Talern verursachten, dauerten bis in den Herbst 1828; am 28. September 1828 war der Neue Wasserfall beendet. Die hier früher belegenen 22 Acker großen Baumschulen waren schon vorher mehr nach Norden, an den Abhang des Lindenbergs verlegt worden. Wenn auch die an dem steilen Gebirgshang lagernden Gesteine mit ihren gewaltigen Tuffmassen sich zur Anlage eines Wasserfalles außerordentlich günstig erwiesen, so boten doch die vorwiegend aus losen Sanden bestehenden Tertiärmassen den Steinen trotz allen Vorsichtsmaßregeln nur wenig Halt, so daß schon nach zwanzig Jahren ein durchgreifender Umbau der Anlage nötig wurde. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, einen am Fuße des Berges gelegenen Taleinschnitt auszufüllen; zu diesem Zwecke wurde ein bei Montchéri gelegener Berg, der sog. Sandkopf, abgetragen. Die Anlage dieses Wasserfalles legte außer zahlreichen Versteinerungen auch eine stark eisenhaltige Quelle bloß. Auch hier zeigte Steinhofer wieder seine geniale Veranlagung, die ohne jede technische Vorbildung gleichsam aus dem Nichts zu schaffen vermochte. Dem Kurfürsten, der einen Plan von ihm verlangte, konnte er nur mit seinem Stock die Anlage, wie er sie im Kopfe hatte, in den Sand zeichnen. Dieser Stock war sein einziges Hilfsmittel; mit ihm nahm er auch seine Messungen vor, um die Lage der Röhren und einzelnen Steine festzustellen. Rogge-Ludwig berichtet, [313] daß das Anfahren der Steine noch im Frondienste durch Bauern geschehen sei, die für jedes hierbei gebrauchte Pferd ein Glas Ordinärbier zu 4 Hellern und Brot zu 4 Hellern oder 8 Heller in bar erhalten hätten; da habe denn Steinhofer oft veranlaßt, daß dieser oder jener weit hergekommene Bauersmann die doppelte Anzahl der Pferde angerechnet bekommen habe. Nach Ausweis der Akten geschah jedoch das Anfahren der Steine durch einige Wahlershäuser

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[314  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

{*) Er selbst schrieb sich Steinhofer; die jetzt übliche Schreibung »Steinhöfer« scheint durch Umbildung aus dem »Steinhöferschen Wasserfall« entstanden zu sein.}

Einwohner (Fremder, Herzog, Wilke, Ledderhose und Müller) im Akkord. Der Neue Wasserfall hat bei einer Breite von 15 Metern eine Tiefe von 40 Meter. Nachdem sich die Wassermassen über ihn hinabgestürzt haben, ergießen sie sich unter einer mit Eisengeländer versehenen massiven Brücke zwischen tiefen Basaltufern von Kaskade zu Kaskade, um endlich im Wiesengrund talwärts zu eilen.

Steinhofer sollte diese seine letzte Schöpfung kein halbes Jahr mehr überleben. Trotzdem er sich zu seinen Lebzeiten einer beispiellosen Popularität erfreute, ist er heute den meisten nur noch als Erbauer des nach ihm genannten Wasserfalles bekannt, und kaum eine Handvoll Leute wußten bis vor kurzem die Stätte, wo dieser auf seinem selbsteigenen Kunstgebiet einzigartige Mann vergessen von einem langen arbeitsreichen und bedürfnislosen Leben ausruht, in dem er während eines halben Jahrhunderts drei hessischen Regenten seine Dienste widmete. Wie Neuber feststellte, wurde er am 5. April 1747 zu Zweibrücken in der bayrischen Rheinpfalz als Sohn des Metallkünstlers Friedrich Christian Steinhofer{*)} geboren. Schon in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts trat er unter Landgraf Friedrich II. mit zwei Brüdern in hessische Dienste, zunächst als Brunnenknecht, dann als Brunnenleiter über die herrschaftlichen Röhrenstränge; 1797 wurde er Brunneninspektor auf dem Karlsberg, erhielt 1823 den Titel »Inspektor der Wasserkünste« und starb am 29. Februar 1829. Bis zum Jahre 1834 blieb seine Stelle unerledigt, dann übernahmen seine Funktionen nacheinander 1834 Hofbaumeister Regenbogen, 1842 Hofbauinspektor Arend, 1846 Hofbaukondukteur (1859 Hofbaumeister) Heinrich von Dehn-Rothfelser, 1864 Hofbauinspektor (1887 Hofbaurat) Knyrim, dessen Nachfolger Hofbaurat Örtel noch jetzt im Amte ist.

Schon nach seiner Konfirmation wandte sich Steinhofer dem Beruf eines Brunnenmeisters zu, dem er seit dem 30. April 1779 auch auf dem Weißenstein oblag. Seine erste Schöpfung war der nach ihm benannte Waldwasserfall (1793). Auch bei Anlage des unter Jussows Leitung entstandenen Wasserfalls an der Teufelsbrücke (1791–93) war er zweifellos mit beteiligt, wie ihm wohl auch die Wasserzuleitung zum Aquädukt und eine rege Mitarbeit bei der Kaskadenanlage

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[315  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

zwischen diesem und der großen Fontäne zuzuschreiben sein wird. Während der französischen Zwischenzeit blieb er in seinem Amt als Brunneninspektor, und Jérôme erhöhte ihm sein bisheriges Gehalt von 200 Talern um ein Beträchtliches. Gern pflegte er aus dieser Zeit eine seine vergnügtesten Erinnerungen zu erzählen. Als Jérôme einmal im Oktogon, das Wilhelm IX. zum Teil wohnlich eingerichtet hatte, ein Festmahl abhielt und nach aufgehobener Tafel bei springenden Wassern die Wasserorgel den Hofstaat in die Pansgrotte lockte, ließ Steinhofer auf Befehl des Königs die Vexierwasser an, so daß die Königin und ihre Damen durchnäßt und vor Bestürzung laut aufschreiend aus der Grotte flüchteten. Mehrere Napoleonsdor waren der Lohn für die Erfüllung dieses für einen Brunneninspektor immerhin sehr heiklen Auftrages. Jérôme schenkte dem alternden Mann, der Tag für Tag zum Habichtswald hinaufpilgerte, mitleidsvoll ein Reitpferd und erschreckte ihn dadurch, wie uns Ruhl berichtet, bis zum Erzittern. Nach der Rückkehr des Kurfürsten blieb Steinhofer als » »Kurfürstlich hessischer Brunnen- und Wasserkunst-Inspektor« in seiner Stellung; auch Kurfürst Wilhelm II. behielt bei seinem Regierungsantritt den 75jährigen im Amte, der ihm noch 1826–28 den Neuen Wasserfall schuf. Da dem alten Manne die tägliche Wanderung nach Wilhelmshöhe nicht gut mehr zugemutet werden konnte, soll ihm der Kurfürst Wagen und Pferd geschenkt haben; jedenfalls sahen ihn die Stadtbewohner jeden Morgen zu bestimmter Stunde hinauf‌fahren und abends wieder zurückkehren. Neben seiner Bautätigkeit hatte es Steinhofer Jahrzehnte hindurch obgelegen, die Wasser springen zu lassen. Seitdem die Hof-Feuerlöschanstalten der Hofbaudirektion unterstellt waren, sah man den alten Mann häufig nach vollbrachtem Tagewerke in einer Proszeniumloge des Hoftheaters – schlummern.

Steinhofer, der Junggeselle war, wohnte mit seinen Geschwistern und deren Kindern im Hause Johannisstraße 765 (jetzt Marktgasse 34) zu Kassel, in dem er auch am 19. Februar 1829, im fünfzigsten Jahre seiner uns unvergeßlichen Tätigkeit auf Wilhelmshöhe, im Alter von 83 Jahren in ärmlichen Verhältnissen starb; immerhin war er Besitzer des von ihm bewohnten Hauses, das seit dem 28. Februar 1901 eine vom Hessischen Geschichtsverein angebrachte Inschrift trägt. Steinhofers Wunsch, in der Grotte seines Waldwasserfalls begraben zu werden, wurde ihm nicht erfüllt, wohl

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[316  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


Abb. 60. Karl Steinhofer. Nach einem Aquarell von Osterhof. 1826 (1840). Aufnahme von W. Heß.

aber ließ ihn der Kurfürst auf seine Kosten auf dem kleinen Friedhof in Mulang beisetzen. Die Bestattung erfolgte am 23. Februar 1829, und Konsistorialrat Dr. Ruppersberg, der erste Prediger der lutherischen Gemeinde zu Kassel, hielt die Grabrede.

Die beste Schilderung des kleinen originellen Mannes entwirft wohl Ludwig Sigismund Ruhl in seinen Erinnerungen an Kassels Vergangenheit.

»Sein Anzug, wie sein ausgeschaufelter dreieckiger Hut, aber noch mehr sein beim Verlust des Haares immer dünner werdendes Zöpfchen trotzten dem Wandel der Mode, wie denn auch alles, was nicht zu den Wasserwerken gehörte oder damit in Verbindung stand, seinen Geist unbewegt ließ. Dennoch war Steinhöfer für Einheimische wie Fremde ein bedeutender Mann, er war der Neptun von Wilhelmshöhe, der Beherrscher der springenden Wasser. Und gar mancher, der den Anblick des Aquädukts, der Teufelsbrücke usw. nicht versehen wollte, hat Sonntags dort zwischen den grünen Gebüschen sein von der anstrengenden Tätigkeit rot erhelltes Gesicht gesucht.«

Unablässig wischte er sich mit einem großen Taschentuch, das er beständig über seinen Stockgriff ausgebreitet trug, den rinnenden Schweiß vom Gesicht; jeden Abend wusch er es eigenhändig im Lac, um es dann wieder über seinen Stock auszubreiten; mit diesem Tuch pflegte er auch seinen Leuten das Zeichen zum Anlassen der Wasserfälle und der großen Fontäne zu geben. Der Dreimaster wurde später durch eine Schirmmütze ersetzt, und auch der Zopf ließ sich bei zunehmendem Alter nicht mehr erzwingen. Ruhl, der bei Steinhofers Tode 35 Jahre alt war, hat ihn auch in seiner unter dem Pseudonym Cardenio 1883 herausgegebenen Erzählung »Eine abenteuerliche Stadt« als Inspektor Berghofer (von Seite 38 ab nennt er ihn Berghausen) eingeführt.

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[317  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

Gleich das zweite Kapitel dieser spukhaften Erzählung bringt eine lebendige Schilderung des Wassergottes:

»Wer war der kleine Mann, und warum wichen ihm die neugierig Stehengebliebenen aus, als er daher kam? Die ganze Stadt wußte doch, wer er war, wo er wohnte und daß seine nie trügende Gabe, Quellen unter der Erde zu entdecken, sie in Röhren aufzufangen und zu leiten, ihm das gering besoldete Amt eines Wasser-Inspektors verschafft hatte, dem er nun bereits über fünfzig Jahre vorstand. Liebe Zeit, es gehört nicht eben viel dazu, um in der Leute Mund zu kommen! Man braucht sich nur von ihnen ferne zu halten und neben manchen Besonderheiten ein auf‌fallendes Aussehen zu haben, so macht sich das ganz von selbst. Von den Großeltern des Inspektors erinnerte man sich noch, daß alle Berghofers mehr unter dem Namen der kleinen Männerchen als unter ihren eigenen bekannt waren, und mag es daher kommen, daß der Scherz, sie von Gnomen abzuleiten, von Erdmännchen, die in Bergen hausen, wo sie mit Metallen umgehen, halb und halb im Ernste geglaubt wurde; wenigstens war die Stadt in ihrer Meinung geteilt, denn wenn einige sagten, man möge nur auf des Inspektors großen Kopf mit kleinem Untergestelle, wie auf seine Muskelkraft achten, die es ihm leicht mache, wuchtige Steine zu heben, so lachten die wissenschaftlich Vorgeschrittenen sie nur aus und entgegneten, es sei das weiter nichts, als daß sich hier ein Familiengepräge noch nicht so verschliffen habe wie bei anderen, die blos nach Geld heiraten, während alle Berghofers, wie bekannt, ihre Frauen von auswärts hergeholt hätten. Dem allen ungeachtet war und blieb der Inspektor für alle ein unheimlicher Mann, und namentlich fürchteten ihn die kleinen Kinder, die in Ausdrücken, die sie sich selbst machten, von ihm sagten, er hätte »Schreckaugen«, sehe in seinem langen Rocke von weitem aus wie eins der Holundermännchen, die ihnen zum Spielen gegeben würden. Hörte man dann die Weiber aus der Nachbarschaft, die ihm oft halbe Stunden lang, über den Hofbrunnen gebeugt, zugesehen hatten, wie er anscheinend mit Rede und Antwort dort hinabsprach, so konnte gar kein Zweifel bleiben, daß der Inspektor den Verkehr mit Erdgeistern niemals aufgegeben hatte.«

Echt romantisch heißt es dann einige Seiten weiter:

»Sobald Berghofer abends den langen Wasser-Inspektors-Rock abwirft, steht er vor dir wie eine ganz andere Erscheinung. In dieser Stunde der Verwandlung beginnt dann allemal die höhere Tätigkeit, wozu ihn der innehabende Gesandtschaftsposten verpflichtet. Als Gesandter bezieht er Repräsentationskosten von seinem Souverän, der im Reiche der Elementargeister einer der mächtigsten Fürsten ist. Als Gesandter muß er zu Bällen, Soupers und wer weiß zu was sonst noch Einladungen ergehen lassen, und nun siehst du, daß ihm sein unbewohntes Haus unentbehrlich ist. Als Gesandter befördert und empfängt er Depeschen aus dem Brunnen, als Gesandter trägt er das Band des Aquamarin-Ordens und einen Namen, der für mich unaussprechlich ist, da er, ebenso wie der seines allergnädigsten Herrn, der Gnomensprache angehört.« Eingehend wird auch das alte verfallene und verrufene Gespensterhaus geschildert, das sich seit fünfzig Jahren durch Erbschaft in Berghofers Besitz befindet

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[318  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

und in dieser Erzählung eine merkwürdige Rolle spielt. Eine Überladung von Zierraten an den Giebelvoluten zeigt es, daß die Entstehung in jene Zeit hinaufreicht, die man unter dem Namen der deutschen Renaissance kennt. Die Fenster an der Fronte, die mit ihren stets verschlossenen Läden wie tote Augen in die Straßen hinabsehen, haben zum Teil noch die alten Einrahmungen behalten und weisen bei allem Verfall auf einen höheren Stand des einstmaligen Erbauers hin. Nebenan wohnt der Inspektor in einem Bürgerhause der gewöhnlichsten Art mit dem Einfahrtstore und dem Türchen darin für den täglichen Gebrauch. Im großen halbgewölbten Fenster des Erdgeschosses stehen Blumentöpfe, die der Köchin gehören. Rechts neben einer steifen Balsamine ein Rosmarin, links ein Basilikum, zwischen beiden die Alte selbst, wenn sie in sommerlichen Tagen, die Luft genießend, Strümpfe stopft oder Leinwand ausbessert.«

Auch Wilhelm Bennecke hat ihm in seinem »Winterkasten« in einem 23 Strophen umfassenden Kapitel ein dichterisches Denkmal gesetzt:

      »Ja, ein Wassergott, das war er,
      Der zu uns herabgestiegen
      Unter der bescheidnen Hülle
      Eines Wasserbaubefliss’nen ...

      Alles, was er tat und schaffte,
      War das Werk des deutschen Berggeist’s,
      Einzig und allein geschah es
      Nur zum Preise der Natur.

      Daß ihn »Wassergott« benannte
      Jung und alt, beruhte wohl
      Auf dem oft so wundersamen
      Richtigen Gefühl des Volkes.«

Da so Steinhofer eine der populärsten Persönlichkeiten Kassels war, nimmt es nicht wunder, daß sich mehr als einmal die Hand der Künstler veranlaßt fühlte, seine originelle Figur mit dem Stift zu bannen und im Vordergrund Wilhelmshöher Ansichten anzubringen; alle diese einander so ähnlichen Bilder zeigen, wie fest sich die äußere Erscheinung dieses Mannes dem Volke eingeprägt hatte. Das charakteristische Merkmal ist fast überall das über dem Stock ausgebreitete Sacktuch. So sehen wir ihn auf einer, wenn ich nicht irre, in den 40er Jahren entstandenen Lithographie des neuen Wasserfalls von T. Löwer und ebenso auf einem der gesuchten Bleulerschen Aquarelldrucke, sowie einer farbigen Lithographie der großen Fontäne von Hammer (Abb. 53). Jakob Hoffmeister glaubte auch auf einer vom Hofbaudirektor Bromeis stammenden Ansicht des Schlosses, vom Lac

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[319  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


Abb. 61. Totenmaske Karl Steinhofers. (Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel. Geschenk von Architekt Zahn.)

aus gesehen, unter den im Vordergrund stehenden Figuren Kurfürst Wilhelm I. und Steinhofer, den Dreimaster unter dem Arm, zu erkennen. Aus Anlaß der Industrieausstellung im Orangeriegebäude 1870 erschien eine gehässige Broschüre: »Kassel wird Weltstadt«, in der sich gleichfalls eine kleine von W. Scholz gezeichnete Skizze Steinhofers befindet. Sie stellt ihn inmitten seines Wasserfalls dar, ist aber nur die Kopie einer mit Aquarellfarben übermalten Zeichnung des durch seine Urwüchsigkeit bekannten Malers Osterhof, die mir in drei Exemplaren bekannt ist. Das eine gehört Frau Rechnungsrat Kersten in Kassel, entstand im Jahre 1826, also drei Jahre vor Steinhofers Tod, und kann wohl als das ähnlichste Bild des Wassergottes gelten. Es wurde seinerzeit von Osterhof dem Berggeschworenen Wolf auf dem Habichtswald, dem Vater der Frau Rechnungsrat Kersten, geschenkt. Eine zweite, dieser völlig ähnliche Aquarellzeichnung (1840) besitzt Herr Schombardt auf dem Rammelsberg zu Wilhelmshöhe, eine dritte Herr Bankier Fiorino in Kassel (Abb. 60). Steinhofer ist hier dargestellt, wie er sich mit der Rechten auf den Stock stützt, über dessen Griff das charakteristische rotgeränderte Taschentuch gedeckt ist. Er trägt rotgestreifte Weste, blauen halb zugeknöpften Frack und hält in der Linken eine Schirmmütze, wie er denn trotz seinem Silberhaar nie anders als unbedeckten Hauptes gesehen wurde. Vor ihm rieselt ein kleiner Wasserfall durch Basalttuffsteine. Daß Hessens erster Kurfürst das Bild Steinhofers in

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[320–321  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


Abb. 62. Pyramideneiche auf dem Grabe Steinhofers. Aufnahme von F. Coester. 1907.

{17) In Anlehnung an Henkel, Tourist. Mitteilungen VII. S. 34.}

{*) Vgl. hierüber Haedicke, Die Entstehung des Grundwassers. Sonderabdruck aus dem »Bayerischen Industrie- und Gewerbeblatt«. München 1907.}

einem Zimmer der Löwenburg nachfolgenden Zeiten überliefern ließ, wurde schon erwähnt. Ruhl bezeichnet es als wenig porträtähnlich; die Zeichnung, die dieser selbst anfertigte, befindet sich jetzt im Besitz des Herrn Fiorino. Eine Totenmaske Steinhofers wird in der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel aufbewahrt. (Abb. 61.)

Zwei Menschenalter hindurch wucherte üppiges Unkraut über der eingefallenen, von niemand gekannten, hart an der Mauer, der Eingangspforte des Friedhofes gegenüber liegenden Grabstätte Steinhofers. Kein Stein kündete seinen Namen, nur eine zwischen wilden Kirschbäumen sich mühsam zum Lichte ringende, jetzt im Aussterben begriffene Pyramideneiche bezeichnete die Ruhestätte des genialen »Wassergottes«, und schon 1850 klagte man darüber, daß das Grab auch nicht durch das kleinste Erinnerungszeichen geschmückt werde. Seit dem 6. Oktober 1908 jedoch steht ein mächtiger, vom hessischen Geschichtsverein aus öffentlichen Mitteln errichteter Steinblock auf dem Grab, das dadurch der Vergessenheit entrissen wurde. Nachdem so, wenn auch spät, eine geringe Dankesschuld erfüllt ist, wird vielleicht doch manch einer von den glitzernden, über wilde Felsen dahinschießenden Wassermassen in stiller Dankbarkeit seine Schritte zu der Ruhestätte Karl Steinhofers lenken, der nicht zuletzt mit zu dem Weltruhme der Wilhelmshöhe beigetragen hat.

Wie unter Kurfürst Wilhelm II. der heutige Park mit einem Flächenraum von fast 1300 Morgen (31,031 ha) seinen räumlichen Abschluß fand, so beschließt auch der Neue Wasserfall die Reihe der Wasserkünste. Hier ist es wohl am Platze, die Speisung der sämtlichen Wasserkünste einmal kurz im Zusammenhang zu betrachten.{17)} Zur Versorgung der Wasserfälle dienen zwölf Sammelteiche. Das 40 400 cbm fassende Hauptreservoir liegt auf dem Plateau des Winterkastens dicht neben dem Vorwerk Sichelbach; es erhält seinen Zufluß durch kleinere Quellen und die besonders während des Winters niedergehenden Regen- und Schneemassen, teilweise aber auch, wie der bekannte Wasserbautechniker Haedicke vermutet, durch Grundwasser.{*)} Bei einem etwa 50maligen Anlassen der Wasserkünste während des Sommerhalbjahres sinkt der Wasserstand auf etwa 35 der ursprünglichen Höhe. Drei Kanäle leiten von hier das Wasser [321] in ein hinter dem Oktogon liegendes Sammelbecken, ferner in den nördlich der Kaskaden gelegenen Unglücksteich und in den Teich im Innern des Oktogon, den Behälter für die Vexierwasser. Aus den beiden anderen ergießen sich die Wassermassen durch die geöffneten Schleusen die dreifachen Kaskadentreppen hinab in den Neptunsteich und von hier, zunächst unterirdisch, dann in offenem Graben in das in der Kaskadenschneise gelegene Reservoir hinter der Plutogrotte, aus dem sowohl Teufelsbrücke und Aquädukt, wie die große

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[322  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

Fontäne gespeist werden; zu dieser führt aus dem Reservoir ein gußeisernes Rohr unter dem Rasenabhang hinweg; im Fontänenbassin wird es inmitten einer Felsengruppe von einer mit 13 Löchern versehenen bronzenen Platte verschlossen. Diese Löcher, ein großes und zwölf kleine, sind ihrerseits wieder durch eine ebenso einfache als sinnreiche Konstruktion verschlossen. Ein Hebel, dessen Ende durch einen Bindfaden festgehalten ist, preßt einen gepolsterten Deckel auf die Mündungsplatte; soll die Fontäne springen, so wird vom Ufer aus mittels einer Kette der Bindfaden zerrissen, so daß der Deckel durch den gewaltigen Druck des Wassers zurückgeschleudert wird. Die Wasser des Fontänenbassins fließen über kleinere Kaskaden hinweg in den Lac und von da in den Druselbach, der als »kleine Fulda« in der Nähe des Justizpalastes in Kassel in die Fulda mündet. Zur Speisung des Steinhöferschen Wasserfalles, der nächst den Kaskaden angelassen wird, dienen in erster Linie die Förderwasser aus den Habichtswalder Braunkohlenbergwerken; sie werden in einem 3 km langen, oberhalb des Druseltales herlaufenden und in den Felsen gehauenen Zuflußgraben, der noch durch einen Abfluß vom Reservoir hinter der Sichelbach verstärkt wird, dem Asch, einem in idyllischer Waldeinsamkeit daliegenden kleinen Bergsee, zugeführt. Von hier werden sie am Tage vor dem Anlassen in einen hinter dem Steinhöferschen Wasserfall gelegenen Teich geleitet, der gerade das zu einem einmaligen Fallen notwendige Wasser faßt. Auch der Abfluß dieses Wasserfalles ergießt sich in das Reservoir hinter der Plutogrotte, und aus diesem, wenn die Schleuse geöffnet ist, unter der Teufelsbrücke hindurch in die Rinne des Aquädukts, um dann, über Kaskaden dahingleitend, in das Fontänenbecken zu münden. Die Wasser des neuen Wasserfalls werden vom Höllenbassin vor der Teufelsbrücke in offenem Graben einem am Fuße des Merkurtempels hinter dem neuen Wasserfall gelegenen, außerdem noch von Gebirgswasser gespeisten Reservoir zugeführt; auch sie werden, sobald sie sich die Felsen hinabgewälzt haben, in den Druselbach abgeleitet, um so gleichfalls von der Fulda aufgenommen zu werden.

Wir kehren zur Betrachtung der unter Wilhelm II. auf Wilhelmshöhe erfolgten Veränderungen zurück. Auch der neben dem neuen Gewächshaus gelegene, dicht mit Waldbäumen bewachsene Apolloberg wurde gründlich umgestaltet. Die Bäume wurden ausgerottet, der Gipfel des Berges abgetragen und der Apollotempel, der diesen

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[323  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

{*) Die alten Treibhäuser unterhalb des heutigen Wachthauses waren 1826 abgebrochen worden.}

{**) Er enthielt im unteren Stock das Wachtlokal für 18 Mann nebst Offizierstube, im ersten Stock die Wohnung des Hofbaukondukteurs Regenbogen; im selben Jahr erfolgte der Abbruch des westlichen Flügels, der Stallungen und nach vorn die Wohnung des Polizeikommissars Bücking enthalten hatte, sowie des eigentlichen, an den Gastwirt Wichard verpachteten Wirtschaftsgebäudes.}

Gipfel bis dahin krönte, abgebrochen und aus seinem Material ein Birkenhäuschen auf einem Hügel in der neuen Baumschule errichtet. Als Ersatz für die alten Baumschulen in der Gegend des neuen Wasserfalls wurden am Abhang des Lindenbergs neue Baumschulen und Treibereien angelegt,{*)} zu denen vom Gewächshaus aus eine – gleich den etwas oberhalb an dem Wege nach Wilhelmstal stehenden amerikanischen Eichen – sehenswerte Allee von Tulpenbäumen führt. Die Baumschulen waren in zwei Abteilungen eingeteilt; die eine mit einem Flächenraum von 16 Ackern, diente zur Anzucht junger Obstbäume in den vorzüglichsten Arten, die andre, die einen Flächenraum von etwa 30 Ackern einnahm, war zur Vermehrung und Kultivierung von Zierbäumen und -sträuchern bestimmt. Die in dem etwa 30 Acker großen Obst- und Gemüsegarten befindlichen Treibereien, für deren Erbauung 1829 31 541 R. bewilligt wurden, bestanden in Ananas-, Pisang-, Wein-, Kirschen- und Pflaumenhäusern. Die eigentliche Blumenschule für Wilhelmshöhe, durch ein verschlungenes Eisengitter eingefriedigt, lag hinter dem Kavalierhaus, wo die mannigfaltigsten Blumengattungen durch Samen und Ableger gezüchtet wurden und aus den verschiedenartig geformten Beeten, »Klumps«, dem Beschauer die glühendste Farbenpracht entgegenleuchtete.

Im März 1827 wurde, da nunmehr das neue Wachthaus bezogen werden konnte, auf Befehl des Kurfürsten der östliche Flügel{**)} neben dem Gasthaus abgebrochen, um für die Anlage eines neuen Gasthauses Platz zu schaffen. Es folgte der Abbruch des Gasthauses selbst, das im heutigen neuen Obstgarten wieder aufgebaut wurde. Mit der Beseitigung des Gasthauses fand die Freilegung der Gebäude in diesem Kompler ihren Abschluß. Ein Blick auf den Jussowschen Plan (Abb. 46) zeigt uns, daß bisher das Gasthaus, der alte Marstall und das Kavalierhaus in einer Fluchtlinie lagen; die neue Fluchtlinie wurde, nachdem Gasthaus und

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[324–325  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

{*) Um den Besuch der Wilhelmshöhe zu heben und zu erleichtern, befahl der Kurfürst im Mai 1828 der Polizei, dafür zu sorgen, daß am Himmelfahrtstage und zweiten Pfingsttage am Wilhelmshöher Tore Wagen bereit standen. In diesen konnte man für 5 Sgr. einen Sitz zum Hinauf‌fahren haben.}

{**) 1833 wurde ein an den Kurprinzen und Mitregenten gerichtetes Gesuch des Lehrers Wolfram, das Gittertor der Schule im Ökonomiegebäude wegen des Zuges und in Masse eindringenden Schnees durch eine Haustüre zu ersetzen, abgeschlagen. (»Ist nicht an ihm zu bitten.«) Die Schule in Mulang bestand bis zum 1. April 1899. Seitdem besuchen die Kinder aus dem Schloßbezirk die Schule zu Kassel-Wilhelmshöhe.}

{***) Projekt in der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel.}

{†) Die Leitung war schon recht alt. 1802 waren die hölzernen Röhren schon derart verfault, daß das Wasser in die Baumschule drang, und wurden durch Steinhofer durch dreizöllige Eisenröhren ersetzt.}


[325] Abb. 63. Prospekt zur Eröffnung des neuen Gasthauses am 15. Mai 1829. Links der Marstall. Lithographie von C. Arnold nach einer Zeichnung von Schwalm. [Text: siehe rechts]

Marstall abgebrochen und das Kavalierhaus zurückgeschraubt war, durch die schmale Seitenfront der (nunmehr miteinander verbundenen) Marstallflügel und der bisherigen Gasthausflügel bestimmt. Das neue Gasthaus bot sich nach seiner Vollendung (1829) dar als ein etwa 70 m langes Hauptgebäude von drei Stockwerken mit je 21 Fenstern Front, an das sich rechtwinklig zwei etwa 30 m lange Seitenflügel von zwei Stockwerken anschlossen. Da das neue Gasthaus außer einem für 300 Personen ausreichenden Speisesaal, einer Anzahl Badezimmer, hinlänglichen Stallungen usw. eine große Zahl von Fremdenzimmern enthielt, war fortab Fremden wie Einheimischen die Möglichkeit zu längerem Aufenthalt auf Wilhelmshöhe geboten.{*)} Der Bau wurde noch vervollständigt durch Errichtung eines Ökonomiegebäudes auf dem ehemaligen Gartengebäude hinter der Gardegendarmeriekaserne; es enthielt Back- und Waschhaus, Ställe usw., auch befand sich in ihm die Schule für die Kinder der Hofbeamten, die dann später in ein Häuschen an der Straße nach Mulang verlegt wurde.{**)} 1828 wurde das Theater neben dem Schloß mit einem Kostenaufwand von 18 000 R. durch Bromeis zu einem Ballhaus umgebaut,{***)} welchem Zweck es aber nur wenige Male gedient hat. Im selben Jahr wurde eine Trinkwasserleitung in die Schloßräume gelegt; das beste Quellwasser in Wilhelmshöhe entsprang in der Nähe des Aquädukts und wurde bereits nach Gewächshaus, Marstall und Gasthaus geleitet. Von diesem Röhrenstrang{†)} wurden weitere oberhalb des Gewächshauses nach dem Schloß abgezweigt.

Noch bleibt eine für die Gesamtwirkung des Wilhelmshöher Schlosses bedeutungsvolle Veränderung zu nennen, die schon damals [325] einstimmiger Verurteilung begegnete. Die brückenartigen Bogen, durch die der Mittelbau mit den Flügeln verbunden war, waren unter Jérôme und Wilhelm I. mit steinernen Arkaden überdeckt worden, die die Höhe des ersten Stockwerkes hatten, so daß man zwischen Flügeln und Hauptgebäude immer noch einen Blick auf die Landschaft hatte. Wilhelm II. aber ließ, angeblich um den Mittelbau besser gegen Kälte und Zug schützen zu können, durch den Hofbaukondukteur Regenbogen 1829 diese Durchgangsbogen bis zur Höhe der Flügelgebäude ausbauen und schuf so aus der gefälligen Dreiteilung

[Transkription des Prospekt-Textes auf Abb. 63: »Nachdem das neue Gasthaus zu Wilhelmshöhe vollendet, und der dazu gehörige Logirflügel, mit den darin befindlichen Bädern, nunmehr vollständig eingerichtet ist: so stehen die Wohnungen und Bäder, vom 15 Mai 1829 an zum Besuche der einheimischen sowohl als fremden Gäste offen, und beliebe man sich dieserhalb den Kastellan Jung in Wilhelmshöhe zu wenden. Dass durch innere Bequemlichkeit, verbunden mit einer wahrhaft schönen Lage und. Aussicht, die fraglichen Wohnungen zu einem der angenehmsten Aufenthalte geschaffen sind, davon wird sich jeder Gast bei dem ersten Besuche überzeugen können, und diese wird die beste Empfehlung zu öfteren Besuchen feyn, wozu hiermit höf‌lichst eingeladen wird.«]

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[326–327  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]


[327] Abb. 64. Das Schloß mit den neuen Zwischenbauten. Ansicht vom Parke aus. Neuere Aufnahme. (Graphische Kunstanstalt von A. Schlemming.)

einen einzigen ungefügen Massivbau. Bei der Ausführung dieser barbarischen Zwischenbauten soll der Architekt, nachdem seine Einwendungen vergeblich gewesen seien, so verfahren sein, daß diese jederzeit leicht wieder beseitigt werden können. Da sich bei dieser Veränderung auch die Notwendigkeit einer Verlegung der Landgrafengalerie ergab, wurde 1830 der Kuppelsaal (mit einem Aufwand von 1741 R.) zur Aufnahme der Ahnenbilder eingerichtet. Die Arbeiten des inneren Ausbaues der Zwischenbauten wurden durch die Zeitumstände sistiert; erst 1840 wurde er im Zwischenbau zwischen Corps de Logis und Kirchenflügel vollendet, in demjenigen am ersten Schloßflügel vollends erst 1848; bei diesen unter Aufsicht des Hofbauinspektors Engelhard erfolgenden Arbeiten zeigte sich, daß ein großer Teil der Cambrien und des Parkettbodens vom Schwamm zerstört war und ersetzt werden mußte; immer neue Defekte, namentlich an der Holzbekleidung, wurden sichtbar, je mehr die bis dahin verschlossen gewesenen Räume dem Licht und der Luft ausgesetzt wurden; auch die Schlösser und Beschläge der Türen waren durch die Feuchtigkeit eingerostet, ebenso mußten einige faule Deckbalken erneuert werden.

Im Jahre 1830 faßte der Kurfürst den Plan, sich nordöstlich vom neuen Wasserfall an Stelle des früheren Lusthauses Montchéri ein Mausoleum zu errichten, das, als Gegenstück zu der den Park im Süden abschließenden Löwenburg, als dessen nördlicher Abschluß gedacht war. Eine von ihm selbst gezeichnete Skizze mit Erörterungen befindet sich im Regenbogenschen Nachlaß. Auf einem von Parkanlagen umgebenen Plateau sollte sich das Mausoleum in Form eines Tempels aus weißem Marmor erheben und über dem für den Sarg bestimmten Gewölbe einen Sarkophag einschließen; drei Seiten sollten von eisernem Geländer umgeben sein, deren vier Ecken große Kandelaber und Fontänen bildeten; zu der offenen Seite sollte eine große Freitreppe führen, an beiden Seiten von Türmen flankiert, deren einer als Wohnung des Kastellans, der andere als Wachtlokal gedacht war. Die bald darauf eintretenden Ereignisse ließen diesen Plan, der eine zweite fürstliche Grabstätte in den Parkanlagen geschaffen hätte, nicht zur Ausführung kommen. Der Kurfürst verließ 1831 seine Residenz, um sie nie wieder zu betreten, und ernannte am 30. September seinen Sohn Friedrich Wilhelm zum Mitregenten, der, nachdem sein Vater 1847 gestorben und in

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[328  Kurfürst Wilhelm II. 1821–1831 (1847)]

der Marienkirche zu Hanau beigesetzt war, Hessens letzter Kurfürst sein sollte.

Noch möge eine der letzten, sich auf Wilhelmshöhe beziehenden Resolutionen des Kurfürsten erwähnt sein. Dieser hatte genehmigt, daß verschiedene Höhenpunkte, darunter namentlich der Herkules, von preußischen Geodäten zu trigonometrischen Beobachtungen benutzt würden, und den Hauptmann im kurfürstlichen Generalstab Wiegrebe beauftragt, hieran kontrollierend teilzunehmen. Als dann im August 1831 der preußische Obergeometer Vorländer zu diesem Zweck in Kassel eintraf, wurde die Oberbaudirektion durch das Oberhofmarschallamt veranlaßt, ihm bei seinen Zwecken behilf‌lich zu sein und auf einige Wochen den Zutritt in den Herkules zu öffnen. Übrigens erhielt im November 1840 der dem Generalstab angehörige Kapitän Beck von dem zu Kassel in Garnison stehenden Schützenbataillon gleichfalls die besondere Befugnis zur Vornahme topographischer Messungen vom Oktogon aus.

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[329  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

 

Kurfürst Friedrich Wilhelm I.
1847–1866 (seit 1831 Mitregent).

Auch Friedrich Wilhelm I. residierte während des Sommers auf Wilhelmshöhe und verbrachte hier die glücklichsten Tage seines von Jugend ab an Bitternissen und Enttäuschungen reichen Lebens. Wenn er auch keine größeren neuen Bauten im Park errichten ließ, so wurde unter ihm doch das Bestehende mit erheblichem Kostenaufwand erhalten. Neu entstanden durch ihn die Ananashäuser am Lindenberg, ferner unter Leitung des Hofgärtners Sennholz die Anlagen am Apolloberg, beim Tempel des Merkur, am Neuen Wasserfall und schließlich die reizvollen kleinen Kaskaden unterhalb des Lac, an deren Vollendung der Kurfürst lebhaften persönlichen Anteil nahm. Ganz besondere Aufwendungen mußten wieder für Kaskaden und Oktogon gemacht werden, dessen südlicher Risalit 1825 wieder hergestellt worden war. Reparaturen an einzelnen Felsenpartien erfolgten 1830 durch Maurermeister Krauß. 1838 drohte das Eindringen des Regens in die verwitterten Fugen der Pyramide den Einsturz des darunter im Oktogon befindlichen Saales; man behalf sich vorläufig damit, das über dem Saal gelegene, ursprünglich verharzte Geplätte zu verkitten; um den Einsturz der Pyramide selbst abzuwenden, wurde eine bedeutende Summe zur Verkittung der Plattform bewilligt. Am 6. Dezember 1838 stürzte eine an den Treppenaufgängen des Oktogons nahe der Aufseherwohnung gelegene Felsenpartie ein, ihre Herstellung war aber nach Ansicht der Hofbaudirektion erst nach völliger Instandsetzung der Risalite möglich. 1839 wurde zur Verkittung der Pyramide ein Gerüst aufgestellt und durch die Maurermeister Seidler und Losch sämtliche stark ausgewitterten Tuffsteine ausgebrochen und nach und nach ersetzt, sowie sämtliche Fugen an den vier Seiten verkittet. Durch das

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[330  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]


Abb. 65. Kurfürst Friedrich Wilhelm I.

ungehindert von der Plattform in die Gewölbe rinnende Wasser wurden diese, namentlich beim Gefrieren des Wassers, immer mehr auseinandergetrieben; erst durch neu angelegte Blechkandeln konnte dieses wieder in die Steinrinnen geleitet werden. Mit welcher Gefahr damals das Besteigen des Oktogons verbunden war, geht aus den Reisebriefen des preußischen Obersten v. Decker hervor, der im Sommer 1839 nach Kassel kam. Auch der »Hessenbote« dieses Jahres (Nr. 60) hob angesichts des rapiden Verfalles hervor, daß jetzt noch, wenn auch unter Aufwendung großer Mittel, dieser Verfall abgewandt werden könne; bereits Lobe hatte in seinen 1837 erschienenen »Wanderungen« mit Nachdruck auf die unbedingte Notwendigkeit, dem Ruin Einhalt zu tun, hingewiesen. Im Dezember 1839 stürzte an der breiten Treppe beim Riesenkopf wiederum eine Felsenpartie zusammen, die im nächsten Jahre wieder hergestellt wurde. Wie wir schon früher sahen, hatten sich, sowohl durch die mangelhafte Konstruktion als durch die Unvollkommenheit des Materials bedingt, bereits bald nach Vollendung des Baues Spuren des Verfalles gezeigt, die je länger je mehr kostspielige Reparaturen notwendig machten. Dieser Verfall hatte um die Mitte der vierziger Jahre einen derartigen Umfang angenommen, daß das Besteigen der Pyramide

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[331  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

{*) Im Budget für 1843–1845 enthielt das Finanzgesetz allein 50 000 Tlr. »Zur Herstellung der Herkulessäule«. Wippermann, Kurhessen seit dem Freiheitskriege. 1850. Seite 485.}

{**) 1830–1843.}

{***) »Zu den neuen Hörnern über den Kaskaden ein neues Mundstück, 4 neue messinge Hungen zu machen und dieselben in die große Quarte zu stimmen kostet mit der Besorgung der Hörner und den damit verbundenen Wegen im Jahr 1843 und 44 10 R.   Wilhelmshöher Allee.   G. Wilhelm, Hoforgelbauer.«}

{†) Sie war in den vorhergehenden Jahren, so 1822, 1824, 1825, 1827, 1830 von Wilhelm repariert worden, und mußte auch später noch z.B. 1869 repariert werden. Noch Anfang der 70er Jahre war sie im Gang und befindet sich jetzt in einem Schuppen hinter dem Oktogon.}

untersagt wurde; wie es hieß, wollte aber der Regent die Kosten zur Wiederherstellung nicht genehmigen; nach Otto Bähr sollte er sogar erklärt haben, er wolle den Bau mit Kanonen zusammenschießen lassen, wenn das Land die Kosten nicht bewillige, worauf die Stände große Summen bewilligt hätten.{*)} An der Inkrustierung des unteren Stockwerkes des Oktogons war um diese Zeit unter furchtbarem Getöse ein Einsturz erfolgt, aber auch das dritte Stockwerk, dessen Außenmauer auf Gußmauerwerk ruhte, war stark gefährdet. Ferner hatten die Grotten durch die durch die Plattenbeläge eingedrungene Feuchtigkeit sehr gelitten. Die Kaskaden konnten schon seit Jahren{**)} nicht mehr angelassen werden, weil das Wasser zum größten Teil nicht mehr über sie hinabstürzte, sondern wegen der unvollkommenen Untermauerung in den Stufen verschwand. Im Frühjahr 1843 begann man, die Kaskaden von Grund auf auszubessern; im Gegensatz zur ursprünglichen, höchst mangelhaften Konstruktion (vgl. S. 139/140) wurden jetzt die Platten, die die Wasserstufen bildeten, überall untermauert und die Fugen gründlich mit Kasseler Zement gedichtet, ebenso wurden in den Bassins die Plattenbeläge aufgenommen und verdichtet. Am 20. August 1844, dem Geburtstag des Kurprinzen und Mitregenten, konnten die Besucher zum ersten Male wieder das langentbehrte Schauspiel der Wasserkünste genießen:

»Tausende und aber Tausende von Menschen harrten des Moments, wo ein auf dem Plateau des Karlsbergs aufgestelltes Geschütz das Signal zum Anlassen der grandiosen Wasserkunst zu geben hatte. Punkt 12 Uhr erdröhnte der Kanonenschuß, und gleichzeitig drängten nun die Wassermassen aus den unterirdischen Behältern des Riesenschlosses hervor, mit erneuter Gewalt den Kaskadenbau von Absatz zu Absatz überstürzend, die Fontainen sprudelten lustig in die Höhe, die lang verstummt gebliebenen Muschelhörner der Tritonenstatuen{***)} erschallten wieder, und die Wasserorgel{†)} unterstützte mit ihrer die

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[332–333  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]


[333] Abb. 67. Oktogon mit Pyramide und Herkulesstatue. Nordwestliche Ansicht vom Plateau aus. Im Vordergrunde Sammelbecken für die Kaskaden.

weite Umgegend erfüllenden Stimme das erhabene Concert von Kunst und Natur. Wie mit einem Zauberschlage stand das einzigartige Werk wieder in seiner ursprünglichen Harmonie vor den Augen einer darüber in lauten Jubel ausbrechenden zahllosen Volksmenge.«

1845 ging man an die Herstellung des Oktogons, an dem bereits im Vorjahre die kostspieligen Gerüste aufgestellt worden waren; auf die Verzimmerung der Gerüste zum Abbruch der schadhaften Gebäudeteile mußte die größte Sorgfalt verwandt werden, da man bei den riesigen Dimensionen und der starken Einwirkung der Winde sich nicht auf gewöhnliche Tünchergerüste verlassen konnte. Wäre man nicht gezwungen gewesen, die neuen Reparaturen mit den früheren in Einklang zu bringen, so wäre man vielleicht zur Verwirklichung eines vom Oberbaumeister Engelhard vorgeschlagenen Projektes geschritten, wonach die Fundamente durch eine Felsenlage verstärkt und der ganze Bau durch eine Eisenkonstruktion gesichert worden wäre; durch Anlegung eines solchen Eisengerippes – das durch Schlingpflanzen verdeckt werden konnte – würde man der Notwendigkeit aus dem Wege gegangen sein, die ursprüngliche Zierlichkeit der italienischen Architektur zu beeinträchtigen. So aber war man gezwungen, die Arbeit konsequent an die früheren Reparaturen anzuschließen; die großen Arkaden mußten unterwölbt, die ursprünglich freistehenden Pilaster mit einer mittleren soliden Kernmauer aufgeführt werden. In dieser Weise war ja auch der südöstliche Risalit wiederhergestellt worden. Die weiteren Ausweichungen der Fundamente hoffte man dadurch zu verhindern, daß man die Inkrustierung der unteren Stockwerke in starke Futtermauern verwandelte. Die zur Herstellung nötigen Tuffsteine kamen aus den Brüchen bei Hoof und Elgershausen, teilweise wurden auch die aus früheren Jahren erübrigten, im nahen Walde gelegenen Quadern auf die Höhe transportiert. Hand in Hand mit den Reparaturen am Oktogon ging 1845 eine solche der rechts vom Artischockenbassin gelegenen Treppe sowie des Gewölbes hinter den Vexierwassern; gleichzeitig wurden auch die vom Oktogonteich ausgehenden Röhrenstränge nach dem Artischockenbassin wieder instand gesetzt. 1848 wurden die Arbeiten am Oktogon von neuem in Angriff genommen; noch 1863 wurden drei schadhafte Bogen des Vordertores unterbaut, 1864 wurde die Treppe auf der Nordwestseite nebst ihrer Untermauerung und den felsenartigen Treppenwangen erneuert und ebenso der Abbruch und Wiederaufbau [333] der Felspartien westlich vom Nordtor vollzogen, zwei Nischen auf der Nordseite sowie das Kreuzgewölbe im nordwestlichen Risalit des zweiten Stockes erneuert. Als sich im August dieses Jahres die dritte Nische auf der nordwestlichen Ecke, einer der gefährdetsten Teile des Unterbaues, in Bewegung setzte, so daß sich in wenigen Stunden die Fugen der Quadersteine über einen Zoll erweitert hatten, schritt man sofort in vorsichtiger Weise zum Abbruch, worauf die vollständig eingerissene Nische sowie die angrenzenden Felspartien neu angelegt

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[334–335  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

{*) Ziemlich erhebliche Ausmauerungen, Verankerungen u.s.f. erfolgten 1864–70 unter Hofbauinspektor Knyrim.}

{**) Von der am Verlag für diese Herstellung ersparten Summe wurden im selben Jahr die Fundamente der niedergelegten Treibhäuser unterhalb des Wachthauses abgebrochen.}


[335] Abb. 68. Blick auf Oktogon und Kaskaden vom Fontänenbassin aus.

{*) Während der Augustmesse 1832 hatte die Cholera in Kassel ihre ersten Opfer gefordert.}

wurden. Auch die Nische im zweiten Stock unter der nördlichen Ecke des nordwestlichen Risalits, also wiederum an der gefährlichsten Stelle des Gebäudes, erlitt in Zeit von einigen Tagen merkliche Verschiebungen und mußte rasch mit Backsteinmauerwerk und Zement ausgemauert werden; das schadhafte Mauerwerk wurde in dem vom Hof des Oktogon aus zugänglichen gewölbten, nach Nordost gelegenen Raum mit Zement ausgegossen und repariert. Anfang Oktober 1864 waren die Arkaden unter dem Nordtor vollendet und ebenso die Reparaturen an dem Kuppelgewölbe unter dem Nordtor. Man begann nun, das Hauptgesims vom nordöstlichen Risaliten, einen Teil des Gewölbes und die Hintermauerung des Gewölbes abzubrechen. Über dem zweiten Stockwerke des nordwestlichen Risalits wurden Verankerungen vorgenommen. Die Arbeiten geschahen unter Leitung des Hofbauinspektors Knyrim. Im Mai 1865 war der Abbruch des nordöstlichen Risalits vollendet. Bei diesen Arbeiten trat wieder die Leichtfertigkeit, mit der Guerniero gebaut hatte, zutage. So fand sich z.B. hinter der abgebrochenen Nische auf der nordwestlichen Ecke Füllwerk von Sand mit ganz geringen Kalkteilchen, in das hinein kleine, zum Teil mehrfach gebrochene und zerdrückte Basalt- und Tuffsteine geschichtet waren. Auf dieser Basis hatte der ausgewichene nordwestliche Haupteckpfeiler des Risalits geruht! Der Ersatz all dieser abgebrochenen Teile nahm noch eine Reihe von Jahren in Anspruch, wie denn auch bis heute kleinere Reparaturen fast alljährlich vorgenommen werden müssen.{*)} Die Untermauerung der letzten, bisher noch freistehenden Arkaden fand erst 1908 unter Leitung des Hofbaurats Örtel statt.

Auch der Neue Wasserfall mußte bereits 1836, acht Jahre nach seiner Vollendung, einer Reparatur unterzogen werden.{**)} Aber schon 1850 war der ganze, auf losen Sandmassen ruhende Felsenaufbau wieder unterwühlt und zusammengestürzt und mußte neu aufgeführt werden; bei den Wegräumungsarbeiten hatten die Paläontologen wieder Gelegenheit zu wertvollen Funden in den hier lagernden [335] berühmt gewordenen oligozänen, besonders an Haifischzähnen so reichen »Kasseler Meeressanden«.

Nachdem die Kurfürstliche Schweizerei von Montchéri nach Mulang verlegt worden war, war das dortige Hauptgebäude zum Cholerahaus{*)} eingerichtet worden. 1839 wurde es zu wiederholten Malen öffentlich an den meistbietenden auf Abbruch ausgeboten, des geringen Gebotes wegen aber der Zuschlag nicht erteilt, worauf der Kurprinz das Haus durch die Feuerwächter abbrechen ließ. Der vollendete Ausbau sowohl des Zwischenbaues zwischen Kirchenflügel und Hauptgebäude (1840) als auch desjenigen zwischen Weißensteinflügel und Hauptgebäude (1848) wurde bereits erwähnt. \

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[336  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

{*) Im folgenden Jahr befahl der Kurfürst, wohl aus gleicher Erwägung heraus, daß die vier Türen unter den beiden Durchfahrten des Schlosses möglichst sicher und fest verschließbar sein müßten, worauf statt der bisher aus Tannenholz bestehenden Türen solche aus Eichenholz angebracht wurden.}

Mitte der 50er Jahre drohte der Hauptturm der Löwenburg einzustürzen. Schon früher hatten sich an allen Ecken und Enden die Folgen der mangelhaftigkeit des verwandten Materials gezeigt. Kleinere Reparaturen waren fast in jedem Jahre notwendig. Bereits Ende 1821 hatte die Plattform des großen Turmes neu hergestellt werden müssen. 1824 war der wertvolle Brunnenkumpf derart verfallen, daß er nicht mehr verkittet werden konnte; um das an ihm angebrachte Wappen und die gotischen Verzierungen zu retten, erhielt er einen wasserdichten eichenen Kasteneinsatz. Im gleichen Jahr wurden die schadhaften bunten Glasfenster in der Kapelle repariert. 1832 wurde die über dem Turm über der Kapelle hängende, der Witterung preisgegebene Turmuhr, deren Gewichte durch Herabfallen wiederholt Gardeinvaliden beim Aufziehen der Uhr verletzt hatten, auf den Boden des daneben stehenden Turmes versetzt. 1839 waren die am südöstlichen Teil der Burg stehenden vier Türme so defekt geworden, daß nach einer Anzeige des Hofbauinspektors Arend ihr das Leben der wachthabenden Gardisten bedrohender Einsturz zu erwarten stand. Durch Maurermeister Engel wurden zunächst die Brüstungssteine, hierauf das Geplätte der Türme und Verbindungsgänge und die oberste Lage der Mauersteine abgenommen, dann die Türme mit neuen Steinen wieder aufgemauert, das Geplätte neu gelegt sowie das Gesims und die großen Brüstungssteine neu versetzt. 1842 befahl der Kurprinz, den früheren Turnierplatz neben der Burg zu ebnen und mit Granit zu überdecken. 1846 wurde der Kirchgiebel repariert, auch erhielt die Wachtstube an Stelle der bisherigen Steinplatten, über deren Gesundheitsschädlichkeit sich die Schweizer Leibgarde beklagt hatte, einen hölzernen Fußboden. Im Mai des auch in Kassel recht unruhig verlaufenen Jahres 1848 erging der Befehl, die beiden Zugbrücken der Burg in gangbarem Zustand zu erhalten; als sich hierauf die Schadhaftigkeit des Holzwerkes ergab, wurden sie durch solche aus starkem Eichenholz ersetzt.{*)} In den folgenden Jahren wurde die an mehreren Stellen eingestürzte Mauer des Tiergartens bei der Burg repariert. Bei den im Laufe des Sommers 1854 wiederholt durch den Hofbauinspektor v. Dehn-Rothfelser vorgenommenen

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[337  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

Revisionen des schon seit Jahren an einigen Stellen auseinandergewichenen Mauerwerkes am Hauptturm ergab sich, daß die dort vorhandenen Risse sich fortgesetzt vergrößerten und die Turmmauer stark ausgewichen war. Am stärksten zeigte sich die Abweichung von der senkrechten Linie in der Höhe der Fenster des unteren Speisesaales. Der Grund lag außer an der schlechten Qualität der Steine am mangelhaften Verband des Mauerwerks. Als sich bei einer neuen Besichtigung im Oktober desselben Jahres eine abermalige Erweiterung der Sprünge am unteren Teil des Turmes herausstellte, erwies sich eine doppelte Sicherung des Turmes als notwendig, einmal durch Umreifung über den Fensterbogen des Speisesaales und sodann durch eine Verankerung unter dem Fußboden des Bibliothekzimmers. Da sich auch am Rittersaal die kurz zuvor vergipsten Sprünge im Gesims von neuem geöffnet hatten und der Saal durch eine Verankerung entstellt worden wäre, beschloß man hier gleichfalls eine Umreifung vorzunehmen. Bei der zunächst Ende Oktober anbefohlenen genauen Untersuchung des Fundamentes ergab sich, daß die Risse und Senkungen des Mauerwerks nicht durch Senkungen des noch guten, auf natürlichem Felsen ruhenden Fundamentes entstanden waren, sondern vielmehr durch dieselbe Kalamität, die für den Bestand des Oktogons so verhängnisvoll geworden war. Während die sehr starken Mauern des Turmes innen und außen aus Quadern bestanden, war ihr Kern aus unregelmäßigen Steinen, sogenanntem Füllmauerwerk, gebildet, wodurch sich der größte Teil der Belastung auf die innere und äußere Quaderbekleidung verteilte. Da nun das Material für diese Quaderbekleidung zum Teil dem naheliegenden, sehr weiche Steine liefernden Hüttenberg entnommen war, so war die Folge, daß schon bald einzelne Quadern zerdrückt wurden, andere verwitterten, woraus sich, noch dazu bei der geringen Festigkeit des verwandten Mörtels, die Ausbauchungen und Senkungen der genannten Teile ergaben. Zunächst ging man daran, über dem ersten Gebälk des Turmes eiserne Anker und um den Turm eiserne Reifen zu legen. Nachdem man zur Anbringung der Anker ein Gerüst an den Turm gestellt hatte, sah man erst, daß das Mauerwerk zwischen der untersten Fensterreihe und den Konsolen der umlaufenden Altane noch in weit höherem Grade defekt war. Die Mauern waren im Inneren zum Teil ganz zerdrückt und befanden sich überhaupt nicht mehr im Verband. Um einzelne zerdrückte Fensterpfeiler zu erneuern, mußte ein Teil der unteren Fenster provisorisch

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[338  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

{*) Wissenbach in Möllers Deutscher Gärtnerzeitung 1887, Nr. 17. – Ein charakteristisches Beispiel bringt Schmidtmann, Erinnerungsbilder. 1907. S. 65f.}

zugemauert werden. Am Mauerwerk der inneren Fensterwände fanden sich drei Zoll breite Risse, die merkwürdigerweise schon mit Kalk verschmiert gewesen waren. Bei eintretender Kälte mußte die völlige Herstellung des Turmes unterbrochen werden und wurde erst zu Beginn des nächsten Jahres vollendet. Da die Dringlichkeit und Gefährlichkeit der Arbeiten die stete Anwesenheit eines Architekten erheischte, wurde bei der Erkrankung des Hofbauinspektors v. Dehn Hofbaukondukteur Knyrim mit dessen Vertretung beauftragt.

So wichtig diese kostspieligen Herstellungen für den Bestand von Oktogon, Kaskaden und Löwenburg waren, so bedeutungsvoll wurde für die Fortentwicklung der Parkanlagen die im Januar 1864 vollzogene Ernennung Franz Vetters zum kurfürstlichen Hofgärtner auf Wilhelmshöhe. Nächst Schwarzkopf hat kein Hofgärtner eine so bleibende Bedeutung für Wilhelmshöhe gehabt als Detter, der in 27jähriger Wirksamkeit Park, Gärten und Gewächshäuser auf die Stufe höchster Vollendung gebracht hat. Freilich unter dem Kurfürsten selbst hatte er noch wenig freie Hand; denn dieser war kein Freund von Neuerungen und bekümmerte sich um die unbedeutendsten Kleinigkeiten; ohne seine Zustimmung durfte keine Pflanze an einen anderen Platz versetzt werden.{*)} Detters erste Arbeit war die Umformung der Blumenbeete, die bisher mit konservativer Pietät so erhalten wurden, wie sie vor etwa dreißig Jahren angelegt worden waren; ihre Bepflanzung bestand vorwiegend aus Georginen, Levkoyen, Kaiserkronen, Päonien usf. Hier griff Detter tatkräftig ein und änderte so viel er durfte. Detter war nicht nur ein Landschafts- und Ziergärtner großen Stiles, sondern auch auf dem Gebiete der Gehölzkunde und der Anpflanzung edler Baum- und Straucharten ein bedeutender Fachmann und hatte als solcher schon 1851 dem Hofgartendirektor Hentze bei Aufstellung des Verzeichnisses der Zierbäume und Sträucher in den Kurfürstlichen Baumschulen zu Wilhelmshöhe große Dienste geleistet. Es war dieses auf Grund jahrelanger genauester Beobachtungen und Vergleichungen aufgestellte wissenschaftliche Verzeichnis das erste, das nach den schon genannten Werken von Böttger (1777) und Mönch (1785) erschien. Schon im ersten Jahre seiner Wirksamkeit auf Wilhelmshöhe betätigte sich Vetter durch die schon in

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[339  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

den beiden vorhergehenden Jahren durch den Hofgärtner und späteren Gartendirektor Sennholz begonnene Bepflanzung der Wolfsschlucht unter der Löwenburg.

Wenn der Kurfürst in Kassel residierte, fuhr er fast täglich sechsspännig mit Spitzenreitern nach Wilhelmshöhe; residierte er in Wilhelmshöhe, so war das Promenieren an der Ostseite des Schlosses untersagt; sonst war noch die Roseninsel für die kurfürstliche Familie reserviert. Dagegen war die Esplanade zwischen dem Schloß und dem nahen Gasthaus zur Benutzung freigegeben; hier, im Schatten der mächtigen Roßkastanien, war denn auch zur Sommerszeit bei den Konzerten der Gardekapelle selten ein freier Platz zu finden. Das für die Besucher der Wilhelmshöhe unter den letzten Kurfürsten bestehende Rauchverbot gab namentlich im Ausland Anlaß zu Witzeleien; man darf aber nicht vergessen, daß damals auch für andere Parkanlagen ähnliche Verbote galten. Da diese Beschränkung natürlich innerhalb der Häuser und auch außerhalb, soweit deren Dach überragte, keine Anwendung fand, so waren z.B. am Wirtshaus unterhalb der Kaskaden Personen, die sich dicht an der Wand des kleinen Hauses dem Tabakgenuß hingaben, eine stehende Erscheinung. Sehr oft hatte man Gelegenheit, dem Kurfürsten mit seiner Frau in den Parkanlagen zu begegnen; die Kasselaner zogen es dabei aber, wie Heinrich Schmidtmann erzählt, meist vor, dem Fürsten, der es nicht verstand, sich beliebt zu machen, auszuweichen.

Feste ungetrübter Freude waren es für den Kurfürsten, wenn er fürstlichen Gästen seinen Wundergarten zeigen konnte, so im Juni 1853 beim Besuch des Großherzogs Ludwigs III. von Hessen. Eine große Pracht entfaltete der Kurfürst beim Besuch seines königlichen Vetters Friedrich Wilhelms IV. von Preußen und des damaligen Prinzen Wilhelm, die beide am 20. Juli 1853 mit dem Kurfürsten, der ihnen bis Altmorschen entgegengefahren war, auf Bahnhof Wilhelmshöhe eintrafen und in einem von den berühmten Isabellen gezogenen Sechsspänner zum Schlosse hinauf‌fuhren, wo eine Kompagnie vom Regiment Kurfürst mit Fahne und Musikkorps aufgestellt war, während im Vestibül, wo sich die Hofchargen und das Staatsministerium eingefunden hatten, eine Abteilung Gardedukorps in großer Uniform die Wache hielt. Um fünf Uhr fand große Tafel statt, wobei die berühmte Gardekapelle auf silbernen Instrumenten ihre Weisen ertönen ließ. Der Preußenkönig toastete auf eine lange und gesegnete

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[340–341  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]


Abb. 69. Schloß mit Fontänenbassin und Bowlinggreen.


[341] Abb. 70. Durchblick nach dem Schloß.

{*) Eine der letzten Audienzen auf Wilhelmshöhe, die des Marburger Professors Melde, ist eingehend im Hessenland 1895, Seite 300f. geschildert.}

Regierung des Kurfürsten keiner von beiden konnte ahnen, daß schon 13 Jahre später der kurhessische Löwe dem preußischen Aar unterliegen würde. Nach aufgehobener Tafel durchfuhr man zur Besichtigung der Wasserkünste die Anlagen und nahm dann in der Löwenburg den Tee ein. Beim Anblick der wunderbaren Fernsicht vom Balkon der Löwenburg aus soll der König zu seinem Vetter gesagt haben: »Wenn einmal die Türkei geteilt wird, sollst du ein großes Stück davon haben und ich nehme mir dann dieses hier.« Als die Fürstlichkeiten abends den Burghof betraten, stand dieser in magischer Beleuchtung, und die gleichfalls beleuchtete große Fontäne warf bis zur Mitternacht ihre Strahlen zum nächtlichen Himmel.

Wie sechzig Jahre zuvor sein Großvater, so wurde auch Kurfürst Friedrich Wilhelm I. das Opfer seiner Politik. Nach Ausbruch des Krieges zwischen Preußen und Österreich stellte er sich auf die Seite Österreichs. Leicht wird ihm diese Entschließung nicht geworden sein, da er durch Tradition und Verwandtschaft den preußischen Verhältnissen [341] nahestand. Der preußische Gesandte am hessischen Hof, Generalleutnant v. Röder, vermochte ihn durch nichts zur Allianz mit Preußen und zum Anschluß an den neu zu bildenden Staatenbund zu gewinnen. Der preußische Generalmajor v. Bener überschritt darauf von Wetzlar her die hessische Grenze und besetzte am 19. Juni Kassel. Schon am folgenden Tag zog sich eine preußische Postenkette um das Wilhelmshöher Schloß, und ein Erlaß des Generals v. Beyer suspendierte die Minister von ihren Ämtern. Noch an diesem Tage gab der Kurfürst zu Wilhelmshöhe, als ob er sich im tiefsten Frieden befände, einem zum Hoforganisten ernannten Musikus seiner Hoftheaterkapelle eine Audienz.{*)} Am 21. Juni machte General v. Bener durch Proklamation bekannt, daß die Autorität des Kurfürsten suspendiert sei; nunmehr erschien eine Kompanie vom 70. preußischen Infanterieregiment

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[342–343  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

{*) Graf Taillepied de Bondy, der letzte französische Gesandte in Kassel, erwähnt sogar in einem Brief vom 26. Juni 1866, daß man gegen den Hauptmann wegen seines Benehmens eine Untersuchung einleiten wolle. (Comte de Reiset, Mes Souvenirs. Paris 1903.)}

{**) Kurhessen im Jahre 1866. Kassel 1907, Seite 15.}


[343] Abb. 71. Wilhelmshöhe aus der Vogelschau.

{*) »Man begreift die Sehnsucht, die der letzte hessische Kurfürst in der böhmischen Verbannung so oft nach Wilhelmshöhe empfunden hat. In seinem Zimmer hing in den letzten Jahren seines Lebens ein Bild seines früheren Schlosses. Sinnend sah man ihn oft vor diesem Bilde stehen mit Thränen in den Augen. Hessens letzter Kurfürst, ein deutscher Mann und ein edler, wohlmeinender Herrscher, starb am Heimweh.« (Herold, Berlin-Wilmersdorf 1907, Nr. 26.)}

unter Führung eines Hauptmanns v. Lettow im Schloß; dieser verlangte eine Photographie des Kurfürsten, da ihm dessen Gefangennahme befohlen sei, worauf der Kurfürst sich ihm persönlich vorstellte. Allgemein wurde das in diesen Tagen bezeigte brüske Verhalten v. Lettows verurteilt{*)} und ebenso dasjenige einer Tochter des Gesandten v. Röder, die auf dem sorgfältig gepflegten Bowlingreen hinter dem Schloß unter den Augen des Kurfürsten ihr Pferd tummelte.{**)} Nochmals versuchte v. Röder eine Vermittlung, die aber vom Kurfürsten mit der gleichen Entschiedenheit zurückgewiesen wurde. Als dann aber am 23. Juni der aus Berlin eingetroffene kurhessische Gesandte v. Schachten die dortige Stimmung schilderte, wünschte der Kurfürst die Verhandlungen mit Preußen wieder aufzunehmen. Es war zu spät. Herr v. Röder hatte bereits telegraphisch den Befehl erhalten, den Kurfürsten als Kriegsgefangenen nach Stettin abzuführen. Dieser erließ hierauf (am 23. Juni) von Wilhelmshöhe aus die in ihrer Einfachheit rührende Abschiedsproklamation »An mein getreues Volk!«, verabschiedete sich abends um 8 Uhr von der Schloßdienerschaft, um dann zu Wagen auf dem Wilhelmstaler Weg nach Station Mönchehof zu fahren, von wo ihn ein Extrazug nach Stettin führen sollte. Von den beiden als Begleiter bestellten Offizieren zeigte sich Major v. Griesheim äußerst taktvoll, während Rittmeister v. Legat sogar den Abschied des Kurfürsten von seiner Dienerschaft verhindern wollte, worauf ihm Major v. Eschwege erklärte, er werde ihm alsdann binnen einer halben Stunde Pistole gegen Pistole gegenüberstehen. Im Gefolge des Kurfürsten befanden sich die Flügeladjutanten Major v. Eschwege, Rittmeister Freiherr v. Verschuer, die Hauptleute v. Baumbach und Brack, Premierleutnant v. Lengerke, Geheimer Hofrat Dr. Bunsen (einer seiner Leibärzte), Hofrat Strube und der bekannte Kammerdiener Müller.

Am 24. Juni spät abends kam der Kurfürst in dem damals von der Cholera durchseuchten Stettin an, wo ihm das königliche Schloß angewiesen wurde. Am 26. Juni traf aus Berlin Generalleutnant v. Natzmer zur ständigen Beaufsichtigung des Kurfürsten ein. Seine [343] Gemahlin, die Fürstin von Hanau, konnte ihm erst am 27. August nachfolgen. Nachdem der Kurfürst am 18. September seine Untertanen von dem ihm geleisteten Eide entbunden hatte, erhielt er am selben Tage seine Freiheit wieder. Kurze Zeit verweilte er noch in Philippsruhe und Hanau, um dann den Rest seines Lebens in Prag zu verbringen, wo er das ehemalige Palais des Fürsten Windischgrätz in der Waldsteingasse bewohnte.{*)} Am 6. Januar 1875 machte eine Herzlähmung seinem Leben ein Ende, und am 12. Januar wurde er, seinem Wunsche entsprechend, auf dem alten Kasseler Friedhof neben Mutter und Schwester beigesetzt. Seine Nachkommen haben 1905 diese Stätte durch eine kunstvolle Mauer aus weißem Sandstein einfriedigen lassen. \

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[344  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. 1847–1866 (seit 1831 Mitregent)]

So hatte nach 600jährigem Bestand der chattische Stamm seine politische Selbständigkeit eingebüßt; das Kurfürstentum Hessen war von der Landkarte gestrichen, nachdem schon am 8. Oktober 1866 auf dem Friedrichplatz zu Kassel die Einverleibung Kurhessens in die preußische Monarchie feierlich verkündet worden war. Nunmehr gehört der ehemalige Kurstaat als Regierungsbezirk Kassel der Provinz Hessen-Nassau an; Kassel als Regierungshauptstadt dieser Provinz behielt den Charakter als Residenz. Im Stettiner Vertrag vom 17. September 1866 lautete

  • § 6: Über die Benutzung der Schlösser in Kassel und Wilhelmshöhe steht Seiner Majestät dem Könige die alleinige Bestimmung zu.
  • § 7: Seine Königliche Hoheit der Kurfürst von Hessen behalten Allerhöchst sich jedoch das alleinige ungehinderte Benutzungsrecht der Schlösser in der Provinz Hanau vor, indem Allerhöchstdieselben zugleich auf die eigene Benutzung der in den übrigen Landesteilen gelegenen Schlösser verzichten.

Im Jahre 1867 erhielt Geheimrat Dohme im Oberhofmarschallamt zu Berlin den Auftrag, die neuen Provinzen zu bereisen, über die dem König zur Verfügung stehenden Schlösser der früheren Landesherren Bericht zu erstatten und Vorschläge zu machen, welche Besitztümer die geeignetsten wären, um von der Krone unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse übernommen zu werden. In Kassel machte der König nur Anspruch auf das Residenzpalais, den Fürstenhof und den halben Marstall, außerhalb sodann auf Wilhelmshöhe mit Zubehör und auf Wilhelmstal; doch sollten diese Besitzungen nicht als Eigentum, sondern nur zur Nutznießung für ewige Zeiten übernommen werden. Die königliche Regierung gewährte in Rücksicht hierauf und weil Park und Wasserkünste in Wilhelmshöhe dem öffentlichen Verkehr überlassen blieben, einen Beitrag zur Unterhaltung.

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[345  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

{18) Neben privaten Aufzeichnungen und Mitteilungen wurden namentlich benutzt: Dohme, Unter fünf preuß. Königen, hrsg. von P. Lindenberg, 1901; Georg Horn, Napoleon III. in Wilhelmshöhe, National-Zeitung, Sonntags-Beilage Nr. 23–26; P. Lindenberg, Briefe Kaiser Napoleons III. an die Gräfin Louise de Mercy-Argenteau, Velhagen u. Klasings Monatsh. XXI. Heft 1 (1906). Graf Fleury veröffentlichte seine Wilhelmshöher Erinnerungen August 1907 im »Gaulois«. Das während des Druckes dieses Kapitels erschienene Werk »Napoleon III. auf Wilhelmshöhe 1870/71 nach Aufzeichnungen des Generals d. Infant. Grafen Monts«, hrsg. von Tonn von Held, Berlin 1909, gab zu Änderungen oder Zusätzen keinen Anlaß. Auf‌fallend ist, daß hier der wiederholte politisch wichtige Besuch der Gräfin Mercy-Argenteau nicht erwähnt wird, trotzdem Graf Monts ihr am 10. Februar 1871 unter dem Namen einer »Madame Händel« einen (bei Lindenberg a. a. O. abgedruckten) Paß ausstellte.}

Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe.
5. September 1870 bis 19. März 1871.

Vier Jahre, nachdem Hessens letzter Kurfürst zum letzten Male die Freitreppe seines Wilhelmshöher Schlosses, das er nicht wiedersehen sollte, umflorten Blickes hinabgestiegen war, wurden von neuem die Augen der gesamten Welt auf dieses Schloß gelenkt. Am 3. September 1870, nach der Schlacht bei Sedan, wurde der Kaiser der Franzosen von dem »großen Leichenfeld, auf dem Frankreichs Herrlichkeit verblutet war«, als Kriegsgefangener nach Schloß Wilhelmshöhe abgeführt, das ihm König Wilhelm von Preußen zum Aufenthalt angewiesen hatte.{18)} So wurde, wie sich der Kasseler Volkswitz ausdrückte, »Wilhelms Höhe« zu »Napoleons Erniedrigung«, und das geflügelte Wort »Ab nach Kassel!« mag gleichfalls in dieser Zeit entstanden sein. Schwerlich dachte wohl der großmütige Sieger in jenen bewegten Tagen an die Ironie, die den gestürzten, Kaiser an dieselbe Stätte führte, die einst zwischen Jena und Leipzig Zeuge gewesen war der rauschenden Feste seines leichtlebigen Oheims Jérôme, und es war wohl nur ein Ausfluß des ritterlichen Sinnes König Wilhelms, wenn er dem besiegten Gegner den herrlichsten Fürstensitz Deutschlands zuwies.

Wilhelmshöhe hatte der König nach einer Verabredung mit Moltke und Bismarck gewählt und dann sofort das Weitere veranlaßt. Oberhofmarschall Graf Pückler und Hofmarschall Graf Perponcher befanden sich mit dem Könige in Frankreich, während der 1900 als Direktor des Hohenzollernmuseums verstorbene Geheimrat Dohme damals als Direktor im Oberhofmarschallamt in Berlin zurückgeblieben war. Schon am Abend des 3. September erhielt Dohme durch den Grafen Pückler telegraphisch die nötigen Anweisungen zur Aufnahme Napoleons in Wilhelmshöhe, und in der Frühe des nächsten Morgens

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[346  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]


Abb. 72. Wohnzimmer Napoleons III. im Wilhelmshöher Schloß.

empfing er durch die Königin Augusta eingehende Verhaltungsmaßregeln; sie äußerte den ausdrücklichen Wunsch, daß Napoleon in Wilhelmshöhe nicht als Gefangener, sondern als Gast behandelt werde, wenn ihm auch aus militärischen Rücksichten kein preußischer Adjutant oder Kammerherr zugeteilt werden könne; sie gab Dohme ihren ältesten und besten Kammerdiener, einen gut französisch sprechenden Lothringer, und ihren ersten französischen Küchenmeister mit. Noch am 4. September gingen von Berlin aus die Ökonomie-Kolonne und eine Marstall-Abteilung ab. In der Frühe des 5. September traf Dohme in Wilhelmshöhe ein, wo ihm der mit den Verhältnissen vertraute alte kurhessische Haushofmeister Rohde eine große Hilfe war. Da der Marstall besetzt war, mußte ein besonders abgezweigter Teil sofort geräumt werden. Am 5. September, abends zehn Uhr, traf der Kaiser im Extrazug über Köln und Gießen, begleitet von den gleichfalls

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[347  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]


Abb. 73. Schlafzimmer Napoleons im Wilhelmshöher Schloß.

kriegsgefangenen Generälen Douay und Lebrun, auf Station Wilhelmshöhe ein, wo sich ihm der zur Bewachung befohlene Gouverneur von Kassel, General der Infanterie Graf Monts, zum Dienst meldete. Eine Kompagnie Infanterie war als Ehrenwache aufgestellt, während ein Detachement des zweiten hessischen Husarenregiments Nr. 14, dessen Schwadronschef Freiherr von Diepenbrock-Grüter Napoleon als Adjutant beigegeben wurde, das nur spärlich anwesende Publikum zurückhalten sollte. Der Kaiser war überrascht, hier eine noch so gut aussehende Truppe zu finden, während doch seiner Meinung nach der letzte preußische Soldat in Frankreich sein müsse. In der halbverdeckten Chaise des Grafen Monts, der ein Husarenoffizier vorausritt, fuhr er zum Schloß hinauf, in elf weiteren Wagen saß das Gefolge. Er trug volle Generalsuniform, aber ohne Degen, und über der Uniform einen langen dunklen Mantel, auf dem Kopfe das goldgestickte Generals-Käppi. Unter klingendem Spiel präsentierte eine vor dem Schloß aufgestellte Abteilung des damals in Kassel liegenden Ersatzbataillons des Füsilierregiments Nr. 80. Am Portal

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[348  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

wurde er von Dohme empfangen, der ihm mitteilte, daß alles zum Souper bereit sei. Der Kaiser dankte und erwiderte, daß er jetzt nur Ruhe, Ruhe, Ruhe wünsche. Er sah sehr leidend aus, seine Gesichtsfarbe war fahl, das Haar ergraut, die Haltung gebückt und der Blick der Augen matt. Als er kurz darauf an das geöffnete Fenster seines Zimmers trat und in den vom Mondlicht überfluteten Park hinabschaute, trafen durch die Stille der Nacht volltönende Klänge sein Ohr die abziehende Wache sang die »Wacht am Rhein«.

Am nächsten Morgen war der Kaiser schon früh auf und fragte einen der preußischen Kammerdiener nach den Namen der umliegenden Höhenzüge; er sprach deutsch, langsam, aber in reiner Aussprache. Als Dohme sich nach seinen Befehlen erkundigte, erwiderte er: »Ich habe nichts mehr zu befehlen, auch nichts mehr zu wünschen, da für alles, was ich wünschen könnte, Ihr Hof so entgegenkommend gesorgt hat.« Dann ließ er sich einige gedruckte Führer geben, um sich über die Geschichte des Schlosses zu orientieren. Der Kaiser hatte freie Verfügung über seine Hofhaltung, konnte nach Belieben Einladungen zum Dejeuner und Diner ergehen lassen und, wen er wollte, empfangen. Wer den Kaiser besuchen wollte, hatte sich zunächst bei Dohme zu melden, dann bei General Reille oder dem kaiserlichen Kabinettsekretär Pietri, worauf der Kaiser seine Entscheidung traf. Er bewohnte im ersten Stock des Hauptgebäudes einen großen Salon, ein behagliches Wohnzimmer, und das hieran anstoßende Arbeitskabinett, deren Blick nach Kassel hinaus ging, während das Schlaf- und Ankleidezimmer nach dem Parke zu lagen; hinzu kamen noch ein Speisesaal und ein Versammlungszimmer. Über Napoleons Lebensweise hat uns Dohme in seinen »Erinnerungen« eingehend unterrichtet. Der Kaiser stand früh auf, las und schrieb viel, unternahm, meist in Zivil, weite Spaziergänge, vorwiegend nach dem damals noch sehr einsam gelegenen Mulang; auf seinen Ausfahrten bevorzugte er Schloß Wilhelmstal, an das sich gleichfalls so manche Erinnerung an seinen leichtlebigen Oheim Jérôme knüpfte. Nach Kassel selbst ist er nur zweimal und nur bis zum Königsplatz gefahren, wohl um das Gerücht zu widerlegen, daß ihm der Besuch der Stadt untersagt sei. Das Diner wurde vom Kaiser und seinen Begleitern in Uniform eingenommen; nach dem Diner widmete man sich der Unterhaltung und Lektüre; außer einigen französischen Blättern las der Kaiser die »Norddeutsche Allgemeine« und die »Augsburger Allgemeine Zeitung«.

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[349  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

Auch die ihm zur Verfügung gestellte Schloßbibliothek wurde häufig benutzt; er ließ sich u.a. Dumas’ »Drei Musketiere« vorlesen und legte dabei Patience. Nur seine nächsten Begleiter wohnten im Schloß, die übrigen und auch die Mehrzahl der Dienerschaft waren im nahen Hotel Schombardt untergebracht. Die Kosten hierfür bestritt der preußische Hof. Das Wachtgebäude war mit einer starken Militärtruppe besetzt, und um den Kaiser vor Belästigungen durch das Publikum zu schützen, war eine Postenkette in den Anlagen verteilt. Die wachthabenden Offiziere wurden wiederholt zum Diner geladen.

Bei den Spaziergängen des Kaisers folgte diesem in einiger Entfernung der aus Kassel hinaufkommandierte Polizeikommissar Eiffert in Zivil. Zu gleichem Zweck dienten vier aus Berlin geschickte Polizeibeamte. Gegrüßt wurde er nur selten, die Menge verhielt sich ernst und schweigsam, wenn er sich zeigte; aber es kam oft vor, daß er selbst zuerst den Hut zog und so das Publikum zum Gruß zwang. Im Schlosse selbst war ein Telegraphen- und Postbureau eingerichtet; das Briefgeheimnis blieb streng gewahrt, dagegen hatte Dohme von dem Inhalt der einlaufenden und abgehenden Depeschen Kenntnis zu nehmen. Auch für die religiösen Bedürfnisse war gesorgt und mit Zustimmung des Bischofs von Fulda in einem Saal des Erdgeschosses eine Kapelle eingerichtet worden, in der seit dem 11. September Dechant Wehnert aus Kassel allsonntäglich die Messe las; der Kaiser erwies sich später dadurch erkenntlich, daß er der Kirche zur hl. Elisabeth in Kassel zum Weihnachtsfest silberne Altargeräte schenkte. Von Berlin aus wurde er wiederholt mit Höf‌lichkeiten bedacht; so wurden ihm zwei bequeme Fauteuils, Früchte und Spiele gesandt. Der Fremdenbesuch war in dieser Zeit ein außerordentlicher, so daß in Kassel Handel und Wandel einen regen Aufschwung nahmen. Bei dem Kaiser befanden sich die Flügeladjutanten, die Generale Castelnau, Reille, die Brigadegenerale Vicomte de Pajol, Prince de la Moskawa, Daubert de Genlis, die Ordonnanzoffiziere Rittmeister Hepp, Hauptmann de Lauriston; später kamen noch der bei Sedan verwundete Oberst Prinz Joachim Murat, Leutnant Prinz Achille Murat, der Oberstallmeister Graf Davillier, Stallmeister Raimbeaux, die Leibärzte Baron Dr. Corvisart und Dr. Tonneau, sowie der Geheime Kabinettsekretär Franceschini Pietri hinzu. Die Kapitulation von Metz brachte auch Bazaine nach Kassel, dessen Magen sich in den entbehrungsvollen Tagen der Belagerung dermaßen der

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[350  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

{*) Nach den Privataufzeichnungen des verstorbenen Rentier Philipp Möller, der mit dem damals im Hotel Schombardt logierenden Prinzen Wilhelm von Hanau von einem Fenster aus der Besichtigung zusah, »entblödete« sich einer der französischen Offiziere »nicht, fortwährend eine Zigarre in den Fingern herumzudrehen und dann und wann einen verstohlenen Zug zu tun.« überhaupt zeigten die meisten Herren aus dem Gefolge des Kaisers wenig Interesse bei der Besichtigung.}

Speise entwöhnt hatte, daß er an der reichbesetzten Tafel seines Kaisers nichts zu essen vermochte. Bazaine wohnte in einer Villa des Akazienweges zu Kassel, und als ihm hier ein Kind geboren wurde, ließ er Erde aus Frankreich kommen und auf diese das Bett seiner Frau stellen, um so seinen Nachkommen die französische Nationalität zu wahren. Erst nach einem Jahr verließ er Kassel, um sich in Frankreich dem Kriegsgericht zu stellen. Seine Villa ging in den Besitz eines Kasselaners über, der, wie Heinrich Schmidtmann in seinen »Erinnerungsbildern« mitteilt, unter einer Fensterbrüstung ein jetzt wieder entferntes Medaillon anbringen ließ mit der Umschrift:

      Einst zog hier Marschall Bazaine ein,
      Jetzt wohnt hier Albert Kazenstein.

Die Dienerschaft des Kaisers zeigte wenig Anhänglichkeit; fast alle strebten danach, ihre Auszahlung zu erhalten, um dann möglichst schnell nach Frankreich zurückzukehren; nur ein alter Garderobier, der schon bei dem Straßburger Putsch eine Rolle gespielt hatte, hielt treu aus. Da Napoleon und sein Gefolge bald in Geldverlegenheit gerieten, sah sich Oberstallmeister Graf Davillier genötigt, die mitgebrachten zwanzig Pferde des Kaisers, darunter zwei vierspännige Postzüge, zu verkaufen; sie gingen zum größten Teil für 20 000 Franken an Dr. Stroußberg in Berlin über.

Als einstiger Schweizer Artilleriehauptmann bezeigte Napoleon großes Interesse für das Artilleriewesen. So besuchte er mit seinem Gefolge am 30. September in Anwesenheit des Grafen Monts auch die in Wilhelmshöhe einquartierte Reservebatterie der Feldartillerie und ließ sich durch den Batteriechef Spangenberg eingehend über Einrichtung und Bedienung der Geschütze referieren; auch dem Exerzieren wohnte er wiederholt bei.{*)}

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[351  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]


Abb. 74. Kaiser Napoleon III. (*) besichtigt preußische Kanonen im Wilhelmshöher Marstall.

Zahlreiche Besuche brachten Abwechslung in das sonst ziemlich eintönige Leben auf Wilhelmshöhe. Schon wenige Tage nach der [351] Ankunft Napoleons, am 11. September, traf, von der in Chislehurst weilenden Kaiserin gesandt, Graf Clary auf Wilhelmshöhe ein, um Napoleon von der Flucht der Kaiserin und ihrer Überfahrt nach England zu berichten. Graf Clary war mit dem Kaiser verwandt; die verwitwete Großherzogin Stephanie von Baden, Adoptivtochter Napoleons I., war eine Gräfin Clary gewesen. Eine ihrer Töchter, die in Baden-Baden lebende verwitwete Herzogin von Hamilton, die am Pariser Kaiserhof eine glänzende Rolle gespielt hatte und auch zur preußischen Königsfamilie in freundschaftlichen Beziehungen stand, besuchte den Kaiser gleichfalls in der ersten Hälfte des September auf Wilhelmshöhe. Das Wiedersehen mit seiner Kusine rührte Napoleon zu Tränen. Beim Diner sprachen die Generale, die der preußischen Armee die größte Bewunderung zollten, die Hoffnung aus, daß die deutschen Truppen in Paris einziehen würden und dann Kaiser Napoleon unter dem Schutze Preußens seinen Einzug in Paris halten und zugunsten seines Sohnes abdanken werde. Die Herzogin übermittelte Königin Augusta den Wunsch der Umgebung Napoleons, Zivil tragen zu dürfen, und wenige Tage darauf traf die Erlaubnis

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[352  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

{*) G. Horn a.a.O.}

hierzu aus dem Hauptquartier des Königs ein. Ende Oktober brachte der Fall von Metz neuen Besuch, der den »König von Preußen« in Kassel und das Hotel Schombardt in Wilhelmshöhe bis auf den letzten Platz füllte. Außer Bazaine trafen ein die Marschälle Tanrobert und Lebœuf, der bisherige Kriegsminister, ferner General Forton, General Duplessis, Kommandant Lambert, Prinz Charles Bonaparte, der Vetter des Kaisers, die Herzöge von Bassano und von Paulou, der frühere Polizeipräfekt von Paris Pietri, ein Bruder des Geheimen Kabinettsekretärs, später auch General Fleury und manche andere. Prinz Joachim Murat schilderte das Elend, das man in Metz ausgestanden hatte. Er trug eine Art Joppe, ein großes Tuch um den Hals geschlungen, hohe Reiterstiefel, die an der Seite durchlöchert und mit Papier ausgestopft waren, damit die Nässe nicht eindringe. Er war physisch und moralisch herunter.«{*)} Am 5. November erschien auf Wilhelmshöhe ein begeisterter Imperalist, ein gewisser Reynier, der sich in den Kopf gesetzt hatte, das Kaiserreich zu retten. In Hastings, wo sich damals Eugenie befand, hatte er sich vom Prinzen eine Photographie von Hastings, gleichsam als Legitimation, mitgeben lassen mit der Unterschrift: »Voici une vue de Hastings qui plaira à mon cher papa. Louis.« Er wurde aber, da Napoleon von der Kaiserin vor ihm gewarnt war, nicht vorgelassen. Die Bitte seiner Gemahlin, ihn besuchen zu dürfen, hatte der Kaiser wiederholt abgeschlagen; er war über die von ihr als Regentin veranlaßte Einberufung der Kammer verstimmt und wünschte außerdem nicht, daß sie sich von dem von ihm zärtlich geliebten Prinzen trenne. Da kamen an einem regnerischen Herbsttag mittags gegen 1 Uhr von Kassel zwei Droschken herauf, deren eine am Schloß vorfahren wollte, aber vom Posten angehalten wurde. Es entstieg ihr ein Herr Graf Clary und eine Dame, und da Clary darauf drang, daß sie zum Kaiser müßten, wurde er schließlich von dem Posten mit dem Bajonett bedroht. Darauf ließ er den Wagen zum Hotel Schombardt, dem jezigen Grand Hotel, fahren, wo die beiden Insassen der zweiten Droschke bereits ein Zimmer erhalten hatten. Graf Clary erhielt schließlich durch Intervention eines Hofbeamten mit der in tiefe Trauer gekleideten, dicht verschleierten Dame Einlaß zum Schloß. Im sogenannten Rondelsaal bezeigten einige Kammerdiener der Dame

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[353  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

unter dem Ausdruck höchster Überraschung tiefe Ehrfurcht, und nun war der Hofbeamte nicht mehr im Zweifel darüber, daß diese die Kaiserin Eugenie war. Als sie mit dem Grafen in die Nähe der Gemächer des Kaisers gekommen war, trat dieser mit den Herren seines Gefolges heraus, fing die Kaiserin in seinen Armen auf und hielt sie lange umschlossen; seit seiner Abreise zur Armee, am 18. Juli, hatte er sie nicht wiedergesehen. Die beiden bei Schombardt Abgestiegenen waren eine Kammerfrau und ein Kammerdiener Eugeniens, die mit dieser aus England gekommen waren. Für den Grafen Monts entstand nun die Schwierigkeit, wie er sich der Kaiserin gegenüber verhalten solle, zumal er für diesen unerwarteten Zwischenfall keinerlei Instruktion aus dem Hauptquartier zu Versailles hatte. Da man sie unmöglich bei Schombardt absteigen lassen konnte, wurden ihr schließlich in der Nähe der Gemächer Napoleons einige Zimmer eingerichtet, eine Maßregel, die später die volle Billigung des preußischen Königspaares fand. In Kassel blieb dieser Besuch einstweilen noch ein Geheimnis, obgleich sich das Pressebureau für alle den Kaiser betreffenden Nachrichten im Hotel Schombardt befand.

Durch Herausgabe der Briefe Napoleons an die Gräfin Luise de Mercy-Argenteau, eine geborene Prinzessin von Chiman, hat neuerdings Paul Lindenberg die politische Rolle näher beleuchtet, die diese Frau während der Gefangenschaft des Kaisers gespielt hat. Sie war schon nach dem Feldzug gegen Österreich eine der hervorragendsten Erscheinungen in der Pariser Gesellschaft gewesen, galt als die verführerischste Frau ihrer Zeit und war die letzte »Admiration« des Kaisers. Ihr Versuch freilich, für den gefangenen Herrscher bessere Friedensbedingungen zu erwirken, blieb ohne Erfolg. In dem Wunsche, dem Kaiser auf irgend eine Weise nützlich sein zu können, hatte sie zunächst aus dem Schlosse Ochaim bei Terwagne in Belgien, wo sich damals das gräf‌liche Paar aufhielt, im November 1870 ihren Gatten mit einem Schreiben nach Wilhelmshöhe geschickt. Napoleon erwiderte ihr: »Ich würde mich sehr freuen, Sie hier zu sehen. Unglücklicherweise bin ich so von Journalisten und anderen Personen umlagert, daß Ihre Ankunft hier der Gegenstand von tausend Zeitungsartikeln sein würde.« Aber die Gräfin beruhigte sich nicht bei diesem Bescheid. Nach wiederholtem Briefwechsel – das letzte Schreiben Napoleons, in dem er offen die Hoffnung ausspricht, von der Gräfin einen großen Dienst erwiesen zu sehen, ist vom 6. Februar 1871 – traf sie bereits

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[354–355  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

{*) Paul Lindenberg a.a.O.}


[355] Abb. 75. Gleichzeitiges satirisches Blatt auf Napoleons Gefangenschaft. (Humoristisches Kriegs-Album, Blatt IV. Bones und Geisler in Hamburg.)

Das Bild trägt die Unterschrift: ER in Wilhelmshöhe.

    Kalauer: Wie, kommt Louis auch zur Kasseler Ausstellung?
    Meyer: Ne, ER soll ja in Wilhelmshöhe Stubenarrest haben.
    Kalauer: Ach so, also weil ER Wilhelms Höhe nicht erreichen konnte, hat Ihn Wilhelms Höhe nach Wilhelmshöhe gebracht.
    Louis (summt vor sich hin): Einst spielt’ ich mit Scepter, mit Krone und Stern usw.

am 8. Februar in Kassel ein und erfuhr in Wilhelmshöhe von Napoleon, daß sie durch einen Besuch bei dem ihr persönlich bekannten Kaiser Wilhelm die Herbeiführung milderer Friedensbedingungen versuchen solle. Sie nähte das Schreiben Napoleons an den Kaiser in ihre Kleider, verließ unter dem Namen einer Madame Händel mit einem vom Grafen Monts ausgestellten Paß Kassel und gelangte unter mancherlei Schwierigkeiten nach Versailles, wo ihr Bismarck sofort eine Audienz beim Kaiser verschaffte. Kaiser Wilhelm, der sie äußerst huldvoll empfing, überreichte sie das Schreiben Napoleons, in dem dieser um den Austausch der Gefangenen und um Milderung der Friedensbedingungen bat. Die erste Bitte wurde gewährt, die zweite aufs entschiedenste abgelehnt. Beim Hinaustreten begegnete sie im Korridor Jules Favre, der gekommen war, um die Friedenspräliminarien zu unterzeichnen. Mit Hilfe eines ihr von Bismarck ausgestellten Passierscheines gelangte sie wieder nach Wilhelmshöhe, wo ihr Napoleon für den bewiesenen Mut aufrichtigen Dank zollte. Im März machte er nochmals den Versuch, durch die Gräfin auf Bismarck dahin zu wirken, daß sein Geschick bei dem bevorstehenden Friedensschluß eine günstigere Wendung erhalte. Der Inhalt ihres an Bismarck gerichteten Schreibens ist nicht bekannt, als Antwort erhielt sie von diesem am 27. März folgende Depesche: »Votre allusion aux conditions de la paix me surprend et mempêche de répondre à votre lettre. Cela est absolument impossible.«{*)} Damit war auch dieser Versuch gescheitert. Trotzdem hörte, wie die späteren Briefe Napoleons zeigen, die Gräfin in ihrem Bestreben, diesem nützlich zu sein, nicht auf, sich persönlichen Gefahren auszusetzen, ohne freilich ihr Ziel zu erreichen.

Von Wilhelmshöhe aus erließ Napoleon auch am 4. Februar die Proklamation an das französische Volk, in der er gegen die Usurpation der Regierungsgewalt durch ein »gouvernement sans mandat« protestierte. Sie wurde in 6000 Exemplaren an die Maires der Ostdepartements verschickt, – das Kaiserreich rang um seine Existenz. Die französischen Generale auf Wilhelmshöhe unterhielten Verbindungen mit den in Deutschland kriegsgefangenen Militärs. Offiziere und Soldaten kamen nach Wilhelmshöhe, wurden empfangen und beschenkt; wiederholt fah man Zuaven in den Parkanlagen promenieren. [355] Noch am 6. März, nach dem Einzug der deutschen Truppen in Paris, richtete Napoleon an den Präsidenten der Nationalversammlung einen Protest, in dem er nicht nur seine Entsetzung als ungesetzlich bezeichnete, sondern auch den Vorwurf, als habe er den Krieg und damit das Elend von Frankreich veranlaßt, zurückwies. Dieser Protest wurde unter Kreuzband an die in Deutschland gefangenen Offiziere und Unteroffiziere verschickt.

Der überaus strenge Winter von 1870 auf 1871 hatte den Kaiser, der sich in Kassel einen tüchtigen Pelz beschaffte, veranlaßt, am 2. Dezember in den Südflügel umzuziehen, wo im Gegensatz zu den Kaminen der übrigen Schloßräume wirkliche Öfen eine erträgliche

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[356  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. 1870/71]

Temperatur ermöglichten. Seine Versuche, auf dem nahen Lac Schlittschuh zu laufen, gab Napoleon schon bald wieder auf. Wenn auch sein altes Steinleiden wesentlich gehoben war und sich überhaupt des Kaisers Aussehen sehr gebessert hatte, so war doch die alte Spannkraft des Körpers dahin. Dagegen unternahm er mit besonderem Vergnügen Fahrten in einem der Schlitten, die vom Berliner Marstall gekommen waren.

Als Kaiser Wilhelm am 16. März auf der Reise von Versailles nach Berlin über Frankfurt kam, übermittelte ihm dort Graf Monts den Wunsch Napoleons, Wilhelmshöhe bald verlassen zu können; schon am 13. März hatte ihm Bismarck von Versailles aus angekündigt, daß er seine Freiheit wieder habe. Kaiser Wilhelm gab dem Grafen einen Brief mit, in dem Napoleons Entlassung ausgesprochen war. Als Tag der Abreise nach Chislehurst bestimmte Napoleon den 19. März; Wagen und Pferde gingen nach seinem Landsitz Arenenberg in der Schweiz ab. Am Tag vor der Abfahrt besuchte der Kaiser noch die Ahnengalerie der hessischen Fürsten in der Schloßkuppel, vor der Abreise hörte er noch die Messe. Im Vestibül verabschiedete er sich vom Personal der königlichen Hofhaltung und der Gartenverwaltung. »Nun gehe ich ins Exil,« sagte er, während Tränen über seine Wangen rollten. Vor der Rampe erwies ihm die Ehrenwache die militärischen Honneurs. Als der Wagen die Allee hinab zur Station fuhr, wurde noch eine Depesche nachgebracht; sie enthielt die Nachricht von dem Aufstand der Kommune in Paris. Am Bahnhof bildeten zwei Kompagnien Dreiundachtziger Spalier und erwiesen auch hier mit klingendem Spiel die militärischen Ehren. Es waren die letzten, die Napoleon, noch dazu von preußischen Soldaten, empfing. So fuhr der Kaiser in dem vom preußischen Hof gestellten Extrazug dahin; General Graf Monts geleitete ihn bis zur belgischen Grenze. Da schon bei der Herreise Napoleons die belgischen Volksmassen eine drohende Haltung eingenommen hatten, wurde der Ertrazug durch Belgien schon in Herbestal, also auf deutschem Gebiet, rangiert. Die Verabschiedung vom Grafen Monts, dem zwei Briefe für das deutsche Kaiserpaar übergeben wurden, war eine sehr herzliche. Dann fuhr Napoleon weiter – dem Exil entgegen.

In Chislehurst ist er schon nach kaum zwei Jahren, am 9. Januar 1873, gestorben.

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[357  Die Neuzeit.]


Abb. 76. Schloß von Nordosten aus gesehen.

Die Neuzeit.

Am 15. August 1867 hatte König Wilhelm von Bahnhof Wilhelmshöhe aus, an der Spize eines glänzenden Gefolges auf seinem Leibroß Sadowa reitend, seinen Einzug in Kassel gehalten. Unter einem a m Wilhelmshöher Tor errichteten Triumphbogen wurde er von den Vertretern der Stadt empfangen und hob in seiner Erwiderung auf die Ansprache des Oberbürgermeisters Nebelthau hervor, daß der Umschwung der Verhältnisse in Hessen eine Folge der politischen Notwendigkeit, nicht seiner freien Entschließung gewesen sei, und daß er darum mit gutem und ruhigem Gewissen die Landeshauptstadt betrete. Während der dreitägigen Anwesenheit des Königs fanden glänzende Festlichkeiten statt; am letzten Tag besuchte er die Grabstätte seiner Tante, der vorletzten Kurfürstin, auf dem alten Totenhofe und besichtigte am Nachmittag die Wasserkünste zu Wilhelmshöhe.

Die Kapitulation von Sedan brachte Napoleon III. als Kriegsgefangenen nach Wilhelmshöhe. Vier Monate nach seiner Entlassung, am 11. Juli, hielt, von Blumen überschüttet, unter dem Läuten der Glocken und dem Donner der Kanonen die aus dem Feldzuge zurückkehrende 26. Division ihren Einzug in Kassel; dem an der Spitze reitenden kommandierenden General v. Bose wurde vom Oberbürgermeister

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[358–359  Die Neuzeit.]

{*) H. Schmidtmann, Erinnerungsbilder, Seite 359.}


[359] Abb. 77. Fällen der alten Kaskadenfichten 1904. (Aufnahme von C. Schenhing in Kassel.)

Abb. 78. Herkules im Schnee mit den 1881 angepflanzten Fichten. (Aufnahme von Fr. Bruns in Kassel.)

am Wilhelmshöher Tor ein goldener Lorbeerkranz überreicht, auf dessen Blättern die Schlachten und Gefechte, an denen das Korps teilgenommen hatte, in silbernen Lettern verzeichnet waren. Am 18. September traf der deutsche Kronprinz, nachmalige Kaiser Friedrich III., um sich von den Strapazen des Krieges zu erholen, mit seiner Familie auf Wilhelmshöhe ein; er empfing am folgenden Tage eine Deputation des Kasseler Stadtrates und Bürgerausschusses, wobei er sich in der anerkennendsten Weise über die Haltung der hessischen Regimenter aussprach. Am 25. September kehrte, wiederum durch das Wilhelmshöher Tor, auch die 22. Division aus Frankreich zurück; beim Einzug in die festlich geschmückte Stadt setzte sich der Kronprinz an ihre Spitze. »Es war ein wahrhaft herzerhebender Anblick, die männlich schöne, kraftvolle Heldengestalt unseres Kaisersohnes an der Spitze des Juges einherschreiten zu sehen, neben sich, auf einem Doppel-Ponny, seinen zwölfjährigen Sohn, den Prinzen Wilhelm, unseren jetzigen Kaiser. Unablässig grüßte er mit seinem Feldmarschallstab nach allen Seiten hin und blickte lächelnd mit freundlich strahlenden Augen auf die ihm begeistert zujubelnde Menge.{*)}« Am 18. Oktober, dem Geburtstag des Kronprinzen, zogen weit über 8000 Menschen nach Wilhelmshöhe, um dem Kronprinzen ihre Huldigung darzubringen. Das Hotel Schombardt wie die anliegenden Staatsgebäude waren illuminiert. Gegen 8 Uhr rückte ein riesiger Fackelzug vor das Portal des Schlosses, und eine am Bassin aufsteigende Rakete gab das Zeichen zum Beginn der Festlichkeit, die mit dem Vortrag der Abtschen »Abendglocken« eingeleitet wurde. Die in mehreren Farben ausgeführte Beleuchtung der Kaskaden und des Herkules mißglückte teilweise wegen der ungünstigen Windströmung, um so großartiger gestaltete sich die Beleuchtung der großen Fontäne, des Bassins und der anliegenden Partien. Erst spät am Abend kehrte die festlich bewegte Menge durch die illuminierte Allee zur Stadt zurück.

Im Jahre 1874 beschloß der deutsche Kronprinz, abweichend von der bisherigen Tradition im Hohenzollernhause, seine beiden Söhne einer öffentlichen Schulanstalt zu übergeben. Ein Schreiben des Kronprinzen aus dieser Zeit an seinen früheren Hofmarschall, Gustav zu Putlitz, erwähnt auch den Grund zu diesem Entschluß. Es heißt darin:

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[360  Die Neuzeit.]

»Natürlich wurde uns derselbe nicht leicht, da eine Trennung von den Kindern unvermeidlich war und nur zur Ferienzeit kurze Begegnungen möglich sind; allein da wir überzeugt waren, unserer Söhne Wohl und Bestes zu fördern, so erschien uns kein Opfer zu groß. Dem Charakter Wilhelms, der sich sonst günstig entwickelt, wird die geistige Gymnastik auf der Schulbank gewiß heilsam sein, um manche Vorurteile abzustreifen, die in der Zurückgezogenheit privater Erziehung nicht ausbleiben können.« Man entschied sich – Berlin kam als Großstadt und wegen des Hoflebens nicht in Betracht – für das Lyceum Fridericianum in Kassel, das schon damals unter seinem Direktor Gideon Vogt weithin einen guten Ruf hatte. Prinz Heinrich sollte mit Rücksicht auf den späteren Seemannsberuf das Kasseler Realgymnasium besuchen. Auf eine Anfrage des Kronprinzen antwortete Vogt, daß er den Wunsch der Eltern als Befehl ansehe, jedoch von dem Prinzen ebenso strenge Beobachtung aller Pflichten wie von jedem anderen Schüler erwarte. Das entsprach ganz den Absichten des Kronprinzen, und am 11. September 1874 trafen die beiden Prinzen zu mehrjährigem Aufenthalt in Kassel ein. Während des Sommers residierten sie auf Schloß Wilhelmshöhe, von wo sie täglich zur Schule herunterritten, im Winter bewohnten sie das neben dem Lyceum in der Königsstraße gelegene Fürstenhaus, dessen Garten durch eine für den persönlichen Gebrauch des Prinzen Wilhelm errichtete Treppe mit dem Schulhof verbunden war. Die Erzieher General v. Gottberg (Militärgouverneur) und Dr. Hinzpeter (Zivilgouverneur) hatten die Prinzen auch nach Kassel begleitet. Von Hinzpeter besitzen wir aus dieser Zeit eine eingehende Charakterstudie über den Prinzen Wilhelm; auch Franz Ayme, der französische Hauslehrer, bringt in seinem Buche neben manchem schiefen Urteil über Deutschland und den deutschen Kaiser interessante Episoden. Prinz Wilhelm, der an allen Unterrichtsstunden, bis auf die französischen, teilnahm, fügte sich leicht in das Schulleben. Sein Verkehr mit den Mitschülern, die während der Pause oft mit dem Prinzen, der gewöhnlich erst um 12 Uhr zu frühstücken pflegte, ihr Frühstück teilen mußten, war außerordentlich kameradschaftlich. Zu seinen Spazierfahrten in Begleitung Dr. Hinzpeters wurden gewöhnlich einer oder zwei von ihnen eingeladen; oft wurden auch bei Bier und belegten Brötchen im Wilhelmshöher Schloß gemeinschaftlich ältere und neuere Dichter gelesen. Über einen Besuch auf Wilhelmshöhe

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[361  Die Neuzeit.]

erzählt Ayme eine hübsche Anekdote. »Eines Abends«, schreibt er, »als ich mich nach Wilhelmshöhe begab, wo ich zum Diner geladen war, verwehrte mir die Schildwache Eintritt ins Schloß und kreuzte die Bajonetts überm Weg. Prinz Heinrich krümmte sich vor Lachen, als er mein Abenteuer hörte. ›Nein, sind Sie ein gutmütiger Mensch‹, sagte er. ›Sie hätten den Kerl nur einen Schafskopf zu nennen brauchen, so hätte er vor Ihnen präsentiert.‹« Am 23. Januar 1877 bestand Prinz Wilhelm als zehnter unter siebzehn Abiturienten die Prüfung und erhielt für seinen Fleiß eine der drei Richterschen Denkmünzen, die alljährlich an der Anstalt verteilt werden. Zwei Tage später verließ er, während Prinz Heinrich noch bis zum April dortblieb, Kassel. Da er erst im Herbst die Universität Bonn beziehen wollte, wurde er im Februar dem 1. Garderegiment zu Fuß zur praktischen Dienstleistung eingereiht. Stets erinnerte er sich später mit besonderer Freude seiner Kasseler Lehrer und der hessischen Jungen, die zweieinhalb Jahre lang mit ihm auf der Schulbank gesessen hatten.

Acht Jahre, nachdem der Kaiser der Franzosen nach Wilhelmshöhe überführt worden war, suchte und fand der Sieger von Sedan hier oben in reiner Waldesluft die Erholung, die ihm nach schmachvollen Attentaten noch ein Jahrzehnt an Lebensjahren schenken sollte. Es war ein wundervoller Septembermorgen des Jahres 1878, als Kaiser Wilhelm I. nach 22stündiger ununterbrochener Fahrt von Gastein aus auf Bahnhof Wilhelmshöhe ankam und dann im offenen Wagen, den rechten Arm noch in der Binde, zum Wilhelmshöher Schloß hinauf‌fuhr, von brausenden Jubelrufen der Bevölkerung begleitet. Am Nachmittag – es war ein Sonntag und in Kassel tagte damals die 50. Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte – strömten Tausende in die Parkanlagen in der Hoffnung, den Kaiser bei den Wassern zu sehen. Beim Steinhöferschen Wasserfall erschien er dann auch im offenen Wagen, einen Kornblumenstrauß in der Hand, mit der Kaiserin, die schon einige Tage früher auf Wilhelmshöhe eingetroffen war, und fuhr mit den »Wassern« zu Tal. Schon am Tage nach der Ankunft konnte er seine ersten Reitversuche anstellen, die zur allgemeinen Verwunderung sehr bald vom Schritt zum Galopp übergingen; das Pferd, das er bestieg, stand in einer besonderen Vertiefung, so daß sich der Kaiser nicht mit Hilfe des Steigbügels in den Sattel zu schwingen brauchte, sondern sich von ebner Erde aus in diesen setzen konnte. Einige Tage später trafen

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[362–363  Die Neuzeit.]


[363] Abb. 79. Löwenburg. Neuere Aufnahme. (Graph. Kunstanstalt von A. Schlemming in Kassel.)

eine Reihe von Fürstlichkeiten, darunter der deutsche Kronprinz, ein; unter den höheren Offizieren befand sich auch Generalfeldmarschall v. Moltke. Am nächstfolgenden Sonntag huldigten 9000 Schulkinder dem Kaiser auf dem Friedrichsplatz zu Kassel – ein unvergeßlicher Anblick. Die Knaben schwenkten, vor dem Balkon des Residenzschlosses vorüberziehend, ihre Müzen, während die Mädchen, Kornblumenkränze in den aufgelösten Haaren tragend, ihre Sträuße zu den Füßen des 82jährigen Herrn niederwarfen. Am Abend desselben Tages fand zu Wilhelmshöhe auf dem Bowlinggreen großer Zapfenstreich sämtlicher Militärkapellen des elften Armeekorps statt. Die Kaskaden wurden mit 6000 pechtöpfen beleuchtet, und die große Fontäne, in elektrischem Licht grün, blau oder rot erstrahlend, ließ während der Dauer des Zapfenstreichs ihre Wassermassen zum nächtlichen Himmel aufsteigen. Eine Illumination der Residenzstadt beschloß diese ungetrübten Festtage, unter deren Eindruck die gesamte Bevölkerung gestanden hatte. Alle Straßen prangten in Tannengrün, auf den Hüten, im Knopfloch, auf blonden Kinderköpfen zum Kranz gewunden, sah man des Kaisers Lieblingsblume, das Symbol der deutschen Treue, und eine vom Kasseler Hofgraveur Schlemming geprägte medaille sollte auch für spätere Zeiten die Erinnerung an diese Tage festhalten, die der Lebensrettung des schlichten Mannes eine schlichte und spontane Huldigung dargebracht hatten.

Unter den Fürstlichkeiten, die im Laufe der nächsten Jahre nach Kassel kamen, war Nasreddin, Schah von Persien, der am 13. Juni 1889 mit einem exotischen Gefolge von 50 Personen zum Besuch der Jagd- und Sportausstellung dort eintraf, von den Reizen der Wilhelmshöhe ganz besonders gefesselt. Der Schah wohnte als Gast des Kaisers im Palais am Friedrichsplatz, dessen Mobiliar zu diesem Zweck aus den Gemächern des Wilhelmshöher Schlosses ergänzt wurde. Am Tage nach seiner Ankunft fuhr er in glänzender, über und über mit Goldstickerei und Edelsteinen besetzter Uniform im Vierspänner nach Wilhelmshöhe, wo er im Parterresaal des Schlosses von den Spitzen der Behörden empfangen wurde, worauf große Galatafel im Schloß stattfand. Dann unternahm er eine Fahrt durch die Parkanlagen, deren Bauten er sich durch Hofbaurat Knyrim erklären ließ. In der Frühe des nächsten Tages, auf den die Abreise bestimmt war, fuhr er nochmals nach Wilhelmshöhe, um dort fast den ganzen Tag zuzubringen. Er fuhr zum Herkules hinauf, erstieg das Oktagon,

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[364–365  Die Neuzeit.]


[365] Abb. 80. Schloß und Lac.

bewunderte die Kaskaden, die ihm zu Ehren gleich den übrigen Wassern angelassen wurden und fuhr dann an Teufelsbrücke und Aquädukt vorüber zum Schloß, wo er, die Aussicht von der großen Freitreppe aus genießend, bis zum Abend verweilte. Ehe er am folgenden Tag abreiste, kaufte er in Kassel noch eine Reihe von Ölgemälden der Wilhelmshöhe an. Nasreddin, der bereits das Journal seiner beiden früheren Europareisen in der offiziellen persischen Staatszeitung veröffentlicht hatte – dasjenige der zweiten Reise erschien 1874 auch in einer englischen Übersetzung – hat auch diese dritte Reise in einem kaiserlichen Tagebuch seinen Untertanen geschildert. Er hebt darin die großartigen Empfangszeremonien in Kassel hervor, bezeichnet die Kasselaner als einen schönen Menschenschlag, die Kasseler Frauen und Mädchen als leibhafte Grazien, beschreibt Park, Schloß, Kaskaden, Statuen und Blumenbeete auf Wilhelmshöhe, macht einen Exkurs über die Geschichte des Königreichs Westfalen, erzählt von dem Geschick Napoleons, das ihn tief gerührt hat, und beschreibt die von diesem im Schloß bewohnten Gemächer, wobei er noch besonders der unvertilgbaren Spuren unzähliger abgerauchter Zigaretten auf Napoleons Schreibtisch gedenkt.

Ende Juli desselben Jahres 1889 traf die deutsche Kaiserin zum erstenmal zu längerem Aufenthalt mit den kaiserlichen Prinzen auf Wilhelmshöhe ein, seit 1891 pflegt auch der deutsche Kaiser alljährlich nach der Nordlandsreise eine längere oder kürzere Zeit in Wilhelmshöhe zuzubringen. So ist Wilhelmshöhe ständige kaiserliche Sommerresidenz geworden; die Kaiserin, die gewöhnlich Ende Juli ihre Hofhaltung nach dort verlegt, pflegt diese meist bis Ende August auszudehnen, während der Kaiser gleichfalls Ende August durchschnittlich zwei bis drei Wochen auf diesem ihm seit seiner Gymnasiastenzeit liebgewordenen Fürstensiz verweilt. Dann sind die Augen der Welt auf Wilhelmshöhe gerichtet, und mehr als einmal haben sich dort weltgeschichtliche Ereignisse abgespielt. Während in früheren Jahren die kaiserlichen Prinzen nach Herzenslust durch die ausgedehnten Parkanlagen ritten, radelten oder kutschierten, ist es in letzter Zeit stiller geworden, nur noch die Prinzessin begleitet ihre kaiserliche Mutter, während die Prinzen meist nur auf wenige Tage zu Besuch kommen, um sich in der Waldluft des Parkes zu kräftigen, der sie heranwachsen sah, und in dem– nach einem Ausspruch ihres Arztes – jeder Atemzug einen Taler wert ist. Wenn die kaiserliche Standarte

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[366–367  Die Neuzeit.]


[367] Abb. 81. Große Fontäne.

vom Schlosse weht, vermag die von Kassel herauf‌führende Straßenbahn die Scharen der Einheimischen und Fremden kaum zu fassen. Der Kaiser ist auch auf Wilhelmshöhe ein Frühaufsteher. Vormittags unternimmt er meist in Begleitung der Kaiserin einen Spazierritt, der bis zur Höhe des Berges zu führen pflegt, nachmittags wird zu Wagen irgendein näher oder entfernter gelegener Punkt des an Naturschönheiten so reichen Habichtswaldes aufgesucht und dann im Freien der Tee eingenommen. Oft auch kann man den Kaiser mit einigen Herren des Gefolges und von seinen beiden Lieblingsteckeln begleitet auf ausgedehnten Fußwanderungen im Walde begegnen. Auch die Kaiserin ist eine tüchtige Fußgängerin; ein Unfall, den sie im Sommer 1907 beim Ausgleiten durch eine Aderverdrehung über dem Fußknöchel erlitt und der allgemeinste Teilnahme fand, fesselte sie zwar für längere Zeit ans Zimmer, hatte aber keinerlei weitere Folgen.

Wie in früheren Zeiten, so fand auch am 6. August 1894 anläßlich des Besuches des Herzogs Friedrich Ferdinand von SchleswigHolstein-Sonderburg-Augustenburg und seiner Gemahlin eine Beleuchtung des Herkules und der Kaskaden statt, die eine förmliche Völkerwanderung nach Wilhelmshöhe veranlaßte. Die Kaskaden waren durch Lämpchen illuminiert; es zeigte sich aber auch diesmal wieder, daß auf größere Entfernung hin eine eigentliche Wirkung ausblieb. Außerordentlich wirkungsvoll erwies sich dagegen eine in verschiedenen Farben abwechselnd erfolgende Beleuchtung des Oktogon und der darunter liegenden gigantischen Felsgrotten.

Fast jedes Jahr bringt übrigens fürstliche Gäste nach Wilhelmshöhe. So kamen 1895 die Kaiserin Friedrich, 1896 der Großherzog von Sachsen-Weimar und Prinz Heinrich von Preußen, 1900 der Fürst von Bulgarien, 1904 der deutsche Kronprinz zu Besuch. Am 9. August 1907 war eine der interessantesten Persönlichkeiten der östlichen Welt, Chulalongkorn I., König von Siam, als Gast auf Wilhelmshöhe. Vom Kaiser nachmittags auf Bahnhof Wilhelmshöhe empfangen, nahm er mit der kaiserlichen Familie im Park den Tee ein und besuchte die große Fontäne, die von ½ 5–½ 7 andauernd in Tätigkeit blieb; sodann fuhren die Majestäten im Automobil zum Herkules und besichtigten von der Plattform aus die Kaskaden, die angelassen worden waren. Abends fand im Wilhelmshöher Schloß Diner zu Ehren des Königs statt, der am nächsten Tage von Kassel aus seine Reise fortsetzte. [367] Von besonderer politischer Bedeutung war der Besuch König Eduards VII. von England am 14. August 1907; bereits als Prinz von Wales hatte er 1900 und genau ein Jahr später als König dem Kaiser einen Besuch auf Wilhelmshöhe abgestattet. Die Zusammenkunft von 1907, die die gesamte europäische Presse wochenlang beschäftigte, war durch die politische Lage besonders bedeutsam. In

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[368  Die Neuzeit.]

ihrer 800jährigen Geschichte hat die Wilhelmshöhe wohl keinen zweiten Tag zu verzeichnen, der solche Menschenmassen in ihrem Park vereinigte. Schon die Frühzüge der Bahnen hatten unermeßliche Scharen von Fremden gebracht. Vereine, Innungen, Schulen und Truppen bildeten zwischen Bahnhof Wilhelmshöhe und dem Schloßpark Spalier. Die Kasseler Garnison war noch durch die Mündener Pioniere, die schmucken Marburger Jäger, durch Infanterie aus Göttingen, durch eine Batterie Artillerie aus Frizlar und ein Bataillon 83er aus Arolsen verstärkt worden. Der König, der gegen 1 Uhr mittags ankam, fuhr mit dem Kaiser in einem à la Daumont bespannten und von vier Trakehner Rappen gezogenen Galawagen, der von einer Schwadron der 14. Husaren eskortiert wurde, zum Schloß hinauf, wo er von der Kaiserin und Prinzessin Viktoria Luise begrüßt wurde. Während des nun erfolgenden, ¾ Stunden währenden Vorbeimarsches der Truppen war die große Fontäne angelassen. Nachmittags fand eine Ausfahrt nach dem Reinhardswald, abends große Tafel im Schlosse statt. Der Kaiser betonte in seinem Trinkspruch die alten Beziehungen zwischen dem englischen und deutschen Fürstenhaus; er erblicke in dem heutigen Besuch auch den Ausdruck der guten Beziehungen zwischen den beiden Völkern. Der König dankte in deutscher Sprache für den herzlichen Empfang; es sei sein größter Wunsch, daß zwischen beiden Ländern nur die besten und angenehmsten Beziehungen beständen; das deutsche Kaiserpaar könne überzeugt sein, daß es in England vom gesamten englischen Volke mit der größten Freude empfangen werde. Erst gegen 12 Uhr abends erfolgte die Abreise des Königs.

Ein welthistorischer Moment war es auch, als sich der neu ernannte Oberkommandierende der verbündeten Truppen in Ostasien Generalfeldmarschall Graf v. Waldersee seinem obersten Kriegsherrn vorstellte. Graf Waldersee, der am 8. August 1900 eintraf, nahm mit seiner Gemahlin im Wilhelmshöher Schlosse Wohnung. Während seiner Anwesenheit überbrachten italienische Stafettenreiter, ein Leutnant und vier Lanciers, dem deutschen Kaiser das letzte Handschreiben des am 29. Juli 1900 ermordeten Königs Humbert von Italien. Diesen war bis zur bayrisch-hessischen Grenze eine Abordnung des in Kassel in Garnison liegenden Husarenregiments entgegengeritten; am Eingang zum Wilhelmshöher Park wurden sie vom kommandierenden General des elften Armeekorps begrüßt und dann vom Kaiser

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[369  Die Neuzeit.]


Abb. 82. Parade der hessischen Truppen vor König Eduard VII. und dem deutschen Kaiserpaar auf Wilhelmshöhe.

an der Freitreppe des Schlosses empfangen. Leutnant Boselli, der seinen Degen gezogen hatte, erstattete seine Meldung und legte das Handschreiben seines Königs in die Hände des Kaisers. Die Patrouille, die die Strecke Rom-Kassel (2400 km) in 29 Tagen zurückgelegt hatte, nahm am 10. August noch in der Suite des Kaisers an einer Felddienstübung der Kasseler Garnison zwischen Wilhelmshöhe und Elgershausen teil. Die Verabschiedung Waldersees, der sich bereits am 9. August nach Berlin begeben hatte, fand am 18. August im Kasseler Residenzschloß statt. Auch der wiederholten Besuche des deutschen Reichskanzlers, des Fürsten Bülow, auf Wilhelmshöhe (17. August 1905, 17. August 1906, 13. August 1907) muß hier Erwähnung geschehen. Von allgemeinem Interesse war es, als am 24. August 1906 Prinz Hans Carolath dem Kaiserpaar im Wilhelmshöher Schloßpark die Wirksamkeit der Wünschelrute demonstrierte.

Noch einige Daten, die eine Chronik der Wilhelmshöhe, will sie einigermaßen auf Vollständigkeit Anspruch machen, nicht übergehen darf. Professor Herman Grimm, ein Sohn Wilhelms, hatte 1875 oder 1876 die Absicht, sein berühmtes Buch über »Goethe« in der

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[370–371  Die Neuzeit.]

{*) Da dieser Teil der Parkanlagen zur Baumschulverwaltung gehörte, geschahen diese Arbeiten unter Leitung des Hofgärtners Fuchs.}


[371] Abb. 83. Blick von der Schloßterrasse auf Bowlinggreen, Fontänenbassin (neben dem Jussow-Tempel), Plutogrotte, Kaskaden und Oktogon. Aufnahme des Atelier Kegel (T. Seldt) in Kassel.

{*) Am Vereinigungspunkt der beiden Straßen von Wilhelmshöhe nach Kirchditmold am Lindenberg. Die verschlossene Quelle des Dietrichs- oder Dutingsbrunnen lieferte das in Kassel neben dem Theater, im alten Regierungsgebäude und vor der Kattenburg fließende Prinzenwasser«.}

Kasseler Landesbibliothek, der langjährigen Stätte der Wirksamkeit der Brüder Grimm, zu schreiben. Als ihm dies, wie Hans Altmüller erzählt, nicht erlaubt wurde, führte er dann seinen Plan in Wilhelmshöhe, im Hotel Schombardt, aus. 1885 weilte Liszt zum Besuch des Kapellmeisters Lassen auf Wilhelmshöhe, 1892 beging dort der berühmte Rechtslehrer Rudolf von Ihering die Feier seines 50jährigen Doktorjubiläums, 1900 feierte Geheimrat Virchow dort seine goldene Hochzeit.

Schon 1887 hatte Hofgärtner Vetter sein 50jähriges Dienstjubiläum begangen. Ein annäherndes Bild seiner, sich über ein Vierteljahrhundert erstreckenden selbständigen Wirksamkeit auf Wilhelmshöhe mag, wenn auch in knappster Form, die hier folgende chronologische Übersicht geben. Besonders seitdem er durch die politische Umwälzung 1866 freiere Hand bekommen hatte, sorgte er in rastloser Tätigkeit für bessere Ausstattung der Beete, füllte die Gewächshäuser mit seltenen Pflanzen, verbesserte die Wege im Park, schaffte da, wo es nötig tat, Luft und Licht, schuf neue Aussichtspunkte, wo sich hierzu Gelegenheit bot, und führte überall im Park neue Gehölze ein, so daß kaum ein Jahr verging, in dem ihm der Park nicht wesentliche Verschönerungen zu verdanken hatte.

1867 ließ Vetter anstelle der verwilderten Gehölzgruppen zwischen Kaleschenweg und Königsweg neue Gruppierungen anpflanzen. Auch erfolgte die Auf‌lösung der ehemaligen Obsttreiberei sowie die Niederlegung der aus italienischen Pappeln bestehenden Ochsenallee. 1868 erhielt der nördliche Abhang des Apolloberges längs der Hauptstraße statt der alten Gehölzgruppen seltene Koniferen. 1869 wurden die alten Staudenquartiere im Blumengarten entfernt und hier der für Gärtner so hochinteressante Versuchsgarten für neue und seltene Koniferen, Sträucher und Rosensortimente angelegt. 1870/71 wurden in der Umgebung des Lac verschiedene Partien gelichtet und Durchblicke geschaffen, um die dort lagernden erratischen Blöcke besser zur Geltung zu bringen. Weiter begann man die vom Fuße der Kaskaden nach der Plutogrotte führende Tannenallee auszuroden, die durch fortwährende Windbrüche sehr lückenhaft geworden war; im folgenden Jahr wurden hier Blut- und gewöhnliche Buchen angepflanzt; ein kleiner, noch ziemlich vollständig gebliebener Teil der Allee blieb auf höhere Anordnung bestehen.{*)} 1871 wurden die noch stehenden Gewächshäuser der ehemaligen Treiberei auf Abbruch verkauft. 1872 fand eine vollständige Umgestaltung der eingegangenen Fasanerie statt; die alten Hühnerhäuser wurden entfernt und überall Nadelholzgruppen angelegt; zu gleicher Zeit wurde der alte Fahrweg oberhalb der Fasanerie von Grund aus hergestellt. Die 34 Morgen umfassenden Obst- und Gehölzbaumschulen wurden [371] aufgelöst, die Umfassungsmauern abgebrochen und dieses ganze Terrain durch Anpflanzungen und Anlegung von Wegen im Laufe der folgenden Jahre mit dem Park verbunden. Schon 1872 war vom Dietrichsbrunnen{*)} bis zur Ecke

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[372  Die Neuzeit.]


Abb. 84. Fontänenbassin.

des Lindenberges eine Wallnußbaumallee gepflanzt worden, die 1875 von der Ecke des neuen Obstgartens verlängert und auch an die Tulpenbaumallee angeschlossen wurde. 1873 wurde mit der Anlage einer neuen Baumschule am neuen Obstgarten begonnen. Als in diesem Jahr Hofgärtner Fuchs pensioniert wurde, wurde die Verwaltung der gesamten Parkanlagen Hofgärtner Vetter unterstellt. 1876 wurden auf der linken Seite des neuen Wasserfalls die durch Absterben der Fichten entstandenen Lücken durch Vorpflanzen von Laubholzbäumen maskiert; auch am Steinhöferschen Wasserfall wurden auf beiden Seiten die alten Buchen mit Rot- und Weißtannen unterpflanzt, um den Wasserfall gefälliger einzurahmen. Da die alten Kiefern und Fichten um den Weißenstein meist vom Sturm umgestürzt waren, wurde die dortige Felsenpartie mit seltenen Koniferen, Alpenpflanzen, Farren usw. bepflanzt. Im selben Jahr wurde die Waldpartie zwischen Steinhöferschem Wasserfall und Asch durchforstet. 1878 wurden verschiedene Gruppen von Lärchen und Linden, die die Aussicht nach den Kaskaden verhinderten, entfernt und zugleich eine Gruppe herrlicher Blutbuchen freigestellt. Zahlreiche Partien, so am Silberbrunnen, am oberen Apolloberg, an der Prinzessin-Allee, oberhalb des Aquädukts, an der Teufelsbrücke, am Weg nach der Sokrateseremitage und dem Entenfang wurden ausgehauen und unterpflanzt; um das neu erbaute Stationsgebäude der Straßenbahn wurden Wege, Grotten und Pflanzungen angelegt. In diesen und dem folgenden Jahre wurden neue Pflanzungen am Königsweg längs des Lac angelegt, wobei das Pflanzen großer Bäume mit der Versetzmaschine wegen des abhängigen Terrains große Schwierigkeiten verursachte. Am Ausfluß des Lac, am Appolloberg, hinter dem halbrunden Tempel, am Apollotempel (Jussowschen Tempel) hinter der großen Fontäne und an den Ufern des Fontänenbassins erfolgten neue Anpflanzungen. Nach »Engels Steinbruch« und »Möllers Ruh« wurden neue Fußwege geschaffen. An der Rasenallee nach Wilhelmstal wurden eine Reihe schlechter Pyramidenpappeln durch Ahorn ersetzt. \

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[373  Die Neuzeit.]


Abb. 85. Agavengruppe am Kirchflügel des Schlosses.

Nachdem im Winter von 1879 auf 80 die alten Partien im Schloßgarten und im Peterwäldchen von kranken Bäumen gesäubert waren, wurde tüchtig nachgepflanzt; hauptsächlich galt es, den herrlichen Wasserfall und die kleinen Inseln im Schloßgarten wieder zur Geltung zu bringen; hier wie im Peterwäldchen wurden die Wege passender verlegt. Die Ufer und die nächste Umgebung längs des Wasserlaufs vom Fontänenreservoir bis zum Fontänenbassin wurden mit geeigneten Nadelhölzern, Trauerbäumen und Sträuchern verschönert. Am Garten des Kaskadenaufsehers und am Kirschweg wurden Zedern vom Libanon und vom Himalaya, Taxodium, Pinus usf., die sich an tiefer liegenden Orten als nicht widerstandsfähig gegen unsern Winter erwiesen hatten, versuchsweise angepflanzt. Ebenfalls in diesem Jahre wurden die beiden Naturbrücken über die Abflüsse des Lac und des Fontänenreservoirs erbaut. 1881 fand die Umwandlung der großen Partie bei der Plutogrotte statt; die alten abständigen Weißtannen, Lärchen usf. wurden abgetrieben und die Fläche wieder bepflanzt; die Pflanzung wurde so eingerichtet, daß man von der Straße aus einen Blick auf die Teufelsbrücke erhielt. Im selben Jahre (1881) wurden auf beiden Seiten der Kaskaden zwei Reihen Rottannen gepflanzt, die später als Ersatz der absterbenden alten Rottannen dienen sollten. Bei dieser Anpflanzung,

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[374–375  Die Neuzeit.]

{*) »Wo ist ein Hofgarten, der auch nur annähernd diesen kostbaren Schätzen Gleiches aufzuweisen hat?« (Deutsche Gärtnerzeitung, 1891. Nr. 11.).}


[375] Abb. 86. Hofgärtner Franz Vetter.

{19) Über Tätigkeit und Ziele des jetzigen Hofgärtners vermag ich nichts mitzuteilen; wiederholt an diesen gerichtete höf‌liche Anfragen blieben unbeantwortet.}

die des steilen Bergabhanges wegen mit großen Schwierigkeiten verbunden war, wurde darauf gesehen, daß, im Gegensatz zu den alten Tannenreihen, die neuen das Oktogon völlig frei ließen. Im Herbste wurden die Steinpartien am Kirchflügel des Schlosses gesetzt, die zur Aufnahme von Agave, Aloe, Kaktus usf. bestimmt waren. 1882 wurde die andere Partie bei der Plutogrotte zwischen dem breiten Weg und der Straße sowie die Partie längs des Weges zum Merkurtempel angepflanzt; dadurch wurde ein herrlicher Blick von der Teufelsbrücke nach dem Merkurtempel und umgekehrt geschaffen. 1883 wurde der Weg von der Straße beim Friedhof nach den Villen zu Mulang hergestellt; überall in den Anlagen wurden in diesem und dem folgenden Jahr an geeigneten Plätzen neue oder noch nicht vertretene Arten und Varietäten von Bäumen und Sträuchern angepflanzt; namentlich wurden auf beiden Seiten des Neuen Wasserfalles gründliche Änderungen und Verbesserungen vorgenommen. 1886 wurden die schon vor Jahren begonnenen Alpenpflanzenanlagen im Rosengarten beendet und auch der Bau eines Orchideenhauses im Blumengarten begonnen. Schon im Vorjahre hatte Vetter aus Gent und Lüttich eine größere Anzahl guter Orchideen bezogen. Sein Garten bei der Hofgärtnerwohnung wurde mit der Zeit eine Berühmtheit.{*)} 1887 mußte der Mittelbau des großen Gewächshauses abgerissen und vergrößert werden und wurde dann zum Warmhaus eingerichtet. Als sich an den Rottannen im Park der aus den nahen Staatsforsten angeflogene Borkenkäfer zeigte, wurden die davon befallenen Stämme im Laufe des Sommers gefällt. 1889 wurden die in den Tannen- und Lärchenbeständen am Tannenkopf entstandenen Blößen mit etwa 18 000 Buchenpflänzlingen ausgefüllt. 1890 wurden die Gehölzgruppen bei der Roseninsel, am Apolloberg und am Neuen Wasserfall niedergelegt und neu bepflanzt. Auch die alten trockenen Tannenhecken im Löwenburggarten wurden ausgerodet; neue Hecken aus Thuja und Tarus traten an ihre Stelle.

Dieser gedrängte Überblick gibt ein schwaches Bild von dem, was Vetter auf Wilhelmshöhe geleistet hat. Er war sich stets bewußt, daß ein Gärtner das Schicksal des ihm unterstellten Parkes völlig in der Hand hat, und dieses Bewußtsein diente ihm zur alleinigen Richtschnur. Franz Vetter, am 6. Juni 1824 zu Rotenburg an der Fulda geboren, entstammte einer alten Gärtnerfamilie und war bei Paul Gollnhofer in Kassel durch die harte Schule der Handelsgärtnerei gegangen; später war er Gehilfe in Corvey, Detmold, Hannover, Bückeburg und Wien, bis er 1849 als Gehilfe in kurhessische Dienste trat. 1850/51 beschäftigte ihn Hofgartendirektor Hentze († 1874) im Bureau der Gartenrerwaltung, 1854 kam er nach Schönfeld und wurde im Januar 1864 kurfürstlicher Hofgärtner in Wilhelmshöhe. Er unternahm wiederholt Reisen durch Deutschland, nach Belgien und [375] der Schweiz zur Besichtigung bedeutender Gärtnereien; er selbst erzielte namentlich auch in der Pflege der Orchideen, der feinsten Warmhaus- und Kalthauspflanzen Leistungen, denen, wie die »Deutsche Gärtnerzeitung« schon 1887 (Nr. 17) zum Ausdruck brachte, kaum noch etwas in Deutschland an die Seite gestellt werden konnte. 1891 berief ihn der Kaiser als Königl. Hofgartendirektor nach Potsdam und übertrug ihm die Oberleitung der Hofgärten Preußens. Dort war ihm die Umgestaltung der königlichen Gärten anvertraut; er begann mit der Umgestaltung des sog. Eichenhaines im Park zu Sanssouci, um sich dann später den angrenzenden Partien des Parkes zuzuwenden. Sein Nachfolger in Wilhelmshöhe wurde Hofgärtner Fintelmann und diesem folgte 1899 der noch heute im Amte befindliche Hofgärtner Virchow.{19)} Vetter starb 1896. Zur Erinnerung

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[376  Die Neuzeit.]

{*) Diesen Stürmen fiel auch Europas größte und schönste Pyramideneiche nahe der großen Fontäne und die sog. tausendjährige Eiche am Weißenstein zum Opfer. 1905 legte ein Sturm Hunderte von Buchen auf der Höhe des Berges nieder, deren Wurzeln 1907 durch ein Kommando Mündener Pioniere gesprengt wurden.}

an sein verdienstvolles Wirken ließ der Kaiser 1897 eine vom Berliner Bildhauer Walter Schott geschaffene Herme mit dem Brustbild Vetters im Park zu Sanssouci errichten; eine Dublette dieser Herme wurde im Wilhelmshöher Park dem großen Gewächshaus gegenüber aufgestellt.

Die unter Vetter 1881 erfolgte Neupflanzung von Rottannen bei den Kaskaden sollte sich schon bald als gerechtfertigt erweisen. Denn schon 1904 war man genötigt, die alten, die Kaskaden säumenden Rottannen zu beseitigen, die unter Wilhelm IX. entweder angepflanzt oder gesät worden waren und bei einer Höhe von 40 m ein ungefähres Alter von hundert Jahren erreicht haben mochten. Das Niederlegen der beiden imposanten Baumreihen rief in der Residenzstadt eine gewisse Erregung hervor, und selten wohl sah der alte Christoph zur Winterszeit so viel Männlein und Weiblein zu seinen Füßen; jeder wollte sich noch einmal das Bild fest einprägen, das schon den Vätern und Urvätern lieb und vertraut gewesen war. Aber so schmerzvoll der Verlust dieser stimmungsvollen Umrahmung der Kaskaden vielen sein mochte, so schien doch ihr Fortbestand nicht mehr gut angängig gewesen zu sein; zeigte doch auch die Vettersche Neupflanzung, daß man schon lange mit diesem Umstand rechnete. Schon während einer Reihe von Jahren hatten die hier oben besonders heftigen Stürme{*)} bedenkliche Lücken gerissen, so daß durch den Sturz der alten Baumriesen, die noch dazu zurzeit vom Borkenkäfer befallen waren, nicht nur die Neupflanzungen gefährdet, sondern auch die Kaskaden selbst arg bedroht wurden. So war man denn gezwungen, die erbarmungslose Art an den Stamm dieser historischen Bäume zu legen. Bereits im Herbst 1904 wurden auf Befehl des Kaisers genau an der Stelle der alten neue Rottannen gepflanzt, die sich bei der auf‌fallend kräftigen Vegetation der Wilhelmshöher Flora rasch entwickeln werden.

Einem gleichen Schicksal verfiel 1907 die berühmte, durch Landgraf Friedrich II. angelegte Allee zwischen Kassel und Wilhelmshöhe, an der die Vergangenheit gleichfalls deutliche Spuren hinterlassen

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[377  Die Neuzeit.]

{*) Grundriß und genaue Maße finden sich in der für Fachleute bestimmten Dissertation von Phleps, Zwei Schöpfungen des Simon Louis Du Ry. Berlin 1908.}

hatte. Hatte schon die Dampfstraßenbahn mit ihren schwefeligen Dämpfen dem Astgerüst und Blätterschmuck große Verluste beigebracht, so wurde ihre Weiterentwicklung durch den Aufschwung der Industrie und des Verkehrs vollends untergraben; bei Anlage aller möglichen Leitungen mußten die Bäume manche Wurzel lassen, und die verheerenden Gasausströmungen taten das übrige. So kam es, daß Ende 1905 nur noch ein Viertel der Bäume ein leidlich gutes Aussehen aufwies. Im Februar 1907 beschloß die Stadtverordnetenversammlung in Kassel die Abholzung und Neubepflanzung der Allee vom Wilhelmshöher Platz bis zur Berlepschstraße. Am 1. Oktober 1907 fiel der erste Baum, am 11. März 1908 konnte, nachdem der Boden genügend vorbereitet war, wieder der erste Lindenbaum gepflanzt werden. Trotzdem verschiedene Lindenarten das Laub teilweise länger tragen, hatte man sich für die Krimlinde (Tilia euchlora oder dasystyla) entschieden, die sich durch ein prächtiges dunkelgrünes Blatt, glatten Stamm und schönen pyramidalen Wuchs auszeichnet. Zur Anpflanzung waren etwa 500 Bäume erforderlich.

Die Geschichte der Wilhelmshöhe hat nicht viel mehr zu berichten. Bemerkenswert dürfte es sein, daß vom 1. Oktober 1901 an der Marstall nur noch für die Unterbringung der kaiserlichen Pferde und Wagen benutzt wird. Unter dem letzten Kurfürsten diente er zur Aufnahme der kurfürstlichen Reit- und Fahrpferde und enthielt außerdem Wohnungen für einen Teil der diensthabenden Hofdiener, auch Ställe für die Pferde der Gendarmerie und Gardedukorps, die zum Dienst kommandiert war. Bald nach der Einverleibung Kurhessens wurde eine Eskadron des 14. Husarenregiments in den Marstall gelegt. Während des mobilen Verhältnisses 1870/71 lag dort die auch von Napoleon besichtigte reitende Ersatzbatterie des 11. Feldartillerieregiments. Nach der Rückkehr aus Frankreich kam die Eskadron Husaren wieder in den Marstall und blieb dort bis zur Vollendung der neuen Kaserne vor dem Frankfurter Tor im Herbst 1889. Die nunmehr in den Marstall gelegte reitende Batterie des 11. Feldartillerieregiments verblieb dort bis zum 1. Oktober 1901.

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde der Weißensteinflügel im Innern einem völligen Umbau unterzogen.{*)}

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[378  Die Neuzeit.]


Abb. 87. Grand Hotel Wilhelmshöhe. Im Hintergrund Wachthaus.

{20) Vgl. C. Scherer im Kass. Tagebl. u. Anz. 1897, Nr. 27 bis 30, Euphorion V. 1898, S. 502f., Zentralblatt für Bibliothekswesen XIV. S. 188.}

1899 wurde das im Schloßpark neben dem Marstall gelegene frühere Hotel Schombardt, das 1829 an Stelle des alten Gasthauses (1767) erbaut worden war, völlig neu eingerichtet und wird seitdem durch seinen neuen Pächter Hof‌lieferant Stecker als Grand Hôtel Wilhelmshöhe weitergeführt.

Streifen wir noch kurz das Schicksal einiger früher im Wilhelmshöher Schloß untergebrachten Sammlungen. 1880 wurde die Wilhelmshöher Porzellan- und Fayencesammlung durch Entschließung Kaiser Wilhelms I., in dessen Besitz die Sammlung verblieb, den Ausstellungsräumen im Unterstock der Kasseler Gemäldegalerie überwiesen. Die in Zimmer XV des Naturalienmuseums in Kassel aufgestellte »Geologische Sammlung von Hessen« scheint mir identisch zu sein mit derjenigen des 1793 von Wilhelm IX. im Wilhelmshöher Schloß errichteten Mineralienkabinetts; wann sie jedoch dorthin überführt wurde, ließ sich nicht ermitteln.

Die Wilhelmshöher Schloßbibliothek wurde vermutlich unter Landgraf Friedrich II. angelegt.{20)} Sein Sohn Wilhelm IX. ließ die von ihm schon in Hanau gesammelten Bücher mit einem Teil der von seinem Vater besessenen Bibliothek im Weißensteinflügel des Wilhelmshöher Schlosses aufstellen. Hofbibliothekar war 1788–1799 Strieder. Sein Nachfolger an der Hofbibliothek wurde der Hauptmann und General-Quartiermeister-Leutnant Vollmar, der 1805 durch den Geh. KabinettsArchivar Rat Adolf Gottsched ersetzt wurde. Unter Jérôme wurde dann auf Johannes v. Müllers Empfehlung hin Jakob Grimm mit

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[379  Die Neuzeit.]

der Verwaltung der kgl. Privatbibliothek auf Wilhelmshöhe betraut. Die Schicksale der Bibliothek wurden bereits an der Hand der von mir mitgeteilten Akten erwähnt (S. 298). Nach der Rückkehr des Kurfürsten wurde Rat Gottsched wieder Leiter der Hofbibliothek, die jetzt einen neuen Katalog erhielt. 1816 wurde Wilhelm Grimm nach Wilhelmshöhe befohlen, um sich in der Bibliothek so zu orientieren, daß er gegebenen Falles dort Dienst tun könne; hierzu ist es aber nicht gekommen. Im gleichen Jahre ließ der Kurfürst alle »Westphalica odiosa«, d.h. alle während der Usurpationszeit erschienenen Schriften absondern und zu einer Abteilung »Usurpation française de Hesse« vereinigen. Mit dem Jahr 1820 verschwindet die Wilhelmshöher Hofbibliothek aus dem Staatskalender. 1822 bestimmte der neue Herrscher, daß eine größere Anzahl von Werken aus der Wilhelmshöher Bibliothek der Kasseler Museumsbibliothek, die kriegsgeschichtliche Abteilung dem Generalstab zugewiesen würde. Es waren dies nach Wilhelm Grimms Schätzung im ganzen etwa 9000 Bände. Die Überweisung geschah in der Weise, daß aus den meisten Fächern alles Entbehrliche abgeführt wurde; außer rein wissenschaftlichen Werken gehörten dazu deutsche Romane, fast alle, meist von Spieß verfaßten Geister-, Gauner- und Rittergeschichten, französische Romane, die Livres de théatre, Zeitungen, die Westphalica odiosa und in Stärke von einem Viertelhundert die Livres obscènes. Ein von Völkel und den Brüdern Grimm hierüber angelegter Katalog wurde nicht vollendet. Die Überweisung war aber nur von kurzer Dauer. Als nach Annahme der Verfassung 1831 die Kasseler Bibliothek als Staatsgut anerkannt wurde, bestimmte der Kurfürst, daß die aus Wilhelmshöhe abgegebenen Bücher wieder zurückgeliefert würden. Da man bei ihrer Ausscheidung den seinerzeit unvollendet gebliebenen Katalog zugrunde legte, war es kein Wunder, daß der mit der Leitung der Wilhelmshöher Bibliothek betraute Museumsdirektor Hofrat Ruhl 1833 das Fehlen der größeren Hälfte feststellte. Unter großen Schwierigkeiten erfolgte bis auf 15 minderwertige Schriften die Rücklieferung in den Jahren 1833–1844. Von dieser Zeit an führte die Bibliothek, für die seit 1822 Neuanschaffungen nicht erfolgt waren, ein ungestörtes Dasein, bis sie 1897 in einem Umfang von etwa 13 000 Bänden auf Befehl des Kaisers der Landesbibliothek in Kassel überwiesen und so mit ihren zum Teil sehr wertvollen Schäzen der öffentlichen Benutzung zugänglich gemacht wurde; die Bibliothek selbst verbleibt Eigentum des kgl. Kronfideikommisses.

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[380  Die Neuzeit.]

{*) Die Umwandlung in elektrischen Betrieb erfolgte 1899, die Eröffnung der elektrischen Bahnstrecke Holländische Straße-Mulang 1900.}

Etwa 200 Opern und Singspiele wurden der kgl. Hausbibliothek in Berlin zugeführt, mehrere hundert Bände, meist Ausgaben deutscher und ausländischer Klassiker, auf Friedrich II. von Preußen bezügliche Werke, Soldatenlieder und die wertvolle Kupferstichsammlung blieben auf Wilhelmshöhe. Dieser Rest der Schloßbibliothek hat jetzt in einem Parterreraum des Mittelbaus, der vom Kaiser als Vortragszimmer benutzt zu werden pflegt, Aufstellung gefunden.

* * *

Noch bedarf die Entstehung der an die Wilhelmshöher Parkanlagen im Süden angrenzenden Villenkolonie einer Erwähnung. Die erste Villa baute dort bereits gegen Ende der 60er Jahre der frühere Leibarzt des Kurfürsten Sanitätsrat Dr. Schmidt. Es war dies das jetzt zur Wiederholdschen Kuranstalt gehörige Schweizerhaus. Einige Jahre später baute Rentier Reichel den daneben stehenden Fachwerkbau, und in diesen beiden Häusern mit dem dazwischengebauten Speisesaal begründete Dr. Wiederhold seine Kuranstalt. 1873 wurde auf Anregung des Buchhändlers Georg Wigand eine Aktiengesellschaft zur Erbauung des Pensionshauses Wilhelmshöhe gegründet. Wigand, der schon 1870 während der Industrieausstellung vom Königsplatz in Kassel nach Wilhelmshöhe Omnibusfahrten eingerichtet hatte, rief dann später die Dampfstraßenbahn ins Leben, wodurch der erste Anstoß zur Entstehung der Kolonie gegeben war.{*)} Am 5. Juli 1877 wurde die Tramway Kassel-Wilhelmshöhe eröffnet. Gegen Ende der 77er Jahre erwarb Kaufmann Julius Siebert von der Domänenverwaltung ein größeres Grundstück an der Rasenallee und legte hier einen großen Garten mit Landhaus an; um diesen herum entstanden die ersten Privatvillen. 1881 erbaute Sanitätsrat Dr. Greveler neben dem Pensionshaus seine große Kaltwasserheilanstalt. Als dritte große Kuranstalt wurde 1894 am Eingang des Druseltales die Goßmannsche Naturheilanstalt begründet. 1881 faßte Architekt Schmidtmann den Plan, nach dem System der englischen Cottages eine Anzahl Landhäuser, zu einer Kolonie vereinigt, gleichzeitig zu erbauen. Gemeinsam mit Kaufmann Schwarz erwarb er von der Domänenverwaltung zwei Hektar des an die Parkanlagen grenzenden Landes und machte auf

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[381–383  Die Neuzeit.]


[382] Abb. 88. Herkulesbahn im unteren Druseltal.


[383] Abb. 89. Herkulesbahn am Krähahn.

diesem den Anfang mit dem Bau größerer Straßen, zunächst durch Herstellung der jetzigen Burgfeldstraße, die er sofort mit vier Häusern bebaute. Damit war der Anfang zur eigentlichen Villenkolonie gemacht. Es folgte die Anlage der Park-, Linden- und Landgrafenstraße, die in wenigen Jahren mit Villen bebaut waren. Die Kosten der Straßenbauten wurden von den Grundbesitzern bestritten ohne finanzielle Beihilfe der Gemeinde, trotzdem diese durch die Kolonie an Steuerkraft erheblichen Vorteil hatte. Durch Zuzug von außen gewann die Kolonie an Ansehen und Ausdehnung. Gegen Ende der 90er Jahre erbaute Schmidtmann noch die jetzige Fürstenstraße und regte im Anschluß an diese die Ausführung weiterer Straßen an. Schon Mitte der 80er Jahre gründeten die Bewohner der Kolonie zur Herbeiführung eines einheitlichen Kanalsystems und der Zuleitung von Quellwasser mit einem Kapital von mehreren 100 000 M. eine Entwässerungsgenossenschaft, deren Vorsteher nacheinander Julius Siebert, Louis Reuse und Oberst Mende waren. Dadurch, daß die Gemeinde Wahlershausen als Muttergemeinde der aufblühenden Kolonie nicht die der hervorragenden Steuerkraft entsprechende Berücksichtigung in der Gemeindeverwaltung gewährte und die Kolonie bei den Wahlen keine oder nur geringe Vertretung in der Gemeindekörperschaft fand, entstand eine jahrelang dauernde Spaltung zwischen beiden Teilen der Gemeinde, die sich in dem Bestreben der Kolonie, sich als selbständige Gemeinde von der alten loszutrennen, geltend machte und zu einer zeitweiligen Sperre im Geschäftsverkehr zwischen Kolonie und Dorf führte. Erst durch das neue Kommunalwahlgesetz konnte die Kolonie eine entsprechende Anzahl Vertreter in die Gemeindeverwaltung hineinbringen, und seitdem besserten sich auch die Beziehungen zwischen beiden Teilen der Gemeinde. Am 1. April 1906 wurden sowohl das Dorf Wahlershausen als die Kolonie von Kassel einverleibt.

Einem tatkräftigen Mitglied der Kolonie, Direktor Gustav Henkel, verdankte diese die Gründung einer elektrischen Zentrale (1893) und dadurch die Einführung der elektrischen Straßen- und Hausbeleuchtung. 1896 errichtete Henkel im Anschluß an das Elektrizitätswerk das »Palmenbad«; ein Schwimmbad mit einem Wasserspiegel von 100 qm ist hier in ein mit tropischen Pflanzen und namentlich Palmen ausgestattetes Gewächshaus eingebaut. Noch bedeutsamer für das Aufblühen der Kolonie war der durch Henkel 1901–1903 vollendete Bau einer Gebirgsbahn zur Höhe des Karlsberges. Henkel hatte [382] ursprünglich eine Bergbahn von Bahnhof Wilhelmshöhe bis zum oberen Teil der Villenkolonie als Adhäsionsbahn vorgesehen; von da aus sollte diese als Zahnradbahn am Südabhang des Hunrods- und Hüttenberges weitergeführt werden. Dieses Projekt stieß jedoch bei der Forstverwaltung auf Widerspruch. Das spätere Mulangbahnprojekt der Firma Siemens & Halske machte den unteren Teil der geplanten Bahn als Personenbahn entbehrlich. Nunmehr arbeitete Henkel das Bergbahnprojekt als Güter- und Personenbahn aus, wobei er eine [383] Endigung am Herkulesplateau vorsah. Die Lage der jetzigen Endstation wurde durch das Oberhofmarschallamt vorgeschrieben; immerhin ist diese vom Oktogon in drei Minuten zu erreichen. Der Bau der Bahn konnte jedoch erst beginnen, nachdem eine Verständigung mit den Bergwerken erzielt war, für die eine belgische Gesellschaft eine Drahtseilbahn geplant hatte; diese Verständigung veranlaßte, daß der Herkulesbahn der Güterverkehr erhalten blieb. Die Henkelsche Gebirgsbahn, die 1903 dem Verkehr übergeben wurde, beginnt

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[384  Die Neuzeit.]

{*) Über die geologischen Ergebnisse dieser Bohrung vgl. die Erläuterungen zu der im Erscheinen begriffenen, von der Kgl. Geol. Landesanstalt herausgegebenen geologischen Karte, Blatt Wilhelmshöhe, geognostisch bearbeitet durch F. Benschlag und M. Blanckenhorn, Seite 7f.}

am Palmenbad, führt über Rasenallee und Kohlenstraße, verläßt diese unterhalb Neuhollands, um in der Talmulde südwestlich des Hüttenberges neben dem Druseltal auf die Höhe zu gelangen, wo bereits am »Krähhahn« gleichfalls eine kleine Villenkolonie im Entstehen begriffen ist. Die Erhebung vom Palmenbad bis zum Herkules beträgt 243 m. Die Strecke wird talwärts in 21, bergwärts in 20 Minuten zurückgelegt, wobei an drei Stellen eine Steigung von 1 zu 122 zu überwinden ist; an anderen Stellen schwankt die Steigung zwischen 1 zu 7 bis 1 zu 14. Eine magnetische Schienenbremsung ermöglicht es, die Wagen selbst bei der Talfahrt auf 1 ½ m Länge zum Stehen zu bringen. Eine Verlängerung der Herkulesbahn bis zur Einmündung der Kaiserstraße in die Wilhelmshöher Allee ist geplant.

Im September 1908 wurde dem Bergwerksbesitzer Robert Zimmer vom kgl. Oberbergamtsbezirke Klausthal (Harz) das Bergwerkseigentum in einem Felde von 2199 432,5 qm, belegen in den Gemeindebezirken Niederzwehren, Nordshausen, Wahlershausen und in den Gutsbezirken Wilhelmshöhe, Oberförsterei Kirchditmold und Elgershausen zur Gewinnung der in diesem Felde vorkommenden Solquellen verliehen, nachdem Zimmer nach mehrjährigen Versuchen 1908 in der Nähe der Dönche eine Solquelle erbohrt hatte.{*)} Da die ganze Frage noch nicht spruchreif ist, erübrigt es sich, hier auf die hieran bereits geknüpften Hoffnungen einzugehen. Ich beschränke mich deshalb darauf, ein Gutachten wiederzugeben, das ich der Liebenswürdigkeit des Direktors der Königl. Geologischen Landesanstalt in Berlin, Herrn Geheimrat Benschlag, verdanke (7. Okt. 1908):

»Die Bohrung fand unfern der Kreuzung der Rasenallee mit der Kohlenstraße statt und hat mehr als zwei Jahre Zeit beansprucht. Sie erreichte eine Tiefe von 1316 m. In den tieferen Teilen des Bohrloches wurde eine gehaltreiche Sole, die mit Kohlensäure imprägniert ist, erbohrt. In 1240 m Tiefe wurde die Temperatur zu 41,2 °C. ermittelt und die geothermische Tiefenstufe durch Kombination mit vorhergegangenen Wärmemessungen für jene Gegend auf 35 m festgestellt. Man ist gegenwärtig bemüht, diese warme Sole, über der im oberen Teile des Bohrloches kaltes Süßwasser steht, durch geeignete Pumpanlagen unter möglichst geringem Wärmeverlust zu Tage zu heben, und das Ziel dieser Bemühungen ist darauf gerichtet, schließlich durch allmähliche Erwärmung

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[385  Die Neuzeit.]


Abb. 90. Endstation der Herkulesbahn hinter dem Oktogon.

des das Bohrloch umgebenden Gesteins, nach Entfernung des oberen Süßwassers die warme Sole womöglich selbsttätig zum Ausfluß zu bringen. Dabei rechnet man auf die Mitwirkung der der Bohrlochstiefe entströmenden gasförmigen Kohlensäure.

Es ist demnach zu erwarten, daß man, sei es durch künstliches Heben, sei es durch eigenen Ausfluß, schließlich eine kohlensäurereiche warme Solquelle erzielt, die zu Badezwecken und event. auch zu Trinkzwecken Verwendung finden soll. über die genaue Zusammensetzung der Sole werden die Untersuchungen erst abgeschlossen werden können, wenn das erwähnte obere Süßwasser abgesperrt und durch längeres Pumpen ein konstanter Zustand erreicht worden ist. Dann wird das bekannte Laboratorium von Fresenius in Wiesbaden die genaueren Analysen bewirken.

Es ist geplant, um den Solebezug von allen Zufälligkeiten zu befreien, der Sicherheit halber noch ein zweites Bohrloch in der Nähe des bisherigen niederzubringen. Nach den geologischen Verhältnissen und der außerordentlichen Größe des Zufuhrgebietes kann auf eine Nachhaltigkeit und Konstanz des Solebrunnens gerechnet werden. Es ist daher beabsichtigt, bei Mulang ein

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[386  Die Neuzeit.]


Abb. 91. Wintersport hinter dem Oktogon.

Badehaus und Kurhaus vornehmen Stils zur Verwertung der Solquellen zu errichten. Der Solefund ist durch Verleihung von Seiten des Kgl. Oberbergamts in Klausthal gegen Konkurrenz und Eingriffe dritter völlig gesichert. Auch im übrigen haben die Behörden bisher dem Unternehmen, das bei der schönen landschaftlichen Lage von Wilhelmshöhe und dem jetzt schon sehr erhöhten Fremdenverkehr ein ebenso nützliches wie rentables zu werden verspricht, nicht nur keinerlei Schwierigkeiten in den Weg gelegt, sondern ihm alle Sympathie entgegen gebracht.
                                              Prof. Dr. Benschlag, Geheimer Bergrat.«

Es wäre zu wünschen, daß die Wilhelmshöhe hier an einem Wendepunkt ihrer Geschichte steht. Wie dem aber auch sein mag wie die Wilhelmshöhe durch ihre Parkanlagen und Wasserkünste, wie sie als kaiserliche Sommerresidenz alljährlich einen großen Fremdenstrom anzieht, so hat sie als Luftkurort auch heute schon internationalen Ruf; das bezeugt der hohe Prozentsatz, den das Ausland in der Zahl der Fremden darstellt. Immer dichter legt sich der Kranz von Villen um den Park, die Jahr für Jahr die Erholungsbedürftigen aufnehmen, in steigendem Maße wächst die Frequenz der Wilhelmshöher Heilanstalten, regelmäßige Konzerte und andere Veranstaltungen im Grand Hôtel und im Hotel Schombardt auf dem nahen Rammelsberg tragen dem Charakter eines vornehmen Kurortes Rechnung. Seit einigen Jahren ist man auch bestrebt, Wilhelmshöhe als Winterkurort in Aufnahme zu bringen. Ein dort begründeter Wintersportverein hat sich die intensive Pflege jedes Wintersportes Eislauf, Rodeln und Skilauf zur Aufgabe gemacht. Und wenn Orte, die früher im Winter ganz unberührt blieben vom Strom des Verkehrs, gerade durch den Wintersport zu ungeahnter Blüte gelangten, so sind auch in Wilhelmshöhe alle Vorbedingungen hierzu in der denkbar günstigsten Weise vorhanden, zumal die königliche Parkverwaltung der Ausübung dieses Sportes durchaus günstig gegenübersteht und z.B. die von den

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[387  Die Neuzeit.]


Abb. 92. Wintersport im Schloßpark.

Kaskaden herab an Plutogrotte und Aquädukt vorbei durch den Park führende Straße für den Rodelsport freigegeben hat. Wo gäbe es auch zur Betätigung des Wintersportes in deutschen Landen in der Nähe einer Großstadt einen ähnlichen, an Naturschönheiten so überreichen Park?

Wilhelmshöhe im Winter! Wenn dieser wie eine besorgte Mutter seine schützende, warme Decke über die schlafenden Keime und Knospen gebreitet hat, dann vermag selbst eine schmucklose, nur hier und da mit einem Weidenstumpf oder einem beschneiten Wegweiser bestandene Fläche einen starken Reiz auszuüben. Wieviel mehr muß dieser Reiz der Winterlandschaft wirken in dem »Garten Europas«, von dem selbst eine so kritische Natur wie der lachende Philosoph Weber gestand: »Ganz Deutschland, vielleicht ganz Europa, bietet nichts Herrlicheres.« Diese Worte fallen einem auch ein, wenn der Wind längst das letzte Blatt von den Bäumen geschüttelt hat; war es doch auch mitten in einem harten Winter, als König Jérôme, der leichtlebige Beherrscher des verflossenen Königreichs Westfalen, überwältigt von dieser Naturpracht in stummer Bewunderung die Arme über der Brust kreuzte. Gerade der Reichtum an erlesenen dendrologischen Schätzen in diesem Naturpark läßt unser Auge schwelgen. Riesige Hängebirken neigen ihre wehenden Bartgespinste fast bis zum Boden, merkwürdig geformte Pinien recken gespenstig die Arme zum Himmel; kolossale Stämme von Weymoutskiefern wechseln mit Platanen, Tulpenbäumen, Silberpappeln, Zedern und echten Kastanien, und amerikanische Eichen mit grotesken Astbildungen erinnern uns an die Zeit Landgraf Friedrichs II. Die Nähe eines solchen Parkes macht es begreif‌lich, daß der Kasselaner drunten in der Residenz zwischen all den Vergnügungen unter dem Kronleuchter auch seine Wilhelmshöhe nicht vergißt. Während sich das junge Volk am Fuße des Schlosses auf der spiegelglatten Fläche des Lac tummelt oder auf Schlitten zu Tale saust, steigt der echte Tourist trotz fußhohem Schnee auf die Berge, bis hinauf zum farnesischen Riesen, der nun schon fast zweihundert Jahre seine Augen

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[388  Die Neuzeit.]

über das schöne Hessenland schweifen läßt. Es ist aber auch eine Pracht, hier herabzuschauen! Prächtige Tannen, unter der Last des Schnees ihre immergrünen Zweige neigend, säumen die zyklopischen Kaskaden, die zur Sommerszeit ihre brausenden Wassermassen herabwälzen, bis sie tief unten vor den Augen einer feierlich bewegten Menschenschar zerstieben. Ringsum Wald und wieder Wald, aus dem sich zur Rechten wie ein Traum der Romantik die Zinnen der Löwenburg erheben, in der Hessens erster Kurfürst, der einst, das Werk seiner Ahnen fortsetzend, diesen Park in märchenhafter Schöne erstehen ließ, den ewigen Schlaf hält. Weiter sieht man – in blauer Ferne begrenzt vom sagenumwobenen Meißner, dem Sitz Frau Holles, den Thüringer und Weserbergen, dem Brocken, den Höhen der Rhön – eine mit Bergen und Dörfern besäte Schneedecke, die uns im Schein der rötlichen Wintersonne wie ein aus Millionen von Diamanten gewebter weißer Teppich entgegenblitzt. Der ungeschlachte Geselle, dem es hier oben, 596 m über dem Meeresspiegel, eisig kalt um die nackten Glieder pfeift, und der sich eine weiße Kappe aufs Haupt gestülpt und eine hüllende Schneedecke um die Schultern geschlagen hat, schaut grimmig herab auf den Riesen Enzeladus, der in dem Wasserbecken zu seinen Füßen, von einem geschmetterten Felsen getroffen, in ohnmächtiger Wut daliegt. Von der Heftigkeit des Kampfes zeugen die mächtigen Findlingssteine, die noch überall an den Hängen des Parkes umherliegen; die Kinder freilich halten sie für die drückenden Steine, die der Riese aus seinem Schuh geschüttelt hat.

Der Abstieg auf den 842 Stufen – die ganze Kaskadenanlage überragt den Kölner Dom noch um 14 Meter – ist nicht ganz gefahrlos, immerhin aber der kürzeste Weg und ermöglicht es uns, das ganze Massige und Imponierende des Baues auf uns wirken zu lassen. Wir sind am Fuß der Kaskaden. Immer weiter geht es bergab, vorbei an der Teufelsbrücke mit ihrem zu vielzackigen, kristallgrünen Massen gefrorenen Waldbach, zum Aquädukt, an dessen altersgrauem, mit Buschwerk bewachsenen Turm schwere Eiszapfen uns die Höhe andeuten, aus der sich die in Schaum aufgelösten Wasserwogen in die Tiefe stürzen. Noch ist es Tag. Auf verschwiegenen Pfaden geht es quer in den Wald hinein. Skiläufer mit geröteten Wangen kreuzen unseren Weg. Zierliche Meisen in blauem Frack und gelber Weste wiegen sich auf den dünnsten Zweigen oder hüpfen in drolliger Geschäftigkeit von Ast zu Ast. Plötzlich halten wir inne – eine kleine

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[389  Die Neuzeit.]

Pyramide steht vor uns, die Nachahmung des Ovidschen Grabmals. Zwischen ihrem Gestein, fast an der Spitze, hat sich im Laufe der Jahre ein stattlicher Christbaum mühsam zum Licht gearbeitet – ein seltsamer Anblick, der zu Vergleichen anregt. Der Weg wird steiler. In tiefen Zügen trinken wir die reine Winterluft. Endlich ist die Löwenburg mit ihren barocken Gartenanlagen erreicht. Aber nicht um ihretwillen kamen wir her. Wir umschreiten die Burg, die in tiefem Wintertraum zu schlafen scheint. Üppig wuchernder Teufelszwirn, dessen verworrene ausgetrocknete Geschlinge dem herabfallenden Schnee keine rechte Angriffsfläche zu bieten vermochten, umrankt die verwetterten Mauern. Auf dem Holzgatter sitzt schwerfällig und geduckt ein durchfrorenes Amselpaar und blinzelt uns träge an. Am Rand der in jungfräuliches Weiß gehüllten Waldwiese steht unter dem dunklen, zapfentragenden Geäst ein Reh und äugt regungslos nach uns herüber. Scharf grenzt sich der Kamm des Karlsberges mit der Herkulesstatue vom Firmament ab, die tausend bereiften Baumwipfel des Waldhanges gleichen einem silbergewirkten Spitzenschleier.

Wir ziehen den Weg die Burgtreppen hinab der Fahrstraße nach Mulang vor. Der Abstieg erscheint uns mühselig und erfordert Vorsicht. Doch was tut’s, wenn uns wirklich einmal die frostige Mutter Erde in die Arme nimmt!

Ehe wir zum erquickenden Trunk die behagliche Wärme des Gasthauses aufsuchen, ersteigen wir noch einmal die Plattform über der großen Freitreppe des Schlosses. Nicht ganz so weit sieht das Auge wie oben zu den Füßen des keulenschwingenden Löwenbezwingers, aber man begreift es, wenn der nun in persischer Erde ruhende Schah seinen Reiseplan über den Haufen warf, um noch einmal in frohem Naturschauen an dieser Stätte zu weilen. Hier, wenn irgendwo, kann man der Wandelbarkeit des Schicksals inne werden. Noch einmal zieht die achthundertjährige Geschichte, die sich hier abspielte, an uns vorüber. Das Nonnenkloster, das hier, am »weißen Stein«, im zwölften Jahrhundert erstand, wurde zur Zeit Philipps des Großmütigen zum Jagdschlößchen, bis sich ein anderer hessischer Landgraf, Moritz der Gelehrte, hier einen anmutigen Musensitz schuf. Die Stürme des Dreißigjährigen und des Siebenjährigen Krieges wehten über den Weißenstein dahin, nicht, ohne verheerende Spuren zu hinterlassen. Dann erbaute sich Wilhelm IX., der die Kurwürde erhielt zu einer Zeit, in der nichts mehr zu wählen war, das jetzige Schloß, das in so energischer Weise den

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[390  Die Neuzeit.]

Gedanken fürstlicher Machtvollkommenheit zum Ausdruck bringt. Seine einfache Hofhaltung in diesem Schloß wurde abgelöst durch das leichtfüßige Gefolge des lebensfrohen Korsen, der sich auf eben jenem Teich zu unseren Füßen, auf dem sich die Jugend dem nervenstählenden Eislauf hingibt, pikante Badescherze mit den Damen seines Hofes erlaubte. Zeitweise durch einige russische Kugeln verscheucht, konnte auch er sich nicht lange mehr halten, bis nach den Tagen von Leipzig der hessische Zopf wieder siegreichen Einzug hielt. Das Jahr 1866 sah Hessens letzten Kurfürsten umflorten Blickes diese Freitreppe herabschreiten. Zwölf Jahre später suchte ein greiser Kaiser, dem Bubenhand nach dem Leben getrachtet, hier oben Genesung. Welch ein anderes Bild gegenüber dem leichtfertigen Vernichter so manchen Familienglückes, dem als Kriegsgefangenen Deutschlands schönster Fürstensitz angewiesen wurde, nachdem er bei Sedan den Tod gesucht, aber nicht gefunden hatte. Und nun weht seit fast zwei Jahrzehnten Sommer für Sommer die deutsche Kaiserstandarte von der Kuppel des Schlosses.

Man muß auf historischer Stätte festen Fuß fassen, wenn man der Zeiten Lauf erkennen will.

Das Schloß liegt fast am Ausgang des Parkes; noch eine kurze Strecke abwärts, und das Leben des Alltags mit seinen knarrenden Wagen und dahinsausenden Bahnen hat uns wieder. Langsam steigt der Mond hinter den Fichten auf, um hier oben eine Zaubernacht von neuen, unvergleichlich schönen Szenerien heraufzuführen.

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[394–398  Zeittafel.]

[Auf den Seiten 391–393 stehen im Druck die Endnoten; ich habe sie jeweils an passender Stelle in die Randspalte des Textes übernommen.]

Zeittafel.

  • 14.12.1143  Erzbischof Heinrich von Mainz bestätigt das Kloster Weißenstein.
  • 1526  Aufhebung des Klosters.
  • 24.10.1583  Stiftungsbrief Landgraf Wilhelms IV.
  • 1592–1627   Landgraf Moritz der Gelehrte.
  • 25.6.1606   Grundsteinlegung zum neuen Jagdschloß Weißenstein.
  • 1615   Moritzgrotte.
  • 1624   Bedrohung des Schlosses durch Tillysche Soldaten.
  • 1624   Neue Beraubung des Weißenstein.
  • 1632  Landgraf Moritz stirbt.
  • 1670  Die Leiche Wilhelms VII. wird zu Weißenstein öffentlich ausgestellt.
  • 1677–1730  Landgraf Karl.
  • 1696  Beginn der Arbeiten auf dem Winterkasten.
  • 5.12.1699 bis 1.4.1700  Italienische Reise des Landgrafen.
  • Juli 1701  Ankunft Guernieros.
  • 25.10.1701   Erster Vertrag zwischen Guerniero und dem Landgrafen.
  • 1.10.1704   Kaskadenvertrag.
  • 1705  »Delineatio Montis« 1705 (2. A.1706.3. A.1727.4. A.1749).
  • 1.3.1708   Oktogonvertrag.
  • 30.9.1713   Pyramidenvertrag.
  • 1714  Schaumünze auf die Vollendung des Kaskadenbaues.
  • 1713–1717  Schöpfung der Herkulesstatue durch den Goldschmied Anthoni.
  • 1717  Orffyreus errichtet sein Perpetuum mobile im Weißensteiner Schloß.
  • 1723  Reparatur der Pyramide.
  • 25.3.1730  Landgraf Karl stirbt.
  • 1730–1751  Landgraf Friedrich I., König von Schweden.
  • 17.8.1731  Der Landgraf besucht den Winterkasten und läßt eine Schaumünze prägen.
  • 1755–1756  Untermauerung mehrerer Arkaden am Oktogon.
  • 1758–1759  Besetzung von Winterkasten und Rammelsberg.
  • 1760  Kanonade vom Winterkasten aus durch die Franzosen.
  • [395]
  • 1760–1785  Landgraf Friedrich II.
  • 12.2.1761   Die Stockhausenschen Jäger im Weißensteiner Schloß und Oktogon.
  • 22.9.1761   Die Franzosen erstürmen das durch Bergschotten besetzte Oktogon.
  • 1762   Verwüstung der Kaskaden durch die Franzosen nach der Schlacht bei Wilhelmstal.
  • 1766–1769  Umbau des Schlosses Weißenstein.
  • 1767  Errichtung des Gasthauses. Weißensteiner Allee.
  • 1768  Der Bauernstreik im Amte Bauna.
  • 9.10.1768  Erste Predigt des Pfarrers Cuntz zu Weißenstein.
  • 1776  Fortführung der Weißensteiner Allee.
  • Etwa 1780  Fasanerie unterhalb des Schloßberges.
  • 27.10.1782  Aussöhnung des Landgrafen mit seinem jüngsten Sohn zu Weißenstein.
  • 27.9.1783  Die Gemeinde tritt 16 Acker (Burgfeld) an Friedrich II. ab.
  • 1784  Staatsminister von Wittorff errichtet nordwestlich vom Schloß sein Lusthaus Juliusstein.
  • 31.10.1785  Landgraf Friedrich II. stirbt zu Weißenstein.
  • 1785–1806   Landgraf Wilhelm IX. (Kurfürst Wilhelm I.) bis zum Exil.
  • Novbr. 1785   Beginn der Ausgrabung des Lac anstelle der alten Fischteiche.
  • 6.4.1786   Anweisung von 50 000 R. für den neuen Schloßbau.
  • Juli 1786   Beginn am Weißensteinbau.
  • Frühjahr 1788  Beginn am Nordflügel.
  • Ende Mai 1788  Beginn am Aquädukt.
  • 1789  Der Landgraf bezieht den Südflügel (Weißenstein«). Errichtung des öffentlichen Tanzsaals. Ankauf des dem Staatsminister von Wittorff gehörenden Juliusstein ( »Mont-Chéri«).
  • 1790  Vollendung des Lac. Das Bassin wird wieder mit Wasser angefüllt.
  • 1790–1793  Graben zwischen Steinhöferschem Wasserfall und Reservoir über der Plutogrotte durch Steinhofer angelegt.
  • 6.12.1790 bis März 1791  Abbruch des Mittelbaues des alten Schlosses.
  • 1791  Vollendung des Jussowschen Wasserfalles in den Elysäischen Feldern. Der Turm des alten Schlosses wird auf den Marstall gesetzt. Das chinesische Dorf erhält den Namen Mulang. Errichtung der Fasanerie oberhalb Mulangs.
  • 1.11.1791 bis April 1793  Erbauung der Teufelsbrücke.
  • 5.12.1791  Ausgraben des Fundaments zum Mittelbau begonnen.
  • 20.3.1792  Wird der erste Stein zum Mittelbau gelegt.
  • 17.5.1792  (Himmelfahrtstag) wird der Aquädukt zum erstenmal für das Publikum angelassen. [396]
  • 1.9.1792  Vollendung des Reservoirs über der Plutogrotte.
  • 1793  Vollendung des Steinhöferschen Wasserfalls.
  • 21.4.1793  Einweihung der Kirche im Nordflügel des Schlosses.
  • 2.12.1793  wird der Grundstein zur Löwenburg gelegt. (Vollendet etwa 1800.)
  • 1794  Anlegung dreier neuer Treibhäuser.
  • Sommer 1796  Aufrichtung der Schloßkuppel.
  • August 1796  König Friedrich Wilhelm II. von Preußen logiert im »Weißenstein«.
  • 1796–1800  Erbauung des Reservoirs auf dem Asch.
  • 22.11.1796  Die Gemeinde Wahlershausen tritt 61 Acker an den Landgrafen ab.
  • 1797  Reithaus hinter dem Marstall. Chaussée nach Wilhelmstal.
  • 19.8.1798  Schloß und Park erhalten den Namen Wilhelmshöhe.
  • 22.9.1798  Die verwitwete Königin von Preußen in Wilhelmshöhe.
  • 1799  Ausmöblierung des Mittelstockes im Oktogon.
  • 2.6.1799  Ankunft der Königin Luise von Preußen, 8.6.1799 Ankunft König Friedrich Wilhelms III. in Wilhelmshöhe. (Abreise 12.6.1799.)
  • 23.8.1799  S. L. Du Ry stirbt.
  • 1800  Tournierplatz mit Schaubühne neben der Löwenburg.
  • 1801  Burggarten bei der Löwenburg.
  • 14.6.1801  Erster Gottesdienst in der Löwenburgkapelle.
  • Sommer 1801  Die Herkulesstatue wird vom Blitz getroffen.
  • 1802  Das Gewölbe unter der Löwenburgkapelle wird vollendet. Letzte Arbeit im Mittelbau des Schlosses (eisernes Treppengeländer.)
  • 1804  Erdrutsch am Schloßberg. Der Sitz des Amtes Bauna wird nach Wilhelmshöhe verlegt.
  • 1804–1806  Vorwerk Sichelbach. (Nach Landau.)
  • 1.11.1806  Flucht des Kurfürsten.
  • 1807–1813  Jérôme Napoléon.
  • 7.12.1807  Jérôme kommt auf Wilhelmshöhe an, dem er den Namen Napoleonshöhe gibt.
  • 1808  Jakob Grimm wird Bibliothekar der Schloßbibliothek.
  • 21.2.1810  Feier des Geburtstages der Königin auf der Löwenburg. Die »Erscheinung« des Kurfürsten.
  • 15.8.1811  Glänzende Feier des Napoleonsfestes.
  • 27.8.1811  Lätitias Ankunft in Napoleonshöhe.
  • 25.10.1813  Flucht Jérômes.
  • 1813–1821  Kurfürst Wilhelm I. nach dem Exil.
  • 21.11.1813  Einzug des Kurfürsten.
  • 19.5.1814  Neue Weihe der Schloßkapelle.
  • 1817  Einweihung des Friedhofes bei Mulang; 1820 Einfassung durch eine Steinmauer. [397]
  • 16.10.1819  Testament des Kurfürsten.
  • 27.2.1821  Kurfürst Wilhelm I. stirbt.
  • 14.3.1821   Beisetzung des Kurfürsten in der Löwenburg.
  • 1821–1831 (1847)  Kurfürst Wilhelm II.
  • 1822  Der Bau des großen Gewächshauses wird begonnen; der alte Marstall wird abgerissen und ein neuer an seine Stelle gebaut.
  • August 1823  Auf‌finden eines Drohbriefes im Wilhelmshöher Schloß.
  • 1824  Das Kavalierhaus wird zurückgeschraubt. Abbruch des öffentlichen Tanzsaales neben dem Gasthaus.
  • 26.7.1825  H. Chr. Jussow stirbt.
  • 1826  Verlegung der Schweizerei von Mont-Chéri nach Mulang. Die hölzerne Teufelsbrücke wird durch eine solche aus Gußeisen ersetzt.
  • 1826–1828  Neuer Wasserfall.
  • 1827  Vollendung des neuen Wachthauses.
  • 1828  Das Theater in der Kastanienplantage wird zum Ballhaus umgebaut.
  • 1829  Errichtung der Zwischenbauten im Schloß.
  • 19.2.1829  Karl Steinhofer stirbt; 23.2.1829 Beisetzung auf dem Friedhof bei Mulang.
  • 1830  Die Ahnengalerie kommt in den Kuppelsaal des Schlosses.
  • 1831  Rückkehr der Reichenbach nach Wilhelmshöhe. Das Volk dringt gegen das Schloß vor. Kurfürst Wilhelm II. verläßt für immer seine Residenz.
  • 1831 (1847) bis 1866  Kurfürst Friedrich Wilhelm I.
  • 1836  Reparatur des Neuen Wasserfalls.
  • 1839  Verkittung der Pyramide. Abbruch des Cholerahauses zu Mont-Chéri.
  • 24.8.1844  werden die Kaskaden wieder angelassen.
  • 1845  Bedeutende Reparaturen am Oktogon.
  • 1850  Reparatur des Neuen Wasserfalls.
  • Juni 1853  Großherzog Ludwig III. von Hessen auf Wilhelmshöhe.
  • 20.7.1853  König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und Prinz Wilhelm auf Wilhelmshöhe.
  • 1854–1855  Reparatur des großen Turmes der Löwenburg.
  • 1864  Vetter wird Hofgärtner zu Wilhelmshöhe.
  • 23.6.1866  Kurfürst Friedrich Wilhelm I. wird als Kriegsgefangener von Wilhelmshöhe nach Stettin gebracht.
  • Die Neuzeit.
  • 17.8.1867  König Wilhelm von Preußen auf Wilhelmshöhe.
  • 5.9.1870 bis 19.3.1871  Kaiser Napoleon III. auf Wilhelmshöhe. [398]
  • 18.9.1871  Der deutsche Kronprinz kommt für längeren Aufenthalt nach Wilhelmshöhe.
  • 1874 bis Frühjahr 1877  Die Prinzen Wilhelm und Heinrich besuchen Kasseler Schulen und wohnen während des Sommers im Wilhelmshöher Schloß.
  • 1877  Dampfstraßenbahn Kassel–Wilhelmshöhe.
  • Septbr. 1878  Kaiser Wilhelm I. erholt sich nach den gegen ihn gerichteten Attentaten auf Wilhelmshöhe.
  • 1889  Nasreddin, Schah von Persien in Wilhelmshöhe.
  • Juli 1889  Die deutsche Kaiserin nimmt zum erstenmal längeren Aufenthalt im Schloß.
  • Seit 1891  kommt auch der deutsche Kaiser alljährlich nach Wilhelmshöhe.
  • 1891  Vetter wird als Hofgartendirektor nach Potsdam versetzt; 1896 †.
  • 1897  Der größte Teil der Wilhelmshöher Schloßbibliothek wird der Landesbibliothek in Kassel überwiesen.
  • 1900  Graf Waldersee in Wilhelmshöhe.
  • 1903  Herkulesbahn.
  • 1904  Die Rottannen bei den Kaskaden werden gefällt.
  • 1907  Abholzung der Wilhelmshöher Allee. Chulalongkorn I., König von Siam, und Eduard VII., König von England, Gäste des Kaisers auf Wilhelmshöhe.
  • 1908  Untermauerung der letzten noch freistehenden Arkaden am Oktogon.
  • 6.10.1908   Denkstein auf dem Grabe Karl Steinhofers.
(zum Inhaltsverzeichnis)

[399–402  Quellennachweis.]

Quellennachweis.

I. Archivalien.

1. Akten des Kgl. Staatsarchivs zu Marburg: Weißensteinische Bausachen und Uhrkundten betr. de annis 1608f. M. St. S. 3687. – Untersuchung gegen den Vogt zu Weißenstein Nikolaus Gerwig wegen Verwüstung des Fürstlichen Hauses daselbst. 1625. O. St. S. 8021. – Weißensteinisches Inventarium 1696. St. B. 2470. – Belege zur Hofkammerrechnung von 1696, 1697, 1698, 1699 zu dem Bauwesen auf dem Winterkasten. – Ausgaben für das Bauwesen auf dem Winterkasten für das Octogon mit der Pyramide usw.; Contracte mit dem Baumeister Jo. Francesco Guerniero aus Rom 1696–1732. O. St. S. 8021. – Weißenstein. Das Bauwesen daselbst betr. 1698–1785. – Uhrkunden Zue der General Außgabe bey der Hof-Camer Rechnung de anno 1699 gehörig. – Hofkammerrechnung 1699. – Hoff-Cammer Rechnung über Einnahme und Außgabe Geldt Silber und Goldt vom Jahr 1699. – Belege zur Cabinetsrechnung von 1699, 1700, 1707, 1710, 1712, 1713, 1714, 1715, 1716, 1717, 1718. – Monatliche Cabinetsrechnung de Anno 1705, 1708, 1710, 1712, 1716. – Hofkammerrechnung 1705, 1706. – Contracte welche mit dem Baumeister Joh. Frantz Guerniero wegen Erbauung des Winter Kasten bey Weißenstein aufgerichtet worden. Nebst einigen Überschlägen und Fürstl. Befehlen de Ann.: 1701–1704. 80 Blatt fol. – Belege zu den Einnahmen der Hofkammerrechnung von 1705. – Belege zu den Ausgaben der Hofkammerrechnung von 1705 (zum Bauwesen auffm Winter Kasten). 481 Blatt Fol. – Der an den König von Schweden anno 1730 gesandte Bauetat nebst der erfolgten Resolution. – Acta die noch rückständigen Baukosten von den Lustschlössern zu Wabern, Freyenhagen und Weißenstein betr. 1766. – Arthaftmachung und Bepflanzung des wüsten Abhangs bei Weißenstein 1768 bis 1783. – Die vom Amt Baune auf 2 Jahr gegen Bezahlung übernommenen Weißensteiner Baumaterialien Fuhren betr. 1767/68. 105 Blatt. – Weißensteiner (Wilhelmshöher) Akten 1767–1807. 1827. Acta varia. M. St. S. 7283. – Acta die zu denen Weisensteiner neuen Anlagen gezogenen Privat Grundstücke und deren Acquisition betr. 243 Blatt. M. St. S. 5393. – Den bey Balhorn liegenden besonders grosen Stein und deßen destination und anherobringung betr. 1770, 1771. – (Cuntz), Weißenstein, Nachrichten vom Gottesdienst daselbst. Acta die Gräserey auf dem Weißenstein betr. 1774. M. St. S. 5386. – Acta die vom verstorbenen Hofgärtner Heyken hinterlassene und in den Weißensteiner Garten angekaufte Orangerie betr. 1780. M. St. S. 5386. – Die Erbauung eines Parforce Jagdgebäudes zu Weisenstein betr. 5386. – Inventarium vom Fürstl. Schloß Weißenstein 1765. – Nachtrag zum Weißensteiner [400] Inventarium 1765, 1766, 1767, 1768. St. B. 2486. – Inventarium des Fürstl. Schlosses W. errichtet im Junio 1769. St. B. 2488. Weißensteiner Bauakten 1786–1791, 1792–1797. M. St. S. 7285. – Weißenstein, Beschreibung wie solcher vor dem 31. Oct. 1785 ausgesehen und was seit der Zeit bis Septbr. 1793 daselbst verändert worden ist. O. W. S. 132. – Wilhelmshöher Bauakten 1798–1806. – Avertissement die künftige Benennung des Schlosses Weißenstein = Wilhelms-Höhe betr. 1798. – Acta der Kurf. Hess. Oberrentkammer in Cassel. Die zu dem Weißensteiner Schloß Bau und denen Erd-Arbeiten daselbst gnädigst bewilligten Gelder betr. 1786–1805. 775 Blatt. M. St. S. 5392. – Acta Napoleonshöhe betr. 1812. M. St. S. 5217. – Conzepte zu allerhöchsten Befehlen Kurfürst Wilhelms II. – Acta die Löwenburg auf Whöhe betr. 1815–1856. 268 BI. M. St. S. 4745. – Acta die Schloß- und Nebengebäude zu Whöhe betr., desgl. das Octogon auf dem Carlsberg 1814–1824. 432 Blatt. M. St. S. 4752. – Acta über das Schloß zu Whöhe, die übrigen Hofgebäude und das Octogon 1825–28, 1829–33, 1834–39, 1840–42, 1843–49. – Neubauten und Anlagen zur Whöhe betr. 1822f. M. St. S. 4755. – Acta, die Herstellung des Octogon betr. 1845. M. St. S. 5215. – Rapporte wegen Herstellung des Octogon zu Whöhe 1863 bis 1867. M. St. S. 5216.

2. Archiv der Stadt Kassel: Dienst-Instruktion für die Armee-Gendarmerie zu Wilhelmshöhe. – den 19. May 1814 in der Schloß-Kappelle zu Wilhelmshöhe, als dieselbe, nachdem 6 Jahr darin katholischer Gottesdienst gehalten war, aufs neue wieder eingeweiht wurde. – Idee zu einer Rede auf einen neuen Begräbniß-Ort bei Gelegenheit eines zu Wilhelmshöhe angelegten Todenhofes 1817. – Instruktion für die Schweitzer Leibgarde Behufs Sicherstellung der Kurprinzlichen Anlagen, Burgen, Schlößer und anderen Bauten zu Wilhelmshöhe. – Verzeichniß derjenigen Pflanzen, welche im Garten zu Wilhelmshöhe cultiviert werden. Wilhelmshöhe, d. 3ten Nov. 1841 (Hentze). – Aufzeichnungen des Garteninspektors Henze über Wilhelmshöhe. 5. Sept. 1837. (Waren, wie ein Vergleich zeigt, für Lobes »Wanderungen durch Cassel und die Umgegend. 1837« bestimmt.)

3. Landesbibliothek zu Kassel: Lebenslauf Sr. Excellenz des Herrn Geheimen Etats-Ministre Ober-Cammerherrn und Ober-Stallmeisters Julius Jürgen v. Wittorff (1777–1800). M. Hass. Fol. 127. – Verzeichniß der marmornen Statuen in den kurfürstlichen Gemächern auf Wilhelmshöhe. Aufgestellt im Juni 1815. – Verzeichniß der marmornen Statuen und Vasen, auch Gruppen von Bronze, im Schloße zu Wilhelmshöhe, aufgestellt 1817 den 1. Sept. – Verzeichnis der aus kurfstr. Bibliothek zu Wilh. während der usurpatorischen Regierung abhanden gekommenen und am 1. Januar 1819 noch wirklich fehlenden Bücher. – Histor. Nachrichten von dem vormaligen Kloster Weißenstein. Ms. Hass. Fol. 118. 3. – Casparson, Soll man Ruinen nach der gotischen oder griechischen Baukunst anlegen?

4. Aus dem Besitz des Herrn Polizeidirektor Senator Dr. Gerland in Hildesheim: Die Familienpapiere der Familie Du Ry.

5. Aus dem Besitz des Herrn Rentier Herzog in Kassel: Aufzeichnungen des Hofgärtners F. Vetter über die unter seiner Leitung in der Königlichen [401] Hofgärtnerei Wilhelmshöhe vorgenommenen Anpflanzungen und Veränderungen vom Jahre 1864 an.

6. Aus der Bibliothek des hessischen Geschichtsvereins in Kassel: Bußpredigt des Schulmeisters Martin Becker aus Böddiger Amts Felsberg. (Abschrift.) Testament des Kurfürsten Wilhelm I. (Abschrift in den Hess. Nachrichten Heft I.)

II. Gedruckte Literatur.

• v. Rommel, Geschichte von Hessen, 10 Bde. 1820f. – Piderit, Gesch. d. Haupt- und Residenz-Stadt Cassel. 2. A. Cassel 1882. – Zeitschrift des Vereins f. hess. Gesch. Bd. 1–40. – Hessenland, Zeitschrift f. hess. Gesch. u. Lit. 1887f.

• Die Kasseler Zeitungen seit 1731. – Hessische Blätter, Melsungen. – Beilage zur Allg. Zeitg. München 1892. Nr. 168f. (Scheemann, Aus Ruhls Nachlaß). – Zeitschrift f. Kulturgeschichte 1901, Heft 1/2 (Journal des kf. brandenburg. Schloßhauptmanns von Prinzen, 1700). – Neuer Nekrolog der Deutschen 1825 (Jussow). – Deutsche Rundschau 1883 (Duncker, Zur Geschichte der Kass. Kunstschätze). – 1894 (Sambéry, Der König von Persien über Deutschland). – Revue des deux mondes 1872, A. Rambaud, Le Royaume de Westphalie et Jérome Bonaparte. – Hoffmeisters hess. Münzwerk. 1–4. 1857f.

• Monumentum sepulchrale Mauritii 1632. – Winkelmann, Gründl. Beschreibung des Fürstenthums Hessen 1697. – Guerniero, delineatio montis qui olim Winter Casten 1706 (1749). – Klaute, Diarium Italicum 1722. – J. D. Köhlers histor. Münz-Belustigung 22. 1750. – Uffenbach, Merkw. Reisen durch Niedersachsen I. 1753. – Schminke, Beschreibung d. Residenzstadt Cassel 1767. – Lennep, Codex probationum 1768. – Ders., Leyhe zu Landsiedel-Recht 1769. Kopps ausf. Nachrichten von d. Verfassung d. Geistl. u. Civil-Gerichte in d. Fürstl. Hessen-Casselischen Landen I. 1769. – Böttger, Verz. d. einheim. Bäume u. Stauden in den englischen Parks des Lustschlosses Weißenstein 1774. – Raspe, Beitrag zur allerältesten Historie v. Hessen 1774. – Engelhard, Erdbeschreibung d. hess. Lande Casselischen Antheils I. 1778. – Hirschfeld, Theorie d. Gartenkunst, 5 Bde. 1779f. – Ledderhose, Beyträge z. Beschreibung d. Kirchen-Staats d. Hessen-Casselischen Lande 1781. – (v. Günderrode), Briefe eines Reisenden 1781. – Strieder, Grundlage z. e. Hess. Gelehrten- u. Schriftstellergesch. 18 Bde. 1781f. – Haas, Versuch e. Hess. Kirchengesch. 1782. – v. Sömmering, Körperl. Verschiedenheit d. Mohren vom Europäer 1784. – Mönch, Verz. ausl. Bäume u. Stauden zu Weißenstein 1785. – Tagebuch einer Reise v. d. westph. Grenze bis nach Leipzig 1786. – v. Apell, Cassel u. d. umliegende Gegend 1792. 2. A., 1796. – Reise d. d. Harz u. d. Hess. Lande 1797. – Engelschall, J. H. Tischbein als Mensch u. Künstler 1797. – Grdlage z. Militair-Geschichte d. Landgräfl. Hess. Corps 1798. – Martin, Topogr.-statist. Nachr. v. Niederhessen 1799. – Justi, Hess. Denkwürdigkeiten. 4 Bde. 1799f. – Predigt b. d. ersten Zusammenkunft in d. Burgkirche 3. Whöhe am 14. Juni 1801, gehalten von Schnackenberg. – (Cl. Brentano), Godwi 1801/02. – (W. Döring), Beschreibung d. Kurf. Landsiztes Wilhelmshöhe bey Cassel 1804. – (Krieger), Cassel in histor.-topogr. Hinsicht. Nebst e. Gesch. u. Beschreibung v. Wilhelmshöhe 1805. – (Wezel), Fischers Reise von Leipzig nach [402] Heidelberg 1808. – Le royaume de Westphalie 1820. – Gesch. u. Beschreibung d. Wilhelmshöhe 1821. – Programm z. Leichenbegängnis Sr. Kgl. Hoheit d. Kurf. Wilhelm I. 1821. – Cassel u. Whöhe, enthaltend nützl. Nachweisungen (mit Adreßbuch) 1828. – Lobe, Wanderungen d. Cassel u. Umgegend 1837. – (Stein), Reisen n. d. vorzüglichsten Hauptstädten v. Mittel-Europa 1827. – Mitteilungen e. Reise d. d. südl. Staaten d. deutschen Bundes 1839. – Landau, Malerische Ansichten v. Hessen 1839; ders., Beschreibung d. Kurfürstenthums Hessen 1842; ders., Histor.-topogr. Beschreibung d. wüsten Ortschaften 1848. – K. Schomburg, Briefwechsel u. Nachlaß, hrsg. v. Bernhardi 1845. – Landau, Geschichte d. Jagd in beiden Hessen 1849. – Das Kurfürstentum Hessen in maler. Original-Ansichten 1851. – Hess. Jahrbuch 1854. – Raab, Führer d. d. Parkanlagen von Wilhelmshöhe o. J. – J. Grimm, Kl. Schriften I. 1865. – E. Welper (Wepler), Gesch. v. Wilhelmshöhe bei Kassel 1867. – Lotz, Kunsttopographie Deutschlands I. 1862. – Mémoires et correspondance du Roi Jérôme et de la Reine Catherine. Bd. III–V. 1862f. – Stölzel, Casseler Stadtrechnungen 1468–1553, 1871. – Baumann, Erinnerungen 1877. – Fulda u. Hoffmeister, Hess. Zeiten, u. Persönlichkeiten 1876. – Führer durch Cassel u. s. nächste Umgebung (Festschrift) 1878. – Hettner, G. Forsters Briefwechsel mit Sömmering 1877. – Aus d. Tagen e. erloschenen Regentenhauses 1878. – Souvenirs et notes intimes de Napoléon III. à Wilhelmshoehe 1871. – Hess. Erinnerungen 1882. – Hoffmeisters Ges. Nachrichten über Künstler u. Kunsthandwerker in Hessen 1885. – Möhl, Illustr. Führer d. d. Parkanlagen v. Whöhe, o. J. – Cardenio, eine abenteuerliche Stadt 1883. – E. Gerland, Leibnizens u. Huygens Briefw. mit Papin 1881. – Woldemar Kaden, Italien 1881. – Du Casse, Les rois frères de Napoléon I. Documents inédits 1883. – A. Bertolotti, Artisti subalpini in Roma nei secoli XV, XVI e XVII 1884. – v. Schloßberger, Briefw. d. Königin Katharine u. d. Königs Jérôme v. Westfalen I. 1886. – Stengel, Aktenstücke über d. Tätigkeit d. Brüder Grimm im hess. Staatsdienste 1886. – Gurlitt, Gesch. d. Barockstils in Italien 1887. – Ders., Gesch. d. Barockstiles, d. Rococo u. d. Klassicismus 1888. – Weidenmüller, Kaiser Wilhelm u. d. Hessenland 1888. – Un roi qui s’amusait et la cour de Westphalie 1888. – Kleinschmidt, Gesch. d. Königreichs Westfalen 1893. – Fr. Müller, Kassel seit siebzig Jahren. 2 Bde. 2. A. 1893. – O. Bähr, D. frühere Kurhessen. 2. A. 1895. – O. Gerland, Paul, Charles u. Simon Louis Du Ry 1895. – Festschrift z. 38. Hauptversammlung d. Vereins Deutscher Ingenieure 1897. – Ayme, Kaiser Wilhelm II. u. s. Erziehung 1898. – Brunner, General Lagrange als Gouverneur v. Hessen-Kassel u. d. Schicksale d. Kurf. Haus- u. Staatsschatzes 1897. – Preser, Der Soldatenhandel in Hessen 1900. – Dohme, Unter fünf preuß. Königen, hrsg. v. Lindenberg 1901. – Heidelbach, Hess. Heimat I. 1902. – Martinet, Jérôme Napoléon roi de Westphalie. Deuxième Edition. 1902. – Die Residenzstadt Cassel am Anfang d. zwanz. Jahrhdts. – 1903. Leonhard Müller, Lebenserinnerungen eines alten Kurhessen 1903. – v. Boltenstern, Am Hofe König Jérômes 1905. – Hopf, Die deutsche Krisis des Jahres 1866. – Z. A. 1906. – Bennecke, Das Hoftheater in Kassel 1906. – H. Schmidtmann, Erinnerungsbilder 1907. – F. Noack, Deutsches Leben in Rom 1700–1900, 1907.

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[403  Plan von Wilhelmshöhe.]


[Ausklapptafel:] Plan von Wilhelmshöhe.

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[HNA vom 15. Februar 1954]

 

Paul Heidelbach gestorben
Der Tod riß den bekannten Heimatdichter mitten aus unermüdlichem Schaffen

In der Frühe des 13. Februar, starb nach kurzer Krankheit im Marienkrankenhaus unser Mitarbeiter, der Schriftsteller, Bibliothekar i.R. und Archivar Paul Heidelbach kurz vor Vollendung seines 84. Lebensjahres. Mit Paul Heidelbach, dem »Vater des geistigen Kassel«, starb zugleich eine Generation aus, nämlich die jener ganz individuell und persönlich geprägten Männer, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben des guten alten Kassel so lebendig und farbig gestalteten. Mit ihm verlieren das hessische Schrifttum einen seiner bedeutendsten Vertreter und der Verlag und die Redaktion der HNA einen unersetzlichen Mitarbeiter, Freund und väterlichen Berater. Wie oft sind wir in den letzten Jahren nach seinem Alterssitz in Grifte hinausgefahren, um mit Hilfe seines unfehlbaren Gedächtnisses Lücken zu schließen, die der Bombenkrieg in das hessische Schrifttum riß. Und seine jahrzehntealte Freundschaft und die Atmosphäre seines Hauses am Berge über Grifte, mit dem Blick über die hessische Landschaft, mit den 8000 Büchern, unzähligen Broschüren, Zeitungsausschnitten, einmaligen Kasseler Erinnerungsstücken und dem schönen alten Hausrat umfing uns immer wohltuend. Nach der Zerstörung des alten Kassel schlug hier noch »das unzerstörbare Kasseler Herz«.

Paul Heidelbach entstammte einer alten hessischen Familie, die gerade zur Zeit seiner Geburt vorübergehend in Düsseldorf lebte. Nach dem Tode seines Vaters kam er dreijährig nach Kassel und wurde hier von einer Tante erzogen. Er erhielt eine humanistische Schulausbildung, studierte Philologie, Geschichte, Literatur- und Kunstgeschichte in Berlin und Marburg und kehrte unter Verzicht auf alle akademischen Titel als freier Schriftsteller nach Kassel zurück. Seine Freunde wissen, daß er es selbst unter den gesicherten Verhältnissen der damaligen Zeit nicht leicht hatte, sich durchzusetzen. Schon als Student schrieb er die »Kasseler Briefe« für die »Deutsche Warte«.

Von seinen ersten formvollendeten Gedichten nahm die Öffentlichkeit zunächst weniger Notiz als von seinen heimatgeschichtlichen Arbeiten, mit denen er sich sehr bald Ruf und Ansehen im hessischen Schrifttum erwarb. Groß sind seine Verdienste um die Wiedererweckung und Reinigung der Kasseler Mundart. 1900 erschien »Was mäh so hin und Widder bassierd iss!«, 1906 »Uff Karle Klamberts Gebordsdag!« und 1913 »Allerhand Gauden!« (alle bei Vietor). Für den bei Besser, Stuttgart, erschienenen Prachtband »Das deutsche Vaterland« schrieb Paul Heidelbach den Abschnitt »Hessen-Nassau und Waldeck«.

1906 übernahm er als Nachfolger Benneckes die Schriftleitung der Halbmonatszeitschrift »Hessenland«, die er bis 1933 redigierte, und als Nachfolger des bekannten Kasseler Romanschriftstellers Franz Treller die Sonntagsbetrachtungen in der »Hessischen Post«, die er 15 Jahre lang mit großer Resonanz in der Kasseler Bevölkerung schrieb. 1909 erschienen bei Klinkhardt und Biermann in Leipzig die »Geschichte der Wilhelmshöhe« und später noch die »Geschichte Kassels«, 1913 bei Elwerth, Marburg, das Buch »Deutsche Dichter und Künstler in Escheberg«. Späte Anerkennung und Weiterverbreitung fand dann noch ein Gedichtband »Im Schatten des Herkules«.

Ein besonderes Kapitel müßte dem Kämpfer Paul Heidelbach gewidmet werden. Seine Streitschriften um die Niederlegung der alten Unterneustädter Mühle, um die Verschandelung des Opernplatzes, die er nicht verhindern konnte, und um die Erhaltung des Schlosses Wilhelmsthal, die seinem Eingreifen zu verdanken ist, weckten starken Widerhall in der Bevölkerung.

1919 ehrte die Stadt Kassel den verdienstvollen Künder ihrer Schönheiten und den mutigen Streiter, indem sie ihn als Bibliothekar in die Murhardbibliothek berief und ihm die Verwaltung des Kasseler Archivs übertrug. In dieser Stellung verwertete Paul Heidelbach seine reichen Kenntnisse und Erfahrungen bis zu seiner Pensionierung 1935.

Von den Nachkriegsarbeiten muß vor allem eine Grammatik der Kasseler Mundart nach Aufzeichnungen des alten Kasseler Sprachlehrers Grassow erwähnt werden, die in der »Hessischen Druck- und Verlagsanstalt« erschien, eine wertvolle Arbeit, die aber bisher bei der heutigen Generation noch wenig Verständnis gefunden hat. Dazwischen lag noch die Herausgabe eines kleinen Bändchens »Hessische Anekdoten« (bei Bernecker in Melsungen).

Bis vor kurzem war Paul Heidelbach noch mit der Neubearbeitung seiner beiden großen Bände »Geschichte der Wilhelmshöhe« und »Geschichte Kassels«, die im »Bärenreiter-Verlag« neu verlegt werden sollen, beschäftigt. Der Tod riß den Unermüdlichen mitten aus der Arbeit.

Kassel ist zerstört, und Paul Heidelbach ist gestorben. Er hinterließ uns eine Aufgabe. Das unzerstörbare Kasseler Herz wird weiterschlagen.

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Dank und Nachweise

Nachweise

*MA Mulang-Archiv, Privatarchiv des Autors und Betreibers dieser Website, Friedrich Forssman – mit »MA•rl« bzw. »MA•dr« sind Objekte aus den früheren Beständen der Sammlerkollegen Rolf Lang und Dieter Rüsseler bezeichnet